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INTERVIEW/015: Fluchträume und Grenzen - Westsahara-Kolonialkonflikt auf der dOCUMENTA (13) (SB)


Interview mit Beatrice Jarvis am 2. September 2012 in der Karlsaue in Kassel


Protest gegen marokkanischen Sperrwall am 20. Mai 2005 - By Western Sahara [CC-BY-SA-2.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0)], via Wikimedia Commons2012

Sahrauis demonstrieren gegen "Sperrwall der Schande"
By Western Sahara [CC-BY-SA-2.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0)], via Wikimedia Commons2012

Die dOCUMENTA (13) bietet für vieles Platz, doch das Zelt, daß die New Yorker Künstlerin Robin Kahn zusammen mit den Frauen von La Cooperativa Unidad Nacional Mujeres Saharauis in der Karlsaue errichtet hat, scheint gänzlich aus dem Rahmen üblicher Kunstprojekte zu fallen. Konzipiert als Ort, an dem das Schicksal der Sahrauis und ihres Kampfes um die vollständige Anerkennung ihrer Eigenstaatlichkeit als Demokratische Arabische Republik Sahara (DARS) bekannt gemacht werden soll, fungiert es als Ort der Ruhe wie Begegnungsstätte für die Besucher der Documenta.

Das durch den 2700 Kilometer langen, mit Millionen Landminen, Stacheldraht, elektronischer Überwachung und Soldaten gesicherten "Sperrwall der Schande" in zwei Teile getrennte Gebiet der Sahrauis wurde nach dem Ende der spanischen Kolonialherrschaft 1975 von Marokko und Mauretanien besetzt. Seit sich Mauretanien 1976 aufgrund des Widerstands der sahrauischen Befreiungsbewegung Frente Polisario aus Westsahara zurückzog, wird das Gebiet der ehemaligen spanischen Kolonie vollständig von Marokko beansprucht, was es zur letzten Kolonie Afrikas macht. Rund zwei Drittel des Territoriums wird von marokkanischen Truppen, ein Drittel von den Einheiten der Polisario kontrolliert. Obwohl der völkerrechtswidrige Charakter der marokkanischen Annexionspolitik allgemein zugestanden wird, 78 Staaten die DARS als legitime Regierung im algerischen Exil anerkannt haben und die Frente Polisario als Repräsentantin des sahrauischen Volkes fungiert, ist seine Situation von dauerhafter ökonomischer Armut und politischer Rechtlosigkeit geprägt.

200.000 Sahrauis sind in Flüchtlingslager in der algerischen Wüste ausgewichen. Wer von den 300.000 in Westsahara lebenden Sahrauis noch unter marokkanischer Verwaltung lebt, soll mit Zwang "marokkanisiert" werden. Wer sich diesem Diktat nicht unterwirft, lebt in fortwährender Entrechtung und kann zum Ziel schwerwiegender Menschenrechtsverletzungen werden. Die Mißachtung der völkerrechtlichen Ansprüche der Sahrauis ist wesentlich durch die außenpolitischen Interessen der USA wie EU bedingt, die gute Beziehungen zur marokkanischen Regierung unterhalten und vielfältige Handels- und Rohstoffinteressen in der Region haben. So bleibt der Auftrag der Vereinten Nationen, aufgrund des Waffenstillstands zwischen der Frente Polisario und der marokkanischen Regierung 1991 ein Referendum über das Selbstbestimmungsrecht der Bevölkerung Westsaharas abzuhalten, unerfüllt. Währenddessen tragen insbesondere europäische Wirtschaftsakteure zur weiteren Mißachtung der Rechte der Sahrauis bei, woran die Bundesregierung maßgeblichen Anteil hat, wie ihre angestrebte Energiepartnerschaft mit Marokko belegt [1].

So bietet das Wüstenzelt in der Karlsaue seinen Gästen die Möglichkeit, mehr über diesen in der massenmedialen Berichterstattung fast vollständig ausgeblendeten Konflikt zu erfahren. Seine Initiatorin Robin Kahn versteht es ausdrücklich als Projekt, um Bewußtsein für das Schicksal staatenloser Menschen und ihrer nationalen Eigenständigkeit beraubter Bevölkerungen zu schaffen. Dies erfolgt vor allem mit Mitteln tradierter sozialer Rituale, in deren Mittelpunkt die Gastfreundschaft der nomadischen Wüstenbevölkerung steht. Das für zeremonielle Zwecke vorgesehene Zelt bietet darüber hinaus Doktorandinnen, Stipendiatinnen und Wissenschaftlerinnen der im irischen Dublin ansässigen Graduate School of Creative Arts and Media (GradCAM) die Möglichkeiten zu sozialen und künstlerischen Explorationen [2]. Zu ihnen gehört auch Beatrice Jarvis, die dem Schattenblick einige Fragen beantwortete.

Im Gespräch - Foto: © 2012 by Schattenblick

Beatrice Jarvis im freistehenden Wüstenzelt der Künstlerin Robin Kahn und La Cooperativa Unidad Nacional Mujeres Saharauis (The National Union of Woman from Western Sahara)
auf der dOCUMENTA (13)
Foto: © 2012 by Schattenblick

Schattenblick: Frau Jarvis, beteiligen Sie sich an diesem Projekt aus künstlerischer Sicht?

Beatrice Jarvis: Nein, ich verfolge dieses Projekt als Studium der Partizipation und Aktivierung. Ich mache meine Doktorarbeit in dem Gebrauch künstlerischer Praxis als Mittel zur sozialen Aktivierung und dem Gebrauch der Kunst als therapeutisches oder soziales Vehikel. Wir betrachten das Projekt als eine Methode, unser politisches Verständnis zu erweitern und Bewußtsein für den Kontext der Westsahara zu schaffen. Ich arbeite seit dreieinhalb Wochen in diesem Projekt, aber das European Art Research Network (EARN) hat mit Robin Kahn und der Documenta hundert Tage daran gearbeitet. Tatsächlich befähigt die Erfahrung, in diesem Zelt zu sein, die Besucher, den Kontext der Westsahara etwas besser zu verstehen. Der Aufenthalt in dem Zelt kann dafür Bewußtsein schaffen, oder die Menschen kommen einfach, um Tee zu trinken, ohne sich notwendigerweise weiterführende Gedanken zu machen.

SB: Identifizieren Sie sich persönlich mit der Sache der Sahrauis?

BJ: Ja. Für mich ist es aus persönlicher Sicht sehr interessant, innerhalb dieses Kontextes zu arbeiten. Wir haben viel über die Welt der Gastfreundschaft erforscht. Häufig hatten wir recht große Veranstaltungen, in denen Essen geteilt und Rezepte ausgetauscht wurde. Daran nahmen beim ersten Mal 45 bis 50 Leute teil. Wir brachten all das Essen ins Zelt und servierten es zum Teil völlig fremden Menschen, was wirklich wunderbar war. Wir haben zweifellos viel von den Sahraui-Frauen gelernt über diese erstaunliche Fähigkeit, so viel Gastfreundschaft zu praktizieren. Wenn jemand an ihrem Zelt inmitten des Lagers vorbeikommt, dann laden sie ihn ein und kochen für ihn, obwohl sie sich in einer sehr schwierigen Situation befinden.

SB: Hat diese Arbeit auch etwas mit der Gleichstellung von Frauen zu tun?

BJ: In meinem Verständnis ihrer Rolle und aus den Berichten, in denen Robin Kahn ihre Erfahrungen in Westsahara geschildert hat, nehmen die Frauen dort eine sehr viel stärkere soziale Rolle ein. Eine Freundin, die viel in Westsahara arbeitet, war wirklich schockiert, als ich ihr von dem Projekt erzählte. Sie wandte ein, daß die Frauen in Westsahara unterdrückt werden. Tatsächlich sind sie häufig verschleiert und bleiben zuhause, während ihr Ehemann oder ihr Bruder alle sozialen Interaktionen übernehmen.

Das Interessante an dem Projekt ist jedoch, daß Frauen eine sehr starke soziale Position einnehmen. Beispielsweise organisieren sie die Schulen, kulturelle Veranstaltungen, die Verteilung der Versorgungsrationen der Vereinten Nationen und viele Belange des täglichen Lebens. Ich denke, sie übernehmen sehr viel Verantwortung, und ihre soziale Rolle hat sich im Rahmen der politischen Situation der Sahrauis vollständig verändert. Sie sind nun für viel größere Bereiche des sozialen und gesellschaftlichen Lebens zuständig. Dies hervorzuheben ist ein wichtiger Aspekt des Projekts.

SB: Wie reagieren die Besucher auf die politische Situation der Sahrauis? Interessieren sie sich dafür?

BJ: Dies haben wir in unserem Blog inthetent.org weiter ausgeführt. So haben wir im Rahmen des Projekts jede Reaktion der Besucher des Zelts untersucht. Manche Gäste waren sehr erschrocken darüber, was sie über die Sahrauis erfuhren, weil sie nichts davon wußten. Andere interessierten sich für das Zelt und hätten es gerne in ihrem Garten aufgestellt oder für ihre Geburtstagsparty ausgeliehen. Manche Leute kommen einfach herein und verlassen es gleich wieder, als wollten sie die Documenta im Eiltempo absolvieren, was mich persönlich ärgert, weil ich mich gerne mit den Gästen auseinandersetze. Aber andere Leute bleiben drei, vier Stunden, lesen alle Informationsbroschüren und führen interessante Gespräche.

Die schönste Geschichte ist die eines sehr alten Paares, das in Kassel lebt. Beide kamen eine Woche lang jeden Tag wieder, ohne irgendetwas über Westsahara zu wissen. Sie benutzten das Zelt und die Materialien im Umfeld, um die Situation dort zu verstehen. Jeden Tag brachten sie einige ihrer Freunde mit, die ebenfalls nichts über Westsahara wußten und sich darüber informierten. Es hängt von der Person ab, die kommt, und ist sehr subjektiv. Wenn sich die Menschen ersteinmal engagieren, dann steht ihnen hier viel Material zur Verfügung, aus dem sie viel über die Problematik lernen können.

SB: Es gab auch Kritik an dem Projekt, bei der die Frage aufgeworfen wurde, worin sein künstlerischer Bezug oder Wert besteht.

BJ: Das ist eine meiner zentralen Fragen zum Charakter dieser Arbeit. Ich habe viel zur Idee der Handwerkskunst und dem Verständnis des Künstlers als Handwerker in der Renaissance geforscht. Diese Vorstellungen mit einem solchen Projekt in Verbindung zu bringen kann jedoch sehr problematisch werden. Nur weil man eine Arbeit auf der Documenta hat, ist es nicht unbedingt notwendig, sie als Kunstwerk auszuweisen. Dies ist ein sozial sehr aktives Projekt, und ich glaube nicht, daß man es mit der Frage belasten muß, ob es Kunst ist oder nicht. In einem gewissen Maß ist es nicht erforderlich, es so auszuweisen. Es ist ein soziales Projekt, das innerhalb des Rahmens und der Möglichkeiten der Documenta repräsentiert wird, das Bewußtsein schafft und Erfahrungen freisetzt, aber es muß nicht notwendigerweise als Kunst bezeichnet werden.

SB: Aus dem Blickwinkel des sozialen Aktivismus könnte es einfach nützlich sein, die Documenta als Möglichkeit der Darstellung zu nutzen.

BJ: Auf jeden Fall. Zum Beispiel hatten wir letztes Wochenende 20.000 Besucher auf der Documenta. Wenn man sich vorstellt, daß ein nicht geringer Prozentsatz dieser Besucher das Zelt besucht, dann kann man die Documenta als großartige Plattform bezeichnen, um Bewußtsein zu entwickeln und zu schaffen. Vielleicht gibt es Künstler, die einwenden, daß die Documenta nicht als Plattform für sozialen Aktivismus genutzt werden sollte. Aber wir hatten viele Gespräche mit den Aktivisten der doccupy-Bewegung, wir haben sogar einmal für sie gekocht, und ihre Meinung zu dem Zelt war sehr interessant. Sie meinten, es sei merkwürdig, daß ihr jeden Tag zumacht. Ihr praktiziert diese wunderbare Gastfreundschaft, und plötzlich hört sie auf. Ihr funktioniert also wie ein Kunstwerk, habt Öffnungszeiten, es ist kein völlig offener Raum, es gibt Regeln und soziale Codes, die das Verhalten im Zelt regulieren. Es ist fast wie ein Bild und hat weniger von der Substanz eines unbegrenzt offenen Raumes.

SB: Frau Jarvis, vielen Dank für das Gespräch.

Fußnoten:
[1] https://www.schattenblick.de/infopool/politik/redakt/afka2070.html

Weitere Informationen und Berichte zu Westsahara im Schattenblick siehe unter:
https://www.schattenblick.de/infopool/politik/ip_politik_brenn_westsahara.shtml

[2] http://www.inthetent.org/research/?page_id=2


12. September 2012