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ANALYSE & KRITIK/305: Vor 25 Jahren starb Michel Foucault - ein Rückblick


ak - analyse & kritik - Ausgabe 540, 19.06.2009

Macht-Analyse und Selbst-Design
Vor 25 Jahren starb Michel Foucault - ein Rückblick

Von Henning Böke


Von Michel Foucault, der am 25. Juni 1984 an Aids starb, trennt uns inzwischen ein Vierteljahrhundert. Für die Generation des Pariser Mai 1968 gehörte Foucault zu den wichtigen Impulsgebern. Seine Analysen der Machtsysteme moderner Gesellschaften haben den Blick für die Funktionsweise alltäglicher Unterwerfungen und Diskriminierungen geschärft und neue soziale Bewegungen beeinflusst. Die breitere Rezeption und Wirkung von Foucaults Denken fällt jedoch in eine Zeit der Krise und des Niedergangs der Linken. Foucault wurde zum Modephilosophen der akademischen "Postmoderne", die aus seinen "mikropolitischen" Themenstellungen eine komfortable Lifestyle-Ideologie bezog. Foucaults Entwicklung markiert Glanz und Elend des (nicht nur) französischen Linksradikalismus.

In Foucaults Schriften tauchen Name und Werk von Karl Marx kaum auf. Für einen französischen Linksintellektuellen war das in den 50er und 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts ein Akt von Nonkonformismus: Der Marxismus war in Frankreich allgemein präsent. Foucault bezog sich selten ausdrücklich, oft aber implizit auf ihn. Mitglied der Kommunistischen Partei war er als Student nur kurze Zeit gewesen. Zweifellos war die Erfahrung, als Homosexueller dort der gleichen Ausgrenzung zu unterliegen wie in der bürgerlichen Kultur, konstitutiv für die Distanz zur traditionellen Linken. Dass die aus der Oktoberrevolution hervorgegangenen Gesellschaften die gleichen hierarchischen Strukturen entwickelten wie die bürgerliche und das Leben noch stärker reglementierten, ließ Foucault folgern, dass die dort vollzogenen Umwälzungen und die ihnen zugrunde liegende Theorie nicht radikal genug waren. Die Analyse der Produktionsverhältnisse durch Marx diente ihm als Modell für eine Analyse der Wirkungsweise von Macht.


Vom Linksradikalen zum skeptischen Linksliberalen

Im Pariser Mai 1968 schien sich der Horizont zu öffnen. Ein Sturm des Widerstands gegen das bürgerliche System erfasste, anders als in Deutschland, nicht nur Intellektuelle, sondern auch erhebliche Teile der ArbeiterInnenschaft. Das eher abwiegelnde Verhalten der Kommunistischen Partei und ihres Gewerkschaftsverbands schien zu bestätigen, dass diejenigen, die man in maoistischer Terminologie "Revisionisten" nannte, abgewirtschaftet hatten. Man fühlte sich der chinesischen Kulturrevolution verbunden. Foucault indes sah in Westeuropa eine neue Qualität sozialer Kämpfe, die sich nicht mehr bloß gegen Ausbeutung richteten, sondern auf désassujettissement, "Entunterwerfung" zielten: Damit meinte Foucault eine Auflehnung gegen die "Unterwerfungen", die uns zu im Sinne einer gegebenen Ordnung funktionierenden "Subjekten" machen. Politisch schlug er damals höchst radikale Töne an: Forderungen nach Einrichtung von "Volksgerichten" zur Aburteilung von "Volksfeinden" fanden seine Zustimmung.

Ab Mitte der 1970er Jahre veränderte sich das intellektuelle Klima in Frankreich erheblich. Das Scheitern der linksradikalen Hoffnungen und die wachsende Aufmerksamkeit für die Unterdrückung von Dissidenz im "realen Sozialismus" führten bei einigen ehemaligen Wortführern der Revolte von 1968 zu einer zunehmend polemischen Distanzierung vom Marxismus. Altlinke, die wie Foucaults Lehrer und Freund Louis Althusser die "Krise des Marxismus" marxistisch aufzuarbeiten begannen und hierfür politische Plattformen auf dem linken Flügel des "Eurokommunismus" zu bilden versuchten, fanden wenig Beachtung. Die "neue Philosophie" von André Glucksmann und Bernard-Henry Lévy konstruierte im Zeichen des "Antitotalitarismus" einen Kausalzusammenhang, der von Marx zum Gulag geführt haben soll.

Die akademische "Postmoderne" wurde geboren. Wenn sie an Kapitalismuskritik festhielt, dann im Namen von "Differenz" und Vielfalt, die durch den Kapitalismus beziehungsweise die Moderne überhaupt unterdrückt würden. Foucault zollte Glucksmann einigen Beifall, überraschte jedoch andererseits mit seiner Begeisterung für die islamische Revolution im Iran, die er als Korrespondent mit großer Empathie als Rückkehr eines Volkes zu seinen kulturellen Wurzeln darstellte. Er hat das später als Irrtum bedauert. 1980 galten seine Sympathien der polnischen Solidarnosc-Bewegung. Aus dem Linksradikalen wurde ein vornehm-skeptischer Linksliberaler.

Mit diesem Werdegang steht Foucault nicht allein. Man könnte ihn achselzuckend als typisch für einen kleinbürgerlichen Radikalismus abtun, der nach dem Abklingen der ultralinken Euphorie bemerkt, dass "Differenz" und "Dissidenz", "Nomadentum" und "mobile Dispositive" in einem sich postfordistisch reorganisierenden Kapitalismus gar nicht schlecht aufgehoben sind (und dass Schwule nicht unbedingt die Marktwirtschaft abschaffen müssen). Dennoch bleibt die Frage nach dem Stellenwert seiner theoretischen Leistungen, die einst heftige Irritationen auslösten.

Seit der Aufklärung waren soziale Emanzipationsbewegungen in der Erwartung angetreten, Wissen und Vernunft wiesen den Weg zur Befreiung "des Menschen" von einer auf Unwissenheit gestützten Unterdrückung. Foucault hat diese Annahme in Frage gestellt, indem er, inspiriert von Nietzsches "genealogischer" Methode, zu zeigen versuchte, dass das moderne Wissen, die Idee der Vernunft selbst das Resultat von Praktiken der Ausschließung sind, über die diskursive Ordnungen hergestellt werden. "Diskurse" als Aussagesysteme, die bestimmen, was gesagt werden kann und was nicht, was "wahr" oder "falsch", "vernünftig" oder "verrückt", "normal" oder "abweichend" ist, sind das Resultat zufälliger Konstellationen, die historisch kommen und gehen, ohne dass ein "Fortschritt" stattfindet. Wissen wirkt nicht gegen die Macht, sondern Macht wirkt durch Wissen. "Wahrheit" ist nicht das Gegenteil machtgestützer Diskurse, sondern bloß ihr interner Effekt.

Das bedeutet auch: Herrschaft vollzieht sich nicht als "Repression" gegen ein von Natur aus freies "Subjekt", sondern durch Subjektivität selbst. Das "Subjekt" selbst ist - in den romanischen Sprachen ist der Zusammenhang augenfällig - das Resultat eines assujettissement, einer "Unterwerfung": Was wir als "Subjekte" sind, sind wir nur durch die Internalisierung diskursiver Ordnungen, die uns bestimmte Normen vermitteln. An der Entwicklung der modernen, "aufgeklärten" Machtsysteme hat Foucault die Ablösung äußerer Disziplinierung durch die Verlegung von Kontrollmechanismen ins Innere der Subjektivität selbst beschrieben. Seine besondere Aufmerksamkeit galt dabei Themengebieten wie der Psychiatrie, dem Strafsystem und der Sexualität.


Das komplexe Gewebe von Machtbeziehungen

Gegen die marxistische Gepflogenheit, alle Herrschaftsverhältnisse und Konfliktfelder in der bürgerlichen Gesellschaft aus der Klassenherrschaft oder Imperativen des Kapitalverhältnisses "abzuleiten", hat Foucault immer die Eigensinnigkeit des komplexen Gewebes von Machtbeziehungen betont: Sie sind nicht Effekt "der Ökonomie", sondern deren Konstitutionsbedingung. Indem Foucault auf eine systematische Theorie des gesellschaftlichen Ganzen verzichtete, entglitt ihm indes die Möglichkeit, in Vergesellschaftungszusammenhängen und ihren Transformationspotenzialen rationale Perspektiven abzustecken. Rationalität, Macht und Herrschaft, partikulare und universelle Interessen werden ununterscheidbar. Wenn alles Macht ist, ist Gesellschaft immer gleich irrational.

Darin folgt Foucault tatsächlich Nietzsches Gedanken einer ewigen Wiederkehr der Macht und wie bei Nietzsche ist Widerstand gegen gegebene Machtverhältnisse letztlich nur durch punktuelle und individuelle Gegenmacht möglich, vor allem im Sinne einer Selbstmächtigkeit. Der späte Foucault beschäftigt sich mit der Frage, wie den "Technologien der Macht" durch autonome ethische und ästhetische Selbstentwürfe begegnet werden kann - die jedoch nie eine universelle Perspektive beinhalten können. Diese quasi-existenzialistische Wendung erstaunt, insofern der Subjektivität hier ein Potenzial an Autonomie zugetraut wird, das die radikale Subjektivitätskritik des frühen Foucault bestritten hatte. Am Ende geht es um "Entunterwerfung" als "Kritik" im Sinne einer "Kunst der freiwilligen Unknechtschaft", um die "Kunst, nicht dermaßen regiert zu werden", "nicht so und nicht dafür und nicht von denen da".

Die klassische marxistische Linke hatte der Rationalität der industriellen Produktivkraftentwicklung ein universelles Potenzial sozialer Emanzipation zugeschrieben. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat dieser Optimismus Brechungen erfahren, und zwar erstaunlicherweise von der Technikkritik in intellektuellen Strömungen des westlichen Marxismus wie der "Frankfurter Schule" bis hin zum - erfolglosen - Kampf der maoistischen Linken im revolutionären Entwicklungsland China gegen einen die ProduzentInnen knechtenden statt befreienden technokratischen "Primat der Produktivkräfte". Foucault hat Anteil an dieser modernekritischen Denkbewegung als deren vielleicht radikalster Vertreter, dem eine eigentümliche Synthese von blumigem Romantizismus und kühler Nüchternheit gelang. Sein Denken hatte Einfluss auf neue soziale Bewegungen und Emanzipationskämpfe von Minderheiten und "Randgruppen", von Homosexuellen bis zu PsychiatriepatientInnen, die anfingen, sich selbst anders zu beschreiben als über die stigmatisierenden und pathologisierenden Menschenverwalterdiskurse der "humanistischen" Moderne.

Trotz unbestreitbarer Verdienste muten die hier anknüpfenden Konzepte einer postmodernen "Identitätspolitik" inzwischen in gewisser Weise anachronistisch an. Entkoppelt von jedem Bezug auf die Analyse gesamtgesellschaftlicher Produktionszusammenhänge gerieten sie zur willkürlich an beliebigen partikularen Befindlichkeiten ansetzenden Stilübung von Subkulturen, die sich in die Diversifizierung der Lebensformen im postfordistischen und neoliberalen Kapitalismus nahtlos einfügen. In Zeiten, wo der Terror der Ökonomie wieder ungehemmt zuschlägt, stellt sich heraus, dass die gute alte Klassenfrage doch etwas anderes ist als ein fröhliches Spiel um "Differenzen" und "Diversitäten", in das postmoderne Subversionskasper sie auflösen wollten.

Foucault hat die Folgen dieser Entwicklung nicht mehr erlebt. Dass die Ersetzung von Kapitalismuskritik durch eine vermeintlich radikalere und fundamentalere Machtkritik nicht zu effizienterer Gesellschaftskritik geführt hat, sondern zum Verzicht auf jegliche Gesellschaftskritik, war der Preis der Unschärfe seiner Begrifflichkeit. Zwar hat Foucault nie "Macht" und "Diskurs" einfach gleichgesetzt. Er hat nie geleugnet, dass Macht außerhalb der Sprachspiele existiert, in denen sie sich artikuliert. Aber sein Relativismus, der alle Beschreibungen von Realität als auf letztlich gleich willkürlichen Voraussetzungen beruhend ansieht, hat zur Diskreditierung aller Analyseinstrumente beigetragen, die vordiskursive objektive Realität und diskursive Repräsentationen - das, was im Vokabular von Marx "Ideologie" heißt - unterscheiden.


Postmodernes Spiel um Differenzen und Diversitäten

Zu Foucaults der Erinnerung werten Leistungen gehört seine Kritik an der um 1968 verbreiteten Losung der "sexuellen Befreiung". Foucault sah klar, dass diese gerade keinen Bruch mit dem neuzeitlich-bürgerlichen "Sexualitäts-Dispositiv" darstellte, sondern vielmehr dessen Weiterentwicklung - weil das, was da "befreit" werden sollte, selbst nichts anderes als das Produkt neuzeitlicher biologischer und psychologischer Diskurse war, die nunmehr normgebend in die alltägliche Öffentlichkeit verlegt wurden. Allgemeiner gefasst heißt das: Zwischen dem, was soziale Akteure subjektiv zu tun glauben, und dem, was sie tatsächlich tun, gibt es einen Unterschied. Nicht jede proklamierte Befreiung ist tatsächlich eine, weil Proklamationen mitunter der Logik dessen verhaftet bleiben, wogegen sie sich richten.

Deshalb plädierte Foucault für "Positivitäten" statt "Anti-Repressionslieder". Aber für die von Foucaults Denkschule angestimmten Elogen auf "Diversität" und "Differenz" gilt selbst: Sie haben nicht die radikale "Subversion" bewirkt, die ursprünglich angestrebt war. Sondern sie waren, aus der Distanz betrachtet, zu einem guten Teil ideologische Begleitmusik der postfordistischen und neoliberalen Modernisierung kapitalistischer Produktions- und Lebensverhältnisse, in denen lauter coole "Singularitäten" der alten fordistischen Wohlgeordnetheit den Rang abgelaufen haben. Foucaults von großem Ernst getragene Anstrengungen waren deshalb nicht umsonst. Am Neoliberalismus ist Foucault ebenso wenig schuld wie Marx am Gulag. Aber seine Radikalität hat die Gleise des liberalen Individualismus nie verlassen. Die Degeneration zur Designer-Ideologie war die Strafe dafür. Diese kann als abgegolten angesehen werden, nachdem sich gezeigt hat, dass postmodernes Selbst-Design die Welt nicht verändert.


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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Juni 2009