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ANALYSE & KRITIK/272: Kapitalismus, Rassismus und Sexismus nicht unabhängig voneinander


ak - analyse & kritik - Ausgabe 534, 19.12.2008

Zusammen!
Kapitalismus, Rassismus und Sexismus sind nicht unabhängig voneinander zu denken

Von Friederike Habermann


Was kann es heißen, Sexismus, Rassismus und Kapitalismus als über Identitäten verwoben zu verstehen und die bestehende Trennung zwischen historisch-materialistischen, postkolonialen und feministischen Ansätzen zu überwinden? Dies untersucht Friederike Habermann in ihrer Arbeit "Der homo oeconomicus und das Andere. Hegemonie, Identität und Emanzipation", erschienen im Nomos-Verlag. Im Folgenden skizziert sie ihren Ansatz.


Die Zeiten sind vorbei, in denen Sexismus und Rassismus in historisch-materialistischen Theorien aus Deutschland keine Erwähnung fanden. Auch bei weißen, männlichen Theoretikern (wie z.B. Joachim Hirsch oder Ulrich Brand) finden sich heute in der Regel ein bis mehrere Absätze gar nicht so selten ein ganzes Kapitel zu gender; manchmal, allerdings noch sehr viel seltener, auch ein entsprechendes zu race. Trotz aller Abgrenzungen zum Hauptwiderspruch erstaunt dann jedoch, dass alles, was in diesen Abschnitten erwähnt und darin in seiner Wichtigkeit noch einmal herausgestellt wird, in der Analyse der die Gesellschaft vorantreibenden Kräfte plötzlich fehlt.

Bei weißen linken Theoretikerinnen, u.a. Gudrun-Axeli Knapp, Cornelia Klinger oder Ina Kerner, findet sich dagegen in jüngster Zeit der Ansatz, diese drei Herrschaftsverhältnisse zusammen zu denken. Gemäß dem Begriff der Intersektionalität gehen diese Analysen von einer Überkreuzung getrennt entstandener Unterdrückungsformen aus. Es wird nach Gemeinsamkeiten, Unterschieden, Überlappungen und partiellen Verquickungen gesucht. Gerade postkoloniale FeministInnen, wie beispielsweise Eiman Zein-Elabdin und S. Charusheela, argumentieren allerdings, dass es nicht erst im Subjekt zu Überschneidungen kommt, sondern bereits auf der Ebene der diskursiven Konstruktion desselben. Das bedeutet zum einen, sex und race nicht als Ausgangspunkt von Analyse zu verstehen, sondern als Ergebnis eines historischen Prozesses der Moderne, den es zu untersuchen gilt. Anne McClintock formuliert: "They come into existence in and through relation to each other - if in contradictory and conflictual ways. In this sense, gender, race and class can be called articulated categories". (1)


Nicht nur die Ökonomie bestimmt das Sein

Sexismus, Rassismus und Kapitalismus zusammen zu denken bedeutet zum anderen, alle drei Elemente - oder besser gesagt: jede Form von Herrschaft - mit in die Analyse einzubeziehen. Die Hegemonietheorie von Antonio Gramsci erscheint hierfür geeignet, ging es Gramsci doch darum, jenseits einer ökonomistischen Verkürzung alle sozialen Kräfteverhältnisse einzubeziehen. Gleichzeitig ging aber auch er davon aus, dass Hegemonie in der Fabrik entspringe - und nur dort. Der Begründer der britischen (und marxistischen) Cultural Studies, Stuart Hall, benutzt die Theorie Gramscis dagegen dafür, Rassismus mit in die Analyse einzubeziehen: Es gibt nicht nur Kämpfe um kapitalistische Vorteile, sondern ebenso um rassistische Privilegien. Beide greifen ineinander und prägen einander, sind aber nicht aufeinander reduzierbar. Hall versteht dabei kulturelle Praktiken als Orte der alltäglichen, mikropolitischen Umsetzung hegemonialer Kämpfe. In seiner Theorie wird das permanente shifting von Hegemonie in seiner ganzen Zählebigkeit offensichtlich: alltäglich wiederholt, doch als historisch verfestigte Formen, und dabei wiederum sich stets verschiebend.

Ernesto Laclau und Chantal Mouffe versuchen mit ihrem poststrukturalistischen Ansatz die verborgenen Essentialismen in Gramscis Theorie aufzuzeigen. Während Etatismus (eine Staatsübernahme entspreche der Machtübernahme) und Ökonomismus (die Ökonomie sei frei von externen Einflüssen) von Gramsci zunächst überwunden würden, finde sich bei ihm immer noch der Klassismus, worunter Laclau/Mouffe verstehen, dass im Marxismus von nur zwei Konfliktgruppen mit stabilen Identitäten ausgegangen wird: Kapital(isten) und Arbeit(er). Dieser Klassismus führe jedoch, so die Kritik des AutorInnenduos an Gramsci, nicht nur unversehens den Etatismus wieder ein (da nur Kapitalisten oder die Arbeiterklasse an der Macht sein können), sondern auch den Ökonomismus: Feste Identitäten können nur entstehen, wenn die Ökonomie von externen Einflüssen frei bleibt.

Da aber die Ökonomie nicht die ihr zugesprochene Autonomie inne habe, sondern selbst verschiedenen Einflüssen ausgesetzt sei, könne sie folglich auch schwerlich Subjekte unter einer einzigen Logik (die sie selbst nicht besitzt) konstituieren bzw. vereinheitlichen. Dementsprechend ließen sich auch keine Interessen lediglich aus den Positionen im ökonomischen Prozess ableiten, sondern der Widerstand von ArbeiterInnen gegen bestimmte Herrschaftsformen hinge davon ab, welche Positionen sie innerhalb des Ensembles der sozialen Verhältnisse besetzten.

Laclau und Mouffe übernehmen Gramscis Ansatz, Politik als Artikulation zu begreifen, das heißt in der Verbindung verschiedener Kräfteverhältnisse im Ringen um Hegemonie. Poststrukturalistisch weiter gedacht ist Artikulation also eine Praxis, welche die Identitäten im Resultat modifiziert. Dies bedeutet, dass es im Prozess der Artikulation zu Verschiebungen bzw. zur Produktion von Interessen und Identitäten kommt. Da jede Identität in kontingenter Beziehung (2) steht zu seinen Existenzbedingungen, muss jede Veränderung des einen eine Veränderung des anderen mit sich bringen. Macht wird damit nicht als eine äußerliche Beziehung gedacht, die sich zwischen zwei prä-konstituierten Identitäten abspielt, sondern Macht konstituiert die Identitäten.


Homo oeconomicus: Jung, weiß und männlich

Auch Judith Butler bezieht sich auf den Begriff der Hegemonie von Gramsci. So wie Laclau & Mouffe versuchen, den Marxismus von letzten Essentialismen zu befreien, so geht es ihr darum, im Feminismus die Vorstellung eines natürlichen, dem Diskurs vorgängigen geschlechtlichen Körpers und damit einer essentiellen Grundlage für Sexismus zu überschreiten. Genauso wenig aber konstruiere "der Diskurs" das Geschlecht. Die im Feminismus weithin vorgestellte Trennung von sex und gender sei Resultat der modernen Spaltung zwischen Natur und Kultur. Geschlecht sei dagegen ein Prozess, bei dem regulierende Normen sich durch ihre erzwungene ständige Wiederholung als Geschlecht materialisierten. Diese Materialisierung ergebe ein "hartnäckiges Verhaftetsein körperlicher Subjektivierung".

Das Ringen um Hegemonie (und um Emanzipation) findet also in allen Sphären der Gesellschaft statt und Privilegien lassen sich durchaus nicht nur aus der Mehrwertproduktion ableiten: Hierzu gehören neben vielem anderen der Zugriff auf den (weiblichen) Körper, eine angenehme Arbeitsteilung oder schlicht das gute Gefühl, zu den tops zu gehören. Das Streben nach Hegemonie impliziert stets die Abgrenzung einer Identität zu einer oder mehreren anderen - hegemonisierten - Identität(en). In diesem Prozess werden nicht nur die Identitäten und deren Interessen, sondern auch der gesellschaftliche Kontext (re-)produziert. Sex, race und class sowie jede Form von Identität sind somit artikulierte Kategorien, das heißt, sie bestehen immer in Relation zueinander, und jede Identifikation ist instabil. Gleichzeitig aber besteht ein hartnäckiges Verhaftetsein mit der verkörperten Subjektivierung und entsprechend verbindet sich jeder Standpunkt kontingent mit Perspektiven, aber nicht zufällig.

Ein Blick in die Geschichte macht dies deutlich und wird gleichzeitig der Forderung gerecht, unser heutiges Verständnis von sex und race als Ergebnis eines historischen Prozesses der Moderne zu untersuchen. So lässt sich zeigen, wie sich der bürgerliche Ruf nach "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" kontingent mit Ausschlüssen artikulierte, die sexistischen und rassistischen hegemonialen Interessen entsprachen.

Bis zur Aufklärung dominierte die Great Chain of Bein, das Denken, wonach alle Lebewesen auf derselben Skala als tiefer- oder höherstehend eingeordnet werden könnten, vom primitivsten Leben bis hin zu Gott. Ganz parallel war die Vorstellung von der Antike bis ins 17. Jahrhundert verbreitet, der Mann stelle das Ideal dar und die Frau eine unterentwickelte Abweichung: Der Historiker Thomas Laqueur bezeichnete dies in seinem Werk "Making Sex" (1990) als Ein-Geschlecht-Modell. Erst im Zuge der Aufklärung und mit der Amerikanischen sowie der Französischen Revolution verdichtete sich der Diskurs, wonach weder Frauen noch Nicht-Weiße einen Körper besäßen, der sie dazu befähigen würde, freie und gleiche Staatsbürger(innen) zu sein. Gab es zunächst auch europäisch-stämmige Leibeigene in den USA und durften Schwarze SklavInnen besitzen, so spitzte sich das Denken in Hautfarben schnell auf die Binarität "schwarz = SklavIn" und "weiß = frei" zu. Hatten sich in Europa bereits seit dem Beginn der Neuzeit die Möglichkeiten der Männer erweitert und die der Frauen verringert, so stand es im frühen 19. Jahrhundert um die Möglichkeiten der europäischen Frauen schlechter als jemals zuvor.

Dieser Übergang ist auch in den frühen ökonomischen Schriften zu beobachten. Adam Smith, der als Begründer der bürgerlichen Wirtschaftstheorie gilt und dem zugesprochen wird, die Grundlage für den homo oeconomicus gelegt zu haben, ist der erste Ökonom, bei dem von einer grundlegenden Verschiedenheit der Geschlechter ausgegangen wird. Nur selten gelten seine Ausführungen über die Tugenden ebenso wie seine ökonomischen Überlegungen ausschließlich für Männer - und zwar bürgerliche und weiße.

Ernesto Laclau betont, dass zur Zeit der Veröffentlichung des "Wohlstands der Nationen" Adam Smiths "unsichtbare Hand" für seine Zeitgenossen alles andere als einleuchtend war. Das gleiche gilt für dessen Theorie der ethischen Gefühle: Das Bild des Menschen, das er hier beschreibt, mit all seinen Abgrenzungen gegenüber Nicht-Männern, Nicht-Weißen und Nicht-Bürgern, war noch im Prozess, hegemonial zu werden - und die Subjekte haben sich auch in Interaktion mit diesen Beschreibungen geformt.


Einige Identitäten sind begünstigt, alle unterworfen

Jeremy Bentham, der als zweiter Vater des homo oeconomicus gilt, ist zugleich der Erfinder des Panoptikums - der Gefängnisform, in welcher die Insassen nie wissen, wann sie beobachtet werden, weshalb sie die Disziplin als "Selbsttechnologie" verinnerlichen müssen. Michel Foucault wählte dies zum Sinnbild der modernen Gesellschaft. Bentham hatte in seinen Gesetzesentwürfen die Antwort auf das Problem der Vermittlung zwischen dem homo legalis (dem verständigen Rechtssubjekt) und dem homo oeconomicus gesucht: Wie nach den Regeln des Rechts ein Raum der Souveränität regiert werden könne, der von ökonomischen Subjekten bevölkert wird, welche gemäß der Theorie von Adam Smith in ihren rationalen Entscheidungen nicht beeinflusst werden dürfen, da nur so die "unsichtbare Hand" walten kann. Die bürgerliche Gesellschaft war die Antwort auf diese Frage, so Foucault. Der Panoptismus hat sich im Laufe der Zeit zunehmend "demokratisiert": Ob wir über unserem Body Mass Index liegen oder im Teamwork die Effizienz nach unten ziehen - auf ein Feedback brauchen wir nicht lange warten. Damit erscheint als Grund für den Reichtum der einen und die Armut der anderen der individuell andere Gebrauch von Freiheit. Freiheit ist nun nicht mehr nur ein Recht der Individuen, sondern ist zu einem unverzichtbaren Bestandteil der Gouvernementalität selbst geworden.

Frauen bzw. people of colour waren in langen emanzipatorischen Kämpfen um Einschluss schließlich weitgehend erfolgreich. Auch ihnen wird heute Rationalität zugesprochen. Das Bild des homo oeconomicus, dem Subjekt in der Wirtschaftstheorie - jung, dynamisch, gesund, unabhängig, erfolgreich etc., inzwischen mit einigen soft skills angereichert - gilt auch für Frauen und people of colour als hegemoniales Ideal. Damit besteht eine Durchlässigkeit für jene, welche trotz abweichender Identität in Geschlecht oder Hautfarbe weitestgehend den Kriterien für den homo oeconomicus entsprechen können.

Ein Konglomerat verschiedener Herrschaftsverhältnisse schreibt bestimmte Verhaltensmuster vor, die einige Identitäten begünstigt, letztlich jedoch alle "unterwirft". Daher macht es auch keinen Sinn, danach zu fragen, ob "der" Kapitalismus Rassismus oder Sexismus braucht, da Herrschaftsverhältnisse in der Form, in der sie bestehen, eben nur in dieser Form als Artikulation zueinander existieren. Dieser Kapitalismus braucht diesen Rassismus und diesen Sexismus, da Herrschaftsverhältnisse nicht unabhängig voneinander zu denken sind - ohne auf die gegenseitige Funktionalität reduzierbar zu sein.


Anmerkungen:

1) "Sie entstehen in und durch die Beziehung zueinander - wenn auch in widersprüchlichen und konfliktiven Weisen. In diesem Sinn können gender, race und class als artikulierte Kategorien bezeichnet werden."

2) Kontingenz heißt dabei nicht Zufälligkeit, sondern "verfehlte Strukturierung", oder auch "Zufall gepanzert mit Zwang" (Joscha Wullweber).



Frederike Habermann:
Der homo oeconomicus und das Andere.
Hegemonie, Identität und Emanzipation.
Nomos Verlag 2008, 320 S., 44 EUR


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Quelle:
ak - analyse & kritik, Ausgabe 534, 19.12.2008
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Januar 2009