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INTERVIEW/008: Gefesselte Kunst - Rania Sabbah zum partizipativen Ansatz (SB)


Interview mit Rania Sabbah am 9. Februar 2012 in Berlin


Rania Sabbah hat in Jordanien Landwirtschaft mit dem Schwerpunkt Ernährungswissenschaft sowie Internationale Entwicklung an der University of Bath in Großbritannien studiert. Seit 2010 arbeitet sie als Beraterin beim Women Program Centre im Talbyeh Camp, einem der palästinensischen Flüchtlingslager in Jordanien, im Rahmen eines Projekts, das vom GIZ S&C Fund gefördert wird. Ihre besonderen Interessensgebiete sind Flüchtlinge und erzwungene Migration, kommunale Entwicklung und Partizipation von Jugendlichen.

Bei der Konferenz "radius of art" war sie eine der Referentinnen des Forums "The role of visual and participatory arts in the empowerment of communities". Der Schattenblick hatte Gelegenheit, ein Gespräch mit Rania Sabbah zu führen.

Rania Sabbah - Foto: © 2012 by Schattenblick

Rania Sabbah
Foto: © 2012 by Schattenblick
Schattenblick: Sie sind keine Künstlerin, sondern haben Landwirtschaft mit dem Schwerpunkt Ernährung studiert. Was hat Sie veranlaßt, im Flüchtlingslager Talbyeh in Jordanien zu arbeiten?

Rania Sabbah: Als ich das Studium der Landwirtschaft aufnahm, war das eine Entscheidung, die ich nicht nach gründlicher Recherche getroffen hatte, da ich damals noch zu jung war. Ich war schon immer an Sozialarbeit und einer Tätigkeit im nichtkommerziellen Sektor interessiert. Nachdem ich mein Studium abgeschlossen und einige Jahre gearbeitet hatte, wobei ich zunächst in der Privatwirtschaft beschäftigt war und später in den nichtkommerziellen Sektor wechselte, nahm ich ein Postgraduiertenstudium im Fachgebiet Internationale Entwicklung auf. Seither habe ich auf diesem Gebiet gearbeitet. Es war wohl das Interesse, etwas anderes zu machen und der Gesellschaft etwas zurückzugeben, das mich bewogen hat, mich der Arbeit mit palästinensischen Flüchtlingen zu widmen. Hinzu kommt natürlich, daß ich selbst aus Palästina stamme und mehr über die Situation palästinensischer Flüchtlinge erfahren wollte - nicht aus Büchern oder Erzählungen meiner Familie, sondern durch die Arbeit mit den Menschen selbst. Ich hatte Glück, den Job zu finden, der die Tür zu einer engeren Zusammenarbeit mit den palästinensischen Flüchtlingen öffnete.

SB: Wie sieht ihre gegenwärtige Tätigkeit aus?

RS: Derzeit bin ich in einem Projekt über die Dokumentation der palästinensischen Geschichte tätig. Ich arbeite dabei mit einer Gruppe junger Flüchtlinge aus dem Lager Talbyeh in Jordanien und unterrichte sie darin, Filme zu machen. Das Projekt wird in Zusammenarbeit mit einer Organisation aus Ramallah durchgeführt, so daß die Ausbilder beinahe jede Woche kommen, um die Teilnehmer zu unterrichten. Wenn das Projekt in Kürze abgeschlossen ist und die Jugendlichen ihre Ideen filmisch umgesetzt und die Filme fertiggedreht haben, werden die Ergebnisse im Flüchtlingslager wie auch in der Hauptstadt Amman gezeigt. Darüber hinaus wollen wir die Filme über andere Plattformen in Umlauf bringen. Ein weiteres Produkt dieses Projekts besteht darin, im Frauenzentrum des Flüchtlingslagers ein Archiv der Erinnerung, des Erbes, der Kultur der Palästinenser einzurichten. Daran arbeiten wir derzeit gemeinsam mit dem Frauenzentrum und den Teilnehmern. Wir hoffen, daß dieses Kulturzentrum für die jungen Leute zu einem Ort wird, an dem sie mehr darüber lernen und sich damit auseinandersetzen, wer sie als Palästinenser und als Flüchtlinge sind.

SB: Wer entscheidet darüber, welche Filme gedreht werden?

RS: Grundsätzlich entscheiden das die Teilnehmer selbst. Die Idee zu diesem Projekt kam aus aus dem Frauenzentrum des Flüchtlingslagers, das ehrenamtlich geleitet wird. Die Frauen schmiedeten den Plan, Interviews mit älteren Bewohnern des Lagers, die die Vertreibung im Jahr 1948 oder jene von 1967 erlebt haben und von diesen Erfahrungen im Gespräch berichten, auf Video aufzunehmen. Sie erzählen über das Palästina vor 1948, die Vertreibung und ihre vielfältigen Erlebnisse in der Zeit danach, und diese Erinnerungen werden dokumentiert und damit künftigen Generationen zugänglich gemacht. Sterben alte Menschen, geht mit ihnen auch die Erinnerung verloren. Um diesem Verlust etwas entgegenzusetzen, reifte das Bedürfnis, diese Erinnerungen aufzuzeichnen. Um das Vorhaben umzusetzen, nahm man Kontakt mit der GIZ und der Mahatta-Galerie in Palästina auf, worauf sich die Idee zu einem Projekt verdichtete, in dem die jungen Teilnehmer dazu ausgebildet werden sollten, ihre Filme selbst zu drehen. Gemeinsam entwickelten, diskutierten, veränderten sie ihre Ideen, wobei sie von den Ausbildern unterstützt wurden.

Schließlich wurde der Beschluß gefaßt, fünf Filme zu produzieren. Nicht alle haben die Dokumentation der palästinensischen Erinnerung im traditionellen Sinn zum Inhalt. Keiner dieser Filme enthält direkte Interviews mit älteren Leuten, doch entwickelten die Teilnehmer ihre Ideen je nachdem, was ihnen wichtig erschien. Einige wollten einen Film über die Kultur der Scham drehen, die geschlechtsspezifisch ist. Was dürfen Mädchen tun, was ist ihnen verboten, was dürfen Jungen tun oder nicht tun? Wenn dabei etwas herauskam, was sie für wichtig erachteten, wurde es als gute Idee für einen Film ausgewählt. Andere beschäftigten sich direkter mit Fragen palästinensischer Flüchtlinge wie beispielsweise dem Rückkehrrecht und wie ältere Leute das Rückkehrrecht im Vergleich zu jungen Leuten verstehen. Wieder andere Filmideen hatten soziale Probleme zum Inhalt, die für Jugendliche wichtig sind.

SB: Handelt es sich bei der Besatzung ausschließlich um eine Okkupation des Landes und der Lebensmöglichkeiten oder könnte man auch von einer Okkupation des Denkens sprechen?

RS: Definitiv. Die Vertreibung und das Rückkehrrecht, die Errichtung der Siedlungen, die fortgesetzte Politik des Landraubs, die Einschränkung der Bewegungsfreiheit und viele weitere Probleme sind außerordentlich wichtig. Doch gleichermaßen wichtig sind meiner Überzeugung nach Fragen der Okkupation unseres Denkens: Unsere inneren Probleme, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen, um uns zu befähigen, nicht nur zur Befreiung Palästinas als Land und Volk beizutragen, sondern zuallererst auch an unseren eigenen Konflikten zu arbeiten.

SB: Sie haben gestern im Forum Bezug auf Paulo Freire genommen, der in den 1970er Jahren auch in den Sozialwissenschaften und der Linken in Deutschland sehr populär war. Heutzutage ist er fast vollständig in Vergessenheit geraten. Was macht ihn für Sie so interessant?

RS: Ich kam mit dem Ansatz Paulo Freires in Berührung, als ich Internationale Entwicklung studierte. Ich halte seine Theorien für inspirierend und sein Werk in unserem Arbeitszusammenhang für außerordentlich relevant. Wenn er über das "Bankiers-Konzept" von Erziehung und die "Spareinlage" von Informationen in das Denken der Menschen spricht, beschreibt er das, was gegenwärtig tatsächlich geschieht. Das ist unsere Herausforderung nicht nur in Jordanien oder Palästina, sondern ebenso in anderen Weltregionen. Ich bin zudem an der Gemeindearbeit und Partizipation interessiert und halte auch in diesem Zusammenhang Paulo Freires Werk für sehr bedeutsam. Wir brauchen meines Erachtens ein anderes Bildungssystem oder zumindest eine Alternative, die einen tatsächlichen Dialog mit den Menschen möglich macht. Zu unseren inneren Problemen gehört, daß wir behaupten, einen Dialog zu führen, aber dies de facto nicht tun. Eine Folge dieses Problems ist die Fraktionsbildung unter den Palästinensern und ebenso in anderen arabischen Gesellschaften. Wir müssen uns bemühen, einen echten Dialog zu führen, um ein gemeinsames Verständnis davon zu entwickeln, wer wir sind und wohin wir gehen wollen, und entsprechend handeln. Aus diesen Gründen halte ich das Werk Paulo Freires für relevant.

SB: Sie haben im Forum über die Bedeutung des Vertrauens gesprochen. Warum ist Vertrauen Ihres Erachtens so wichtig?

RS: Aus demselben Grund. Wenn wir soziale Transformation und Veränderung anstreben, die nicht die bestehenden Strukturen replizieren, müssen wir zusammenarbeiten. Wir arbeiten nicht genügend zusammen, wir verbringen unsere Zeit damit, zu streiten und einander zu bekämpfen, und das gilt für Palästina und Jordanien ebenso wie für andere arabische Länder. Um zusammenzuarbeiten, müssen wir einander mehr vertrauen, und um dieses Vertrauen zu stärken, brauchen wir einen echten Dialog. Unsere größte Herausforderung besteht darin, diesen Dialog zu führen.

SB: Ich habe kürzlich einen interessanten Videoclip von jungen Rap-Musikern in Gaza gesehen, die ihre Freunde im Westjordanland seit Jahren nicht mehr getroffen hatten. In ihren Raps thematisierten sie die Frage, warum sie nicht hinübergehen und ihre Freunde treffen können. Sie befaßten sich in ihrer Musik mit der Okkupation, mit israelischer Regierungspolitik und anderen aktuellen politischen Themen. Die Jugendlichen begannen, zunächst einfach nur Musik zu machen, und politisierten sich darüber. Inzwischen fordert eine Jugendbewegung im Gazastreifen die alten Männer auf, endlich Frieden unter den verfeindeten Fraktionen der Palästinenser zu schließen und gemeinsam die Okkupation zu beenden. Könnte diese Jugendbewegung der Sache der Palästinenser einen neuen Impuls geben?

RS: Nach meiner Überzeugung kann eine Veränderung nur von der Jugend herbeigeführt werden, die frustriert ist und der alten Führung aufgrund bestimmter historischer Entwicklungen mißtraut. Wie das Beispiel anderer arabischer Länder zeigt, waren es Jugendliche, die keiner politischen Partei angehörten und Politik stets mieden, die zumindest anfangs die Revolution angeführt haben. In dieser Hinsicht verhält es sich wohl in Palästina nicht anders. Auf lange Sicht könnten allen voran junge Palästinenser und Israelis, die gleichermaßen das Vertrauen in die politische Führung verloren haben, eine Lösung des Konflikts herbeiführen, die jenseits ethnischer und religiöser Grenzen die Würde aller Menschen verwirklicht. Vielleicht ist das zu naiv gedacht, aber auf sehr lange Sicht halte ich das für die einzig mögliche Lösung.

SB: Es könnte sich ja gerade dann um eine Vision handeln, wenn man etwas anstrebt, das noch nicht existiert, und nicht aufgibt, obwohl es unmöglich erscheint.

RS: Es scheint unmöglich zu sein, aber es ist meines Erachtens nicht unmöglicher als das, was die politische Führung beider Seiten zu erreichen versucht und als realistischen Lösungsweg präsentiert, während man in der alltäglichen Erfahrung erlebt, daß es praktisch, moralisch und ethisch unmöglich ist. Es gibt jedoch andere Visionen, die auf einer moralischen Grundlage aufbauen. Warum also nicht?

SB: Wir haben auf diesem Kongreß so häufig und routiniert Begriffe wie "Partizipation" oder "soziale Transformation" in den Mund genommen, daß man innehalten und fragen möchte, worüber wir hier eigentlich reden. Ich habe in vielen Fällen eine eindeutige Position und Parteinahme für die Menschen, mit denen man in den Projekten zusammenarbeitet, vermißt. Wie könnte man Konzepte wie Empowerment oder Partizipation mit Leben füllen?

RS: Ich halte es für außerordentlich wichtig, die Bedeutung dieser Begriffe hinsichtlich der Perspektive von Menschen, die in NGOs und der Entwicklungsarbeit tätig sind, zu präzisieren. Beispielsweise hat Partizipation in der Praxis verschiedene Bedeutungen. Sie wird allgemein positiv bewertet, weshalb sämtliche Organisationen für sich in Anspruch nehmen, einen partizipativen Ansatz zu verfolgen. Jede Organisation versteht jedoch etwas anderes darunter. Manche führen Studien durch, glauben damit die Bedürfnisse der Menschen angemessen ermitteln zu können und planen dann die Projekte unabhängig von den späteren Teilnehmern. Dennoch halten sie das möglicherweise für Partizipation. Nach meinem Verständnis von Partizipation, die zu Empowerment führt, muß man zunächst verstehen, was Empowerment bedeutet. Empowerment bedeutet, daß die Projektteilnehmer selbst und kollektiv ihre Realität reflektieren, auf Grundlage dieses Verständnisses definieren, was für sie wichtig ist, und entsprechend handeln. Dies führt zu einer Veränderung der Machtstrukturen. So verstehe ich Empowerment, und somit bedeutet Partizipation sehr viel mehr, als Leuten einen Fragebogen vorzulegen. Man muß die Voraussetzungen dafür schaffen, daß Menschen zusammenkommen und Vertrauen schaffen können, indem sie einander besser kennenlernen, miteinander interagieren und ihre Ansichten diskutieren. Zusammen analysieren sie ihre Realität und gemeinsam entscheiden sie, was zu tun ist, und setzen es um. So verstehe ich Partizipation, die zu Empowerment führt.

SB: Rania Sabbah, ich bedanke mich für dieses Gespräch.

(Aus dem Englischen übersetzt von SB-Redaktion)

22. März 2012