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BERICHT/044: Aus dem Dunkel der Geschichte - und viele am Rande ... (SB)


Down and out - kein Leben in der neoliberalen Arbeitsgesellschaft

Gründung des Zentralrats der Asozialen in Deutschland (ZAiD) am 18. März 2015 auf Kampnagel in Hamburg


"Asozial" - nicht alles, was Nazis in die deutsche Sprache einbrachten, mit rassistischer Bedeutung aufluden oder mit eliminatorischer Stoßrichtung biologistisch umdeuteten, ist für die Wortwahl im politischen Alltagsgeschäft tabu. 2006 forderte die ehemalige Linken-Politikerin Christa Müller, die "Reproduktion des asozialen Milieus" [1] durch staatliche Familienberatung zu begrenzen, und stieß damit in das Horn einer sozialeugenischen Bevölkerungspolitik, die durch die Benachteiligung "bildungsferner Schichten" im sozialen Leistungsbezug längst Realität ist. Die im Auftrag des ehemaligen Ministers für Wirtschaft und Arbeit, Wolfgang Clement, herausgegebene Broschüre "Vorrang für die Anständigen - Gegen Missbrauch, 'Abzocke' und Selbstbedienung im Sozialstaat" stellte die angeblich massenhafte Betrügerei unter den Beziehern des Arbeitslosengeldes II, die zu belegen ihre Verfasser nicht in der Lage waren, unter Verweis auf die biologische Forschung in den Kontext des Begriffs "Parasiten", was wiederum ein gefundenes Fressen für jene Massenmedien war, die ihre erste Aufgabe in der Disziplinierung der neoliberalen Arbeitsgesellschaft erkennen [2].

Ob der ehemalige SPD-Chef Kurt Beck einem Arbeitslosen rät, sich zu "waschen und rasieren", um einen Job zu finden, ob er Hartz-IV-Empfänger zur Bescheidenheit ermahnt und sie einer gemeinnützigen Leistungspflicht aussetzen will, ob der einstige SPD-Vorsitzende Franz Müntefering fordert "Nur wer arbeitet, soll auch essen" [3], oder der sozialdemokratische Erfolgsautor Thilo Sarrazin eine direkte Verbindung zwischen angeblich unzureichender Arbeitsproduktivität und zu zahlreichem Nachwuchs bei türkischstämmigen Familien zieht, die Unterwerfung des Menschen unter die Leistungsforderung der Arbeitsgesellschaft ist erste Pflicht des Bürgers, der nicht zu entsprechen mit Ausgrenzung und Versorgungsentzug sanktioniert wird.

Das in Wahlkämpfen und von Unternehmensverbänden propagierte Motto "Sozial ist, was Arbeit schafft" [4] meint die gewinnbringende Verwertung der Ware Arbeitskraft durch sogenannte Leistungsträger, deren Kapitaleinsatz Menschen die Möglichkeit gibt, ihre Lebenszeit und Körperkraft zu Markte zu tragen. Dies sollen sie auch unter eigentlich unzumutbaren Bedingungen tun und dabei in Kauf nehmen, ihr Leben mit Löhnen zu fristen, die ihnen gerade noch die Reproduktion ihrer Arbeitskraft ermöglichen. Danach zu fragen, ob diese Arbeit den persönlichen Neigungen und Interessen entspricht, ob sie anderen Menschen das Leben erleichtert oder noch schwerer macht, ob man überhaupt einen Sinn in ihr erkennen kann oder sie nur widerwillig verrichtet, ist nicht vorgesehen. "Friß oder stirb" lautet der diesem Arbeitsethos zugrundeliegende Imperativ. Er nötigt Menschen, die nichts anderes besitzen als ihre Arbeitskraft, dazu, sich dem ihnen fremden Nutzen betriebswirtschaftlicher Effizienz, wissenschaftlich-technischer Rationalisierung, unternehmerischen Erfolgs und wirtschaftlichen Wachstums zu unterwerfen.

Als "asozial" stigmatisiert, ob anhand dieses Begriffs oder einer dem NS-Duktus enthobenen Variante, werden dementsprechend Menschen, die subversiv Widerstand leisten oder sich der Lohnarbeit auf diese oder jene Weise entziehen. Da diese Verweigerung viele Formen und Gestalten annehmen kann, ist der Zusammenhang zwischen Abweichungen von den Normen der Mehrheitsgesellschaft und ihrer Forderung, sich die Zugehörigkeit zu ihr durch geldwerte Arbeit zu verdienen, nicht immer auf den ersten Blick ersichtlich. Er tritt jedoch dort hervor, wo vermögende Menschen sich Marotten und Vergehen aller Art leisten können und dafür sogar bewundert werden, während mittellose Menschen mit "abweichendem Verhalten" weit eher Gefahr laufen, durch Leistungsentzug und Arbeitsauflagen gemaßregelt zu werden oder in Knast und Psychiatrie zu landen.


Tucké Royale durchschneidet das Band zum Veranstaltungssaal - Foto: © 2015 by Schattenblick

"Es ist ZAiD!" - Geschichte wird gemacht
Foto: © 2015 by Schattenblick

Kunstprojekt mit sozialer Sprengkraft

Was auf den ersten Blick unter den Verdacht der leichtfertigen Aneignung Zigtausender Opferschicksale aus der NS-Zeit geraten könnte, erweist sich bei genauerem Hinschauen als probates Mittel, einen zentralen gesellschaftlichen Konflikt beim Namen zu nennen. Dabei geht es nicht nur darum, die weitgehend ausgebliebene Anerkennung und Entschädigung vom NS-Staat verfolgter "Asozialer" in die öffentliche Wahrnehmung zu rücken, sondern vielleicht auch die Gründe dafür zu verstehen, daß gerade diese Opfergruppe dem Vergessen preisgegeben wurde und wird.

Der am 18. März auf Kampnagel in Hamburg feierlich gegründete Zentralrat der Asozialen in Deutschland (ZAiD) bewegt sich auf dem schmalen Grat zwischen institutionalisierter Vertretungspolitik und performativem Akt. "Wir stellen keine historischen Ereignisse nach, wir stellen sie her" - die Gruppe um den Performancekünstler Tucké Royale nimmt sich ganz unbescheiden heraus, der Wirklichkeit nicht zu erliegen, sondern sie mit dem der Zukunft zugewandten Mittel des Pre-Enactments herauszufordern. Als "Veröffentlichungsapparat der unerhörten Zeugnisse Ausgegrenzter" will der ZAiD Menschen eine Stimme verleihen, die ihnen unter den herrschenden Verhältnissen nicht zugestanden wird. Das betrifft zuerst die als "asozial" verfolgten NS-Opfer, deren "immaterielle wie materielle Entschädigung" an vielen dezentralen Gedenkorten, in der schulisch vermittelten Geschichtsschreibung wie auch ihrer Gleichstellung mit anderen Opfergruppen erfolgen soll.

Die Kritik, die Tucké Royale in der Eröffnungsrede [5] am Bundesentschädigungsgesetz von 1953 übt, verrät etwas über die Ambivalenz der sogenannten Wiedergutmachung. So wurde die "Aufspaltung in Opfergruppen beibehalten" und damit die "Perspektive der Verfolger" eingenommen, was sich auf als "asozial" Verfolgte besonders negativ auswirkte, waren die betroffenen Menschen doch auch nach der Befreiung 1945 staatlicher Repression ausgesetzt. In keiner Gesellschaft wohlgelitten, weil ihren jeweiligen Arbeitsethos mißachtend, gegen das bürgerliche Eigentumsrecht und kapitalistische Leistungsprinzip verstoßend oder anderweitig von der Normalität abweichend, die Staat und Kirche einfordern, könnte man diese höchst heterogene Gruppe auch als Antithese zur gesellschaftlichen Domestizierung allen Lebens verstehen, das - unbewußt oder willentlich - gegen die Imperative moralischer wie ökonomischer Schuldhaftigkeit revoltiert.

Indem der ZAiD den schwarzen Winkel als "asozial" stigmatisierter Lagerhäftlinge zum zentralen Symbol seines Anliegens erklärt, bedient er sich einer symbolträchtigen Ikonographie, die über ihre spezifische Bedeutung für die KZ-internen Funktionen und Hierarchien hinaus auf die Geschichte des gesellschaftlichen Arbeits- und Erwerbszwanges verweist. Dies gilt auch für den Zynismus der Parole "Arbeit macht frei", die über den Eingangstoren zu mehreren Konzentrationslagern angebracht war. Arbeit wurde als Wert an und für sich gesehen, der die Volksgemeinschaft in ihrem angeblichen Willen, sich gegen andere Nationalkollektive durchzusetzen, eint. Wer sich dem entzog, war als "Volksschädling" schwerster Bestrafung zugedacht. Das "arbeitsscheue Element" sollte, teilweise noch unter dem Vorwand seiner Umerziehung, an dem zugrunde gehen, was es angeblich am meisten haßt. So nahm Joseph Goebbels laut einem Aktenvermerk des Reichsjustizminister Otto Thierack im September 1942 "hinsichtlich der Vernichtung asozialen Lebens" den Standpunkt ein, "der Gedanke der Vernichtung durch Arbeit sei der beste."

Ob systematisch vollzogen oder billigend in Kauf genommen, stand die "Vernichtung durch Arbeit" in ihrer Grausamkeit dem industriellen Genozid an den europäischen Juden oder ihrer Massenerschießung durch Wehrmacht und SS in nichts nach. Dennoch wird der Glaube, daß Arbeit frei mache, bis heute propagiert, bisweilen sogar unter expliziter Inanspruchnahme dieser Parole. So war im August 2012 in der Online-Ausgabe der britischen Boulevardzeitung Daily Mirror unter der Überschrift "Warum unsere neuen Legionen arbeitsloser Hochschulabsolventen ihre Ansprüche anpassen müssen" zu lesen, daß "der deutschen Slogan 'Arbeit macht frei' durch seine Verbindung zu den Konzentrationslagern der Nazis irgendwie korrumpiert ist, aber seine zentralen Botschaft 'Arbeit macht dich frei' immer noch etwas Ernstzunehmendes hat, das zu empfehlen ist". [6]

Dies erfolgte in einem sozialfeindlichen Klima, in dem zum Beispiel ärztlich attestierte Behinderte im Rahmen einer sogenannten Sozialhilfereform zu Hunderttausenden daraufhin überprüft wurden, ob sie nicht doch noch für irgendeine Arbeit, und sei es nur die Taste auf einem Keyboard zu drücken, einzuspannen seien. Im Rollstuhl sitzende Behinderte brachen zusammen, nachdem sie während der Tests dazu genötigt wurden, aufzustehen, um zu beweisen, daß sie nicht laufen können; Patienten mit Krebs im Endstadium und schwerwiegender Multipler Sklerose müssen sich zur Arbeit schleppen, um nicht ihre Unterstützung zu verlieren; Zahlungen für barrierefreies Wohnen und medizinische Maßnahmen werden gestrichen aufgrund einer Prozedur, bei der das Personal angewiesen ist, keinen Augenkontakt zu den Probanden aufzunehmen. Zahlreiche Betroffene sind unmittelbar nach ihrer "Wiedereingliederung" in Lohnarbeit an den Anstrengungen verstorben oder haben sich aufgrund der Streichung ihrer Sozialhilfe in den Suizid geflüchtet [7].


Terminkalender an der Wand - Foto: © 2015 by Schattenblick Terminkalender an der Wand - Foto: © 2015 by Schattenblick Terminkalender an der Wand - Foto: © 2015 by Schattenblick

Aktionen, Inszenierungen ... alles im "ZAiD-Plan"
Fotos: © 2015 by Schattenblick

Um den Menschen zum Verkauf seiner Arbeitskraft zu nötigen, waren Zwangsmaßnahmen gegen sich verweigernde Bevölkerungsgruppen im frühen Kapitalismus so selbstverständlich wie die millionenfache Versklavung von Menschen durch Feudalherrn und Großgrundbesitzer, die sie als ihr Privateigentum betrachteten. In den Konzentrationslagern des NS-Staates wurden Menschen mit der Grausamkeit einer Industrie ausgebeutet, die nicht einmal mehr den Schein einer Erwerbsarbeit wahren mußte, die den Lohnabhängigen in Form ihres Gehalts zugutekommt. Die Lebenssubstanz der Arbeitssklavinnen und -sklaven wurde auf denkbar direkteste Weise verwertet.

Ideologisch wurzelte die massenhafte und systematische Ausbeutung von Jüdinnen und Juden, von kriegsgefangenen Soldaten und verschleppten Zwangsarbeiterinnen und -arbeitern in einem Sozialdarwinismus, dessen eugenische Ratio in der medizinischen und sozialwissenschaftlichen Lehre seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts omnipräsent war. So wurde auch die "Euthanasie" behinderter Menschen mit dem Argument der Entlastung gesellschaftlicher Produktivität von "unnützen Essern", "Ballastexistenzen" oder "parasitären" Nutznießer fremder Arbeit begründet. Insofern war die Bezichtigung und Drangsalierung als "asozial" diffamierter Menschen dem nie verebbenden Strom innovativ vorangetriebener Zugriffsgewalt immanent und damit keine genuine Erfindung völkischer NS-Ideologie.

Wie in der Eröffnungsrede erklärt, will sich der ZAiD "gar nicht erst in die Denkmuster der Nazis einfühlen", sondern "lieber einen Zentralrat der Asozialen" gründen. Da er jedoch ästhetisch und inhaltlich an die Verfolgung als "asozial" stigmatisierter Menschen anknüpft, nimmt er auch die Brisanz des Versuchs in Kauf, die Aufarbeitung des unterbliebenen Gedenkens und eine späte Entschädigung der wenigen noch lebenden Betroffenen mit dem politischen Anliegen zu verknüpfen, gegen die heutige Ausgrenzung unerwünschter, in diskriminierender Alltagssprache mit diesem NS-Begriff stigmatisierter Minderheiten vorzugehen.

NS-Verbrechen in einen aktuellen gesellschaftlichen Kontext zu stellen, wird aus gutem Grund als Verharmlosung monströser Grausamkeit kritisiert. Gleichzeitig macht der Trennstrich historischer Diskontinuität nicht jene sozialökonomischen Bedingungen kapitalistischer Vergesellschaftung ungeschehen, die der Barbarei des Faschismus überhaupt erst den Weg zur Herrschaft über eine Gesellschaft bahnten, die sich als kulturell und zivilisatorisch hochentwickelt verstand. An die Triebkräfte dieser Entwicklung analytisch anzuknüpfen muß nicht heißen, ihre jeweiligen Ergebnisse miteinander zu vergleichen oder gar gleichzusetzen. Nimmt man das Gebot, aus der Geschichte zu lernen und so den Anfängen zu wehren, ernst, dann verpflichtet ein Erkenntnishorizont, der die Grausamkeiten des NS-Regimes einschließt, ohnehin zu größter Aufmerksamkeit hinsichtlich des Aufkommens menschenfeindlicher Gewaltverhältnisse. Daher soll an dieser Stelle ein Blick auf die Geschichte eines Arbeitszwanges geworfen werden, dem insbesondere Menschen ausgesetzt wurden, die als urbanes Subproletariat den Besitzern der gesellschaftlichen Produktionsmittel auf Gedeih und Verderb ausgeliefert waren.


Datum des 18.3. mit Schwarzem Winkel - Foto: © 2015 by Schattenblick

Einziger Tagesordnungspunkt
Foto: © 2015 by Schattenblick

Arbeitszwang unter bürgerlicher Herrschaft, faschistischer Barbarei und sozialdarwinistischer Konkurrenz

Die Auflösung des europäischen Feudalsystems im Zuge des aufkommenden Merkantilismus beseitigte zwar letztendlich die Leibeigenschaft, ging aber mit einer gewaltsamen Vertreibung der Landbevölkerung und der Einhegung der gemeinschaftlich genutzten Allmende einher. Aus der adligen Obhutspflicht entlassen, wurden zahllose Menschen vogelfrei und mußten sich in den entstehenden Manufakturen als Tagelöhner oder als Erntehelfer verdingen, wollten sie nicht als Bettler oder Landstreicher enden. Um den "sozialen Aussatz" aus seiner Lebenssphäre zu entfernen, ließ das bürgerliche Patriziat in den Handelszentren Bettelei und Landstreicherei bei Strafe verbieten, während die ersten Armen- und Arbeitshäuser entstanden.

Ihre eigentliche Wirkung erzielten die katastrophalen Verhältnisse in diesen Anstalten durch den Abschreckungseffekt auf jene, die sich der Ausbeutung in den Manufakturen und entstehenden Industriebetrieben entziehen wollten. Die Verfolgung einiger weniger "Arbeitsscheuer" sollte der Allgemeinheit als warnendes Beispiel dienen. Armut wurde zunehmend als Resultat von Nichtarbeiten verstanden und Arbeit als Heilmittel gegen Armut ausgewiesen. Zudem galt es, dem Mangel an industriellen Arbeitskräften abzuhelfen. Der Sozialdisziplinierung waren nicht nur die Insassen der Arbeitshäuser unterworfen, sondern tendenziell die gesamte Bevölkerung, sofern deren Lebensweise und Arbeitsrhythmus mit den Anforderungen der kapitalistischen Produktionsweise unvereinbar war.

Die Armenfürsorge trieb die Menschen in die Fabrik, da arbeitsfähige Hilfsbedürftige in der Regel keine staatliche Unterstützung erhielten. So hieß es in Preußen von Gesetzes wegen, daß Arbeitsunwillige durch Zwang und Strafen zu nützlichen Arbeiten unter gehöriger Aufsicht angehalten werden sollten. Als "arbeitsscheu" eingestufte Bedürftige wurden in Armenhäuser eingewiesen und dort zur Zwangsarbeit genötigt. In diesen versammelten sich jegliche Außenseiter wie Bettler, Landstreicher, Obdachlose, ehemalige Soldaten, Handwerker ohne Anstellung, Straffällige, Prostituierte und Waisenkinder.

Mit der Gründung des Deutschen Reiches wurden Armutszustände wie Landstreicherei, Bettelei und Obdachlosigkeit sowie Verhaltensweisen wie "Spiel, Trunk und Müßiggang" oder "Arbeitsscheu" auf nationalstaatlicher Ebene kriminalisiert. Das Strafgesetzbuch von 1871 belegte diese auch als "Asozialität" bezeichneten Verhaltensweisen neben Haftstrafen mit der Sanktion einer Nachhaft im Arbeitshaus.

In der Weimarer Republik bestanden die entsprechenden Gesetze zur Einweisung kriminalisierter Armer in die Arbeitshäuser fort, doch mehrten sich Stimmen, die diese Praxis kritisierten. Dabei kreiste die Debatte insbesondere um das Konzept der Bewahrung, das für geschlossene Fürsorge stand. Im Zuge der Weltwirtschaftskrise erstarkten die restriktiven Zugriffskonzepte und wurden in ihrer Gewaltlogik durch den NS-Staat bis zur Ermordung der Betroffenen verabsolutiert.

Die Funktion von Arbeitshäusern nicht nur disziplinatorisch, sondern absolut repressiv zu fassen, schloß die Option der systematischen Vernichtung von arbeitsunfähigen Insassen zu einem späteren Zeitpunkt ein. Bereits Mitte September 1933 wurden im Rahmen einer Großrazzia vermutlich über 100.000 Bettler erfaßt, von denen viele verhaftet und zunächst für eine kurze Frist in Strafanstalten überstellt wurden. Auch in den Arbeitshäusern stieg die Anzahl der Insassen zu diesem Zeitpunkt sprunghaft an. Am 24. November 1933 wurden durch das "Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung" letztere in das Strafgesetzbuch eingeführt. In ein Arbeitshaus konnte eingewiesen werden, wer wegen "Bettelns, Landstreicherei, Gewerbsunzucht, Arbeitsscheuheit, Trunk- oder Spielsucht und Müßiggang" verurteilt wurde.

Die Berliner Stadtverwaltung errichtete im Juli 1934 mit dem Arbeitshaus Rummelsburg die erste deutsche Bewahrungsanstalt. Zum Juli 1935 führten die Wohlfahrtsämter in allen Berliner Bezirken die Pflichtarbeit ein. Es herrschte Einigkeit darüber, daß jemand, der Pflichtarbeit verweigere, keine Unterstützung verdiene. Diese Personen sollten aus der Gemeinschaft entfernt und in Rummelsburg untergebracht werden. Gestützt wurde dies durch ein bereits 1933/34 erprobtes "Warnsystem": Meldungen über Personen, die die Wohlfahrtspflege mißbräuchlich in Anspruch genommen hätten, wurden mittels roter Karteikarten an alle Stellen der öffentlichen Wohlfahrtspflege weitergegeben. Unter Beteiligung von Justiz, Polizei und Wohlfahrtsverwaltung wurde die Verfolgung "Asozialer" binnen weniger Jahre systematisch ausgebaut, bis schließlich 1938 alle Dienststellen verpflichtet waren, solche Personen dem Landeswohlfahrtsamt zu melden. Die gemeldeten Personen wurden unter "vorbeugende Überwachung" gestellt; änderten sie ihren Lebensstil nicht, folgte die Einweisung ins Arbeitshaus.


Bücherkiste im Winkelformat - Foto: © 2015 by Schattenblick

Literatur von und für Ausgegrenzte
Foto: © 2015 by Schattenblick

Seit dem 14. September 1937 galt ein Erlaß des Reichsinnenministers Wilhelm Frick zur "Vorbeugenden Verbrechensbekämpfung", der die Kriminalpolizei ermächtigte, Menschen mit der Begründung, es handle sich um "Asoziale", in Konzentrationslagern zu inhaftieren. Einen Höhepunkt der Verfolgung von "Asozialen" im NS-Staat stellte die Aktion "Arbeitsscheu Reich" dar. Seit 1938 drängten die Wohlfahrtsämter die Polizeibehörden geradezu zur Verhaftung von Bettlern, Landstreichern, Straftätern, Sinti und Roma, Trinkern, Prostituierten und Heimzöglingen. Betroffen waren aber auch Väter, die mit Unterhaltszahlungen im Rückstand waren, und arbeitsfähige Männer, die nachweislich in zwei Fällen angebotene Arbeit abgelehnt oder ohne stichhaltigen Grund wieder aufgegeben hatten. An die Stelle der Schikanen und Vertreibung von Bedürftigen trat nun ihre Erfassung und Vernichtung. Auf einen entsprechenden Erlaß vom 26. Januar 1938 folgten eine Aktion der Gestapo am 21. April und ein massenhafter Zugriff der Kriminalpolizei am 13. Juni 1938. Zehntausende "Asoziale" wurden in Konzentrationslager eingeliefert, wo sie den schwarzen Winkel auf ihrer Kleidung tragen mußten und in der KZ-Hierarchie ganz unten standen.

Waren bis dahin lokale Fürsorgebehörden federführend für die Verfolgung von "Asozialen" verantwortlich, so trat 1938 erstmals eine Reichsbehörde in Aktion, die Kommunen und Fürsorgeeinrichtungen die Möglichkeit eröffnete, mißliebige Klienten der Kriminalpolizei zur Einweisung in Konzentrationslager zu melden. Neben der Kostenersparnis war für viele Beamte insbesondere die abschreckende Wirkung auf Personen innerhalb ihres Verwaltungsbezirkes ausschlaggebend für die bereitwillige Mitarbeit. Nie zuvor seit Beginn des NS-Regimes hatte es einen derart konzertierten und folgenschweren Angriff auf das Subproletariat in Deutschland gegeben.

Ab 1940 wurden sogenannte Arbeitserziehungslager errichtet, in denen nun nicht mehr nur angeblich oder tatsächlich nicht arbeitende, sondern unzureichend arbeitende Menschen inhaftiert wurden. Ein nicht geringer Teil der Arbeitskräfte überlebte die meist mehrwöchige, vor allem der Abschreckung dienende Haft nicht. Sogenannte "Asoziale" wurden nun zumeist direkt in die Konzentrationslager verbracht, während in den Arbeitshäusern die Kosten gesenkt und Insassen für Zwecke der Kriegswirtschaft eingesetzt werden sollten. Dabei galt Rummelsburg auch als Testfall für die systematische Ausweitung der NS-Euthanasie: Die Tötung von Insassen sollte unter das Primat der Arbeitsfähigkeit gestellt werden. Wenngleich in Rummelsburg die vorgesehene Tötung letztlich nicht umgesetzt wurde, verdankte sich dies ausschließlich dem Umstand, daß der Ermordung von Juden und anderen KZ-Insassen Vorrang eingeräumt wurde, womit die Kapazitäten der Menschenvernichtung ausgelastet waren.

Nach dem Krieg setzte sich die Drangsalierung dieser Opfergruppe fort. Die DDR nahm die Bezichtigung "asozial" Ende der 1960er Jahre in den Strafrechtskatalog auf, wobei als Ursache von Obdachlosigkeit, "Arbeitsscheue" und "Asozialität" ausschließlich ein persönliches Verschulden der Betroffenen angenommen wurde. In der amerikanischen Besatzungszone wurde die Einweisung in ein Arbeitshaus vorübergehend abgeschafft, aber nach der Gründung der Bundesrepublik wieder in allen ehemaligen Westzonen eingeführt. Bis zur Abschaffung des Arbeitshauses als Maßregel durch die Große Strafrechtsreform 1969 wurden insgesamt 8.000 Personen in solche Institutionen eingeliefert. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang auch an die Heimerziehung der 1950er und 60er Jahre, auf die der Sprecher des ZAiD in seiner Eröffnungsrede hinwies, wie die Freiheitsberaubung durch Zwangspsychiatrie.

Die Stigmatisierung der "Asozialen" setzte sich in Politik, Rechtsprechung, Justiz und nicht zuletzt im Alltagsdenken fort. Selbst die Verfolgtenverbände in beiden deutschen Staaten lehnten "Asoziale" ab. Da das bundesdeutsche Entschädigungsrecht nur Verfolgung aus politischen, rassischen, religiösen oder weltanschaulichen Motiven anerkannte, fiel diese Opfergruppe anders als in der DDR grundsätzlich aus jeder Entschädigung heraus. Erst seit den 1980er Jahren eröffneten sich eingeschränkte Möglichkeiten des Zugangs zu Entschädigungen für Angehörige einiger Teilgruppen, doch steht bis heute eine umfassende materielle und ideelle Anerkennung dieser Form nazistischer Verfolgung aus.

Das vorläufige Ende der Arbeitshäuser in der Bundesrepublik war kein Abschied vom Arbeitszwang. Mit der Wiederkehr von Wirtschaftskrisen wurden erneut innovative Strategien restriktiver Sozialpolitik aus der Taufe gehoben. Nach ersten Ansätzen der konservativ-liberalen Koalition unter Helmut Kohl schaffte die rot-grüne Bundesregierung, was nur der sozialdemokratische Arbeitsethos vermochte. Die breite Akzeptanz für das Programm des aggressiven Sozialabbaus in der Bevölkerung ging mit einer systematisch erzeugten Entsolidarisierung und Klassenspaltung einher. Agenda 2010 und Hartz-Gesetze führten einen regelrechten Systembruch in der Arbeitslosen- und Sozialpolitik herbei. Da die Androhung des Entzugs sämtlicher Mittel zum Lebensunterhalt einem massiven Zwang zur Aufnahme von zutiefst ausbeuterischer Erwerbstätigkeit gleichkommt, kann man von einer Wiedereinführung der Zwangsarbeit sprechen. Damit sind in Deutschland Methoden einer repressiven Verwaltung von Armut und Arbeitslosigkeit zurückgekehrt, wie man sie bislang nur aus der Periode des Übergangs vom Mittelalter zur Neuzeit oder in Diktaturen der Moderne kannte.

Dabei ist nicht auszuschließen, daß diese Strategien von Armutsverwaltung und Arbeitszwang künftig wieder um repressive Maßnahmen der Kasernierung des Elends ergänzt werden, die man auf dem Müllhaufen der Geschichte entsorgt glaubte. Das gilt auch für Arbeitshäuser und Arbeitslager, deren Konzeption und Realisierung gerade die deutsche Administration seit jeher zu perfektionieren verstand. Raubt die fortschreitende Verelendung und Ausgrenzung wachsender Bevölkerungsteile den Betroffenen auf Dauer jede Illusion einer erfolgreichen Beteiligung an diesem System, sind Sozialkämpfe und Hungerrevolten nicht auszuschließen, zu deren Niederschlagung die Anwendung einschneidender institutioneller Zwangsmaßnahmen nicht lange auf sich warten lassen wird.


Sprecher am Mikro vor Wandzeitung - Foto: © 2015 by Schattenblick

Erster Sprecher Tucké Royale bei der Eröffnungsrede
Foto: © 2015 by Schattenblick

Zwischen allen Stühlen in Bewegung kommen ...

Wenn der ZAiD bekennt, im Rahmen einer "Inventur der bestehenden Werte 'Arbeit' und 'Leistung'" von nun an "unablässig" die Frage zu stellen, "ob diese Werte wirklich brauchbar sind für ein würdevolles und gemeinschaftliches Zusammenleben", dann legt er den Finger in eine Wunde gesellschaftlicher Verhältnisse, deren streitbare Thematisierung überfällig ist. Zwar wurde und wird dies von der antikapitalistischen Linken seit eh und je geleistet, doch dringt diese Kritik nur selten in den gesellschaftlichen Mainstream vor. Eine Verstärkung der im allgemeinen Diskurs kaum wahrgenommenen Position der vielen Menschen, die unter entwürdigenden Bedingungen unter die Räder der neoliberalen Arbeitsgesellschaft geraten, durch kulturelle und künstlerische Initiativen kann für deren Anliegen nur förderlich sein.

Kritische Interventionen wie die des Arbeitskreises Marginalisierte - gestern und heute, der "die Form des Zentralrates als autoritäres und hierarchisches Konstrukt" ablehnt, seinen "kulturalistischen Ansatz" für ungeeignet hält, um dem Thema gerecht zu werden, und ihm eine Verharmlosung der "tausendfachen Nazi-Morde an sogenannten Asozialen auf Polizeiwachen, auf Straßen, in Wäldern, in Psychiatrien, in Konzentrationslagern, bei der Vernichtung durch Arbeit und in Tötungsanstalten" [8] anlastet, sind schon deshalb diskussionswürdig, weil sie ein wesentliches Problem antifaschistischen und antikapitalistischen Widerstands in der Bundesrepublik betreffen. Die Vereinnahmung sozialer, linker und herrschaftskritischer Bewegungen durch Kräfte und Interessen, die ganz andere Ziele verfolgen als das einer klassenlosen Gesellschaft, gründet nicht zuletzt in einer Widerspruchsregulation, der es gelingt, fortschrittlich zu erscheinen und reaktionär zu agieren [9].

Die Art und Weise, mit der die im ZAiD zusammengeschlossenen Menschen die gesellschaftliche Form der Institution in Anspruch nehmen, für die ein selbsternannter "Erster Sprecher" auftritt, und ihre Zuständigkeit für eine Gruppe Betroffener erklären, ist nicht minder provokant als die Verortung elementarer Sozialkritik in einen kulturindustriellen Kontext. Das Spiel mit den Signaturen gesellschaftlicher Repräsentanz fordert um so mehr zum Einspruch heraus, als es sich einer Festlegung außerhalb seines performativen Momentums verweigert. Gegen alle Regeln der Selbstoptimierung und des Leistungsdiktats zu verstoßen, indem der gesellschaftliche Arbeitszwang als Maß aller Dinge negiert wird, die Okkupation des öffentlichen Raumes durch privatwirtschaftliche Eigentumsansprüche und staatliche Ordnungsauflagen zu bestreiten und sich auch sonst danebenzubenehmen heißt, sich zwischen alle Stühle zu setzen. Aus der oszillierenden Spannung dieses Nichtortes heraus könnte eine fruchtbare Debatte um das widersprüchliche Verhältnis zwischen politischem Kampf und individuellem Überlebenszwang, der Inanspruchnahme öffentlicher Mittel und der Unabhängigkeit selbstorganisierter Strukturen als auch der Isolation des Marktsubjekts und der Schaffung neuer Möglichkeiten kollektiven Handelns erwachsen.


Zugangsweg zu Kampnagel - Foto: © 2015 by Schattenblick

Noch ein langer Marsch durch die Institutionen?
Foto: © 2015 by Schattenblick


Fußnoten:


[1] http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/lafontaine-gattin-mueller-die-eva-herman-der-linken-1434312.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2

[2] http://archiv.labournet.de/diskussion/arbeit/realpolitik/zwang/clement.html

[3] http://www.zeit.de/online/2006/20/Schreiner/komplettansicht

[4] http://www.politische.unklarheiten.de/Politik/Demokratie/Lobbyismus/INSM/Sozial-ist-was-Arbeit-schafft

[5] http://zentralrat-der-asozialen.de/erongsrede/

[6] http://www.guardian.co.uk/media/greenslade/2012/aug/13/dailymail-twitter

[7] "Fit to work" - eugenische Konsequenz neoliberaler Austeritätspolitik
http://www.schattenblick.de/infopool/pannwitz/report/pprb0018.html

[8] http://www.marginalisierte.de/

[9] "Das Elend der Kritik am (Neo-)Faschismus"
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0176.html

1. April 2015


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