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ANALYSE & KRITIK/341: München migrantisch


ak - analyse & kritik - Ausgabe 544, 20.11.2009

München migrantisch
Der Katalog "Crossing Munich" reflektiert ein eindrucksvolles Forschungs- und Ausstellungsprojekt

Von Claudia Liebelt


Gleis 11 des Münchner Hauptbahnhofs war das erste, was viele MigrantInnen zu Zeiten des Gastarbeiterregimes von der Bundesrepublik sahen. Als Poster warb das Bild vom Ankunftsgleis den Sommer über für das groß angelegte Forschungs- und Ausstellungsprojekt "Crossing Munich". Der Ausstellungskatalog analysiert Orte, Bilder und Debatten der Migration in München und darüber hinaus seit 1955 - dem Jahr, in dem die Bundesrepublik das erste Anwerbeabkommen für "Gastarbeiter" mit Italien unterschrieb.

Als Stadt von Oktoberfest und Brauchtumspflege, in der die Ästhetik der Könige bis heute immanent ist, erscheint München im öffentlichen Diskurs kaum als multikulturell. Dennoch ist die momentan zweitgrößte Einwanderungsstadt Deutschlands zutiefst von Migration geprägt und bereits früh ein Laboratorium des Regierens von Migration gewesen.

Vor diesem Hintergrund trat "Crossing Munich" unter der Konzeption von Andrea Engl vom Münchner Kulturreferat und der wissenschaftlichen Leitung von Sabine Hess vom Institut für Volkskunde/Europäische Ethnologie der Universität München an, diese als "migrantische" Stadt sichtbar zu machen und aus der Perspektive der Migration neu zu erzählen.

In einem zweijährigen Prozess erarbeiteten etwa 25 Studierende und DoktorandInnen in Kooperation mit elf KünstlerInnen eine eindrucksvolle Ausstellung, die im Rahmen eines begleitenden Veranstaltungsprogramms bis Mitte September zwei Monate lang in der Münchner Rathausgalerie zu sehen war. In 37 zumeist kurzen Texten reflektiert der Katalog das Ausstellungsprojekt entlang fünf thematischer Schwerpunkte: Stadtbilder - Stadt(t)räume, urbane Politiken, Migration Ausstellen, Kulturproduktionen und -konstruktionen, sowie transnationale Ökonomien. Ästhetisch anspruchsvoll gestaltet, sind die Texte gerahmt von ganzseitigen Ausstellungsansichten, literarischen Zeugnissen und historischen Dokumenten zu Migration in München.

Der Blick auf die Stadt bietet sich an für eine kritische Migrationsforschung, die dem Containermodell des Nationalstaats entkommen und die transnationalen Bezüge, Netzwerke, und Prozesse von Mobilität sichtbar machen will. München erscheint in diesem Licht "wie ein Experimentierfeld für das Regieren von Migration, da hier bereits in den 1970er Jahren Integrationspolitiken formuliert und angewendet wurden", schreiben Eva Bahl, Marina Ginal, Bernd Kasparek und Philip Zölls in ihrem Beitrag über das Münchner Migrationsregime. So rühmt sich die Stadtverwaltung, das Konzept der sozialräumlichen Mischung (die sogenannte "Münchner Mischung") erfunden zu haben, das in den 1970ern bundesweit Schule machte. Vor dem Hintergrund einer Debatte über vermeintliche "Gastarbeiter-Ghettos" und die "Gefährdung" bestimmter Stadtteile verhängte der Stadtentwicklungsausschuss Anfang der 1970er Jahre eine Zuzugssperre in bestimmte Stadtviertel für MigrantInnen.

Wie der Katalog einmal mehr schildert, scheiterten repressive Regulationstechniken wie diese nicht zuletzt an den Kämpfen der MigrantInnen selber, die sich Rechte kollektiv erstritten und sich den Stadtraum dennoch anzueignen wussten. So erinnert Simon Goeke an einen wilden Streik bei BMW, der von italienischen Facharbeitern getragen wurde und 1972 die Fließbänder immerhin für einige Minuten zum Stehen brachte.

Längst, so macht Dennis Odukoya in seinem Beitrag deutlich, ist das Münchner Westend, Gegenstand damaliger Ghetto-Debatten, nicht zuletzt aufgrund seines vermeintlich authentischen Multikulti-Flairs zum urbansten Stadtteil Münchens aufgewertet worden. Dies ändert nichts daran, dass Rassismus und Integrationsschikanen auch in München in den 1990er Jahren eine neue Konjunktur erlebten. Damals kreisten die Debatten um "soziale Brennpunkte" und Jugendkriminalität und fanden in der bundesweit diskutierten Ausweisung des Münchners Mehmet (1998) einen Höhepunkt.

Aufbauend auf dem Projekt Migration (2002-2006), in dem viele der Beitragenden mitwirkten, gelingt es "Crossing Munich", die spezifische Situation Münchens theoretisch und historisch in einen größeren Bezugsrahmen einzubetten. Folglich argumentiert Manuela Bojadzijev für eine Geschichtsschreibung, die die Subjektivität der Migration als eine soziale Praxis begreift, dazu prädestiniert, gegebene Machtverhältnisse herauszufordern. Die selbstreflexive Frage nach dem Ausstellen von Migration wird in einen größeren kulturpolitischen Zusammenhang gestellt, indem auch AktivistInnen und KulturpolitikerInnen (Martin Rapp, Ralf Homann, Shermin Langhoff u.a.) zu Wort kommen.

Dabei wird deutlich, dass es sich hierbei um höchst relevante gesellschaftspolitische Interventionen handelt. So fragt Vassilis Tsianos in einer Entgegnung auf das vom Kölner Verein DOMiD (Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland) auch im Katalog vertretene Konzept der "geteilten Erinnerung", wie man "die kalte Ankunft am Münchener 'Zentral-Bahnhof', die verachtenden Blicke der 'First-contact-Deutschen' im Transit-Gelände gemeinsam erinnern (kann), ohne die Wut zu normalisieren".

Höchst aktuell ist die von Lisa Riedner und Philipp Zehmisch analysierte Geschichte eines türkischen Werkvertragsarbeiters, der sich im vergangenen Jahr trotz erheblicher Einschüchterungsversuche erfolgreich gegen Lohnbetrug auf zwei Baustellen der größten Münchner Wohnbaugesellschaft wehrte. Werkvertragsarbeiter, so wird hier deutlich, sind die Gastarbeiter des zeitgenössischen Arbeitsmarktes, rekrutiert durch Subunternehmer, rechtlich fast noch prekarisierter als die Gastarbeiter. In der Ausstellung wurde die Geschichte in Zusammenarbeit mit Matthias Weinzierl als Comic dargestellt. Hier, wie in den meisten anderen Installationen, gelang es auf eindrückliche Art und Weise, die Debatten, Bilder und Geschichten der Migration in München jenseits der üblichen Essentialisierungen streitbar zu visualisieren, zu dekonstruieren bzw. spannend zu erzählen.


Bayer, Natalie, Engl, Andrea, Hess, Sabine und Johannes Moser (Hg.):
Crossing Munich. Beiträge zur Migration aus Kunst, Wissenschaft und Aktivismus,
Silke Schreiber Verlag, München 2009. 2008 Seiten, 26 EUR


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Quelle:
ak - analyse & kritik, Ausgabe 544, 20.11.2009
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Dezember 2009