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BERICHT/027: Fluchträume und Grenzen - dOCUMENTA (13) kritisch reflektiert (SB)


Werner Seppmann zu den Untiefen des herrschenden Kunstbetriebs

Vortrag am 1. September 2012 in Kassel

Im Vortrag - Foto: © 2012 by Schattenblick

Werner Seppmann
Foto: © 2012 by Schattenblick

Die Marx-Engels-Stiftung [1] lud am 1. September zu einer Tagung nach Kassel ein. Dort wurde die diesjährige Documenta zum Anlaß genommen, den Charakter zeitgenössischer Kunst und Kunstproduktion auf den Prüfstand zu legen. Über den unmittelbaren Anlaß hinaus war Gegenstand der Untersuchung, wie sich das Verhältnis von Kunst und Gesellschaft heute darstellt. So wurde insbesondere die Frage aufgeworfen, welche ästhetischen Kriterien für die Bewertung von Kunst im allgemeinen und des ästhetischen Modernismus im besonderen zur Verfügung stehen wie auch welche ideologische Rolle "Moderne Kunst" in den spätimperialistischen Gesellschaften spielt. Konferenzort war der Saal des Café Buch-Oase [2]. Der Tagung ging am 31. August ein Besuch der Documenta mit Führung durch Klaus Stein voraus.

Werner Seppmann leistete in seinem Referat eine grundlegende Kritik an der Documenta und deren Rolle im Kontext der Formierung von Kultur und Gesellschaft. Thomas Metscher vertiefte in seinem Vortrag insbesondere die philosophischen Grundlagen des postmodernen Kulturschaffens, und Heike Friauf befaßte sich mit der Stellung der Frau im Kunstbetrieb. Thomas J. Richter hielt selbst keinen Vortrag, beteiligte sich aber engagiert an der Diskussion.

Wie Werner Seppmann an der dOCUMENTA (13) kritisierte, handle es sich um eine Megaschau des herrschenden Kunstbetriebs, die sich in der Präsentation ästhetisierender Belanglosigkeiten ergehe. In dem katastrophalen Erscheinungsbild hegemonialer Kunst spiegele sich der Zustand einer bürgerlich-kapitalistischen Welt, die, um sich selbst zu reproduzieren, Menschen und Kultur deformiert. Der Marxsche Satz, daß der Kapitalismus die Natur und den Arbeiter zerstört, müsse um die Aussage erweitert werden, daß er auch auf Kunst und Kultur zersetzend wirkt. Immer seltener spielten ernsthafte und herausfordernde Fragen der Werkinterpretation und ästhetischen Wirklichkeitsaneignung eine Rolle: Da vordergründige und effektheischende Vorgehensweisen dominierten, erübrige sich die Verwendung kunstkritischer Kategorien. Es werde nicht nur der Entsorgung einer intersubjektiv vermittelbaren Kunstauffassung das Wort geredet, sondern auch ein Menschenbild negiert, das als Gegenprinzip zur Welt der Entfremdung und Verdinglichung dienen könnte. Diese theoretische Abwertung des Menschen korrespondiere mit der Weigerung, sich überhaupt noch mit den gesellschaftlichen Verhältnissen und den von ihnen produzierten Entfremdungsformen jenseits symbolischer Beschwörungsrituale auseinanderzusetzen. [3]

Um zu illustrieren, daß die dOCUMENTA (13) Relevanzansprüche erhebe, ohne sie mit ästhetischen Mitteln zu realisieren, verwies der Referent beispielhaft auf in Goldbarrenform gepreßte Erde, die als Symbol für die Kritik am herrschenden Wirtschaftssystem gelten soll. Eine kritische Diskussion darüber finde jedoch in der Öffentlichkeit faktisch nicht statt. Der Kunstanspruch werde grundsätzlich zurückgenommen, wenn die künstlerische Leiterin Carolyn Christov-Bakargiev die Auffassung vorhält, daß die Grenze zwischen dem, was Kunst ist und was nicht Kunst ist, unwichtig geworden sei. Auf diese Weise werde alles und jedes legitimiert, der kritische Betrachter jedoch zur Sprachlosigkeit verurteilt. Zudem nimmt Christov-Bakargiev für sich einen erweiterten Kunstbegriff in Anspruch, in dem auch Tiere und ihre Rolle in der Welt von zentraler Bedeutung sind. Beim Versuch, diese sich erklärtermaßen jeglichem Anthropozentrismus verweigernde Denkweise in der Kasseler Ausstellung umzusetzen, argumentiere die Managerin ungeschützter als die Großmeister des Dekonstruktivismus und der Postmoderne, doch sage sie inhaltlich genau das gleiche: Es komme darauf an, den Menschen zu dezentrieren, da es letztlich keinen Unterschied zwischen Hunden und Frauen, Hunden und Männern gebe, wie explizit gesagt wurde. Hierzu zitierte der Vortragende einen einschlägigen Satz von Karl Marx im Kapital: "Arme Hunde, man will euch wie Menschen behandeln!"

Werner Seppmann - Foto: © 2012 by Schattenblick

Kulturkritisches fundiert vorgetragen
Foto: © 2012 by Schattenblick

Nach dieser einleitenden Fundamentalkritik an der dOCUMENTA (13) ging Seppmann auf die Geschichte des Modernismus ein, in der seit den späten 1890er Jahren Esoterik, Obskurantismus und ausdrückliche Parteinahme für den Irrationalismus immer eine große Rolle gespielt hätten. Foucault fordert, den Irrationalismus, den Wahnsinn wieder in sein Recht einzusetzen, weil der Welt der Vernunft und Rationalität anders nicht beizukommen wäre. In einer Zeit der kulturellen Selbstauflösung dieser spätimperialistischen Gesellschaft stelle die aktuelle Documenta eine neue Stufe kultureller Regression dar, und ihre Leiterin spiegele den vorherrschenden intellektuellen Trend wider, dem bis in linke Publikationen hinein kaum Widerstand entgegengesetzt werde.

Wie der Referent hervorhob, fielen fast alle Bewertungen der aktuellen Documenta positiv aus. Selbst die FAZ bringe allenfalls leicht ironisierend Einwände vor. Man wage es nicht, ernsthaft zu widersprechen, und lege sich in der Einschätzung nicht fest. Noch die absurdesten Inszenierungen würden von den ideologischen Wasserträgern geradezu frenetisch begrüßt. Diese fast ausnahmslos zustimmende Reaktion auf die Documenta unterstreiche das Ausmaß der vorherrschenden ideologischen Formierung. Seppmann zitierte zur Veranschaulichung einen Kulturkommentator des NDR: "Wer noch an Frieden glaubt, an Rettung und Erlösung, darf nicht nur auf Menschen setzen. Was als Esoterik begann, mündet möglicherweise in reale Politik. Denn wer weiß, wo wir nach hundert Tagen Documenta stehen werden. Die Welt, soviel ist sicher, wird eine andere sein." [4]

So wird der Entsorgung der ästhetischen Reflektion das Wort geredet und die intersubjektive Vermittlungsnotwendigkeit von Kunst diskreditiert. Man stellt ein humanistisches Menschenbild in Frage, das für die herrschenden ideologischen Apparate eine permanente Provokation sein muß, weil es das normative Gegenprinzip zu der Welt der Entfremdung und Verdinglichung darstellt. Als Alternative zu einer verständigen Auseinandersetzung mit den Menschen und ihren gesellschaftlichen Verhältnissen wird auf Bewußseinsverklärung im Modus der Kontemplativität gesetzt, die zu alternativen Wahrnehmungsweisen und Weltsichten führen soll. Gelingen soll das beispielsweise durch die vollständig leeren Säle im Erdgeschoß des Fridericianums, in denen durch Gebläse ein künstlicher Luftzug erzeugt wird.

Udo Kittelmann, Leiter der renommierten Nationalgalerie in Berlin, findet das genial, da sich zeige, daß die Kunst etwas bewegt. Vor dem Hintergrund seiner Absicht, dieses bedeutende Museum aufzulösen, mag dies als ein weiteres Beispiel gelten, wie Kunst als historisches Gedächtnis der Menschheit von führenden Repräsentanten des kultur- bürokratischen Komplexes entsorgt wird. Die Zeit schreibt über Ryan Gander, den Schöpfer der luftdurchströmten leeren Räume, er intendiere eine Kunst, "die für den Besucher nicht zu greifen ist und doch machtvoll an ihm saugt. Die ihn erfaßt und behutsam mit sich trägt. Es ist diese Art von Kunst, von der die Documenta träumt. Sie hofft auf die stille Kraft, die uns alle verwandeln möge." [5] Dabei gehöre der Autor dieser Zeilen, Hanno Rauterberg, wie Seppmann anmerkt, zu den wenigen Redakteuren, die bei anderer Gelegenheit durchaus sinnvolle Aussagen über zeitgenössische Kunst zustande gebracht haben. Rauterberg scheine sich jedoch im klaren darüber zu sein, was von einem Arbeiter im Weinberg spätimperialistischer Herrschaft erwartet wird, wenn er sich mit Kunst beschäftigt, und was der Preis für eine hochdotierte Stelle bei einer großbürgerlichen Zeitung ist: Man darf zwar den einen oder andern Aspekt des Modernismus kritisieren, hat ihm aber grundsätzlich Referenz zu erweisen.

Vor zwanzig Jahren schrieb die Bild-Zeitung noch ironisierend über die Documenta nach dem Motto: Das kann mein Kind auch! Inzwischen berichtet auch sie mit Enthusiasmus über die moderne Kunstszene und präsentiert die zugehörige Phraseologie in Reinkultur. Parallel zur Documenta findet im Frankfurter Liebighaus und damit einem der bedeutendsten Museen für Skulpturen eine Ausstellung von Jeff Koons statt. In einem wiederum leicht ironischen Beitrag der FAZ heißt es dazu, daß das finanzielle Rückgrat der Koonschen Kunst die russischen Raubkapitalisten seien. Heerscharen von Kunsthistorikern würden verpflichtet, sich Wertschätzungen aus den Fingern zu saugen. [6]

Kunstredakteure wie Kleinbürger ließen durch ihre unterwürfige Haltung erkennen, daß sie begriffen haben, daß der ästhetische Modernismus der zeitgenössische Gesslerhut ist, den man grüßen muß, wenn man keinen Zweifel an seiner ideologischen Zuverlässigkeit aufkommen lassen will, so der Referent. Daß die diesjährige Documenta fast ausschließlich affirmative Reaktionen provoziere, sei Ausdruck eines jahrzehntelangen ästhetischen und weltanschaulichen Formierungsprozesses. In diesem Zusammenhang sei auch die Documenta selbst ein ideologischer Formierungsprozeß, da sie eine Atmosphäre der Unübersichtlichkeit und daraus folgend der Beliebigkeit schaffe: Präsentationen ohne eigenen Geltungsanspruch wechselten mit einer Bedeutungskunst, die drängende Gegenwartsprobleme zwar thematisiert, aber gleichzeitig in der Form ihrer Thematisierung banalisiert. So seien die Videoaufnahmen von den arabischen Aufständen zwar dramatisch, doch zeigten oder bewiesen sie für sich genommen nichts. Wenngleich in der Karlsaue ein Flüchtlingslager zu sehen ist, erfährt man doch nichts Substantielles über die weltweite Vertreibung.

Seppmann stellte keineswegs in Abrede, daß man auch Ausstellungsgut mit ernsthaftem Hintergrund entdecken könne, doch bestätige auch hier die Ausnahme die Regel. In einem Umfeld gewollter Harmlosigkeit bekämen solche Exponate einen legitimatorischen Charakter und dienten dazu, der Ästhetik der Bedeutungslosigkeit Reputation zu verschaffen. Sie glichen noch nicht von der Fäulnis befallenen Kartoffeln in einem Sack ansonsten verfaulter Feldfrüchte - außen unbeschädigt, doch bereits von Mikrokulturen befallen.

Auch in ihrer 13. Auflage spiele die Documenta ihre tradierte Rolle der Entsorgung ernsthafter und gehaltvoller Kunst. Sie arbeite einem profilierten Weltverständnis entgegen, stelle die Existenz eines objektivierbaren menschlichen Wertungsvermögens grundsätzlich in Frage, verbaue die Entwicklung neuer politischer und ethisch-moralischer Prinzipien und diskreditiere die Frage nach Maßstäben für den gesellschaftlichen Fortschritt wie auch Prinzipien menschlicher Selbstverwirklichung. So wurde beispielsweise ein Hügel aufgehäuft, dem man nicht nur ökologische Bedeutung, sondern sogar herrschaftskritische Intentionen attestiert, weil er den Blick auf die Zentralachse in der Karlsaue verbaut.

Spätestens seit ihrer zweiten Auflage spielte die Documenta eine maßgebliche Rolle bei der Durchsetzung der abstrakten Avantgarde hauptsächlich US-amerikanischer Provenienz, führte Seppmann weiter aus. Die Abstrakten wurden als einzig würdige Vertreter einer freien kapitalistischen Gesellschaft angesehen und gegen die östliche Staatskunst positioniert. Jackson Pollock galt als Ausdruck ungebändigter Freiheit wie sie dem Menschen der westlichen Wertegemeinschaft zukommt. So wurde im Kontext der Ost-West-Konfrontation den abstrakten Äußerungsformen eine absolute Monopolstellung eingeräumt, die aus ihrer Tradition nicht zu begründen war. Die Documenta folgte einem Organisationsprinzip, das vom New Yorker Museum of Modern Art (MoMA) in die Welt gesetzt wurde und die gesamte Kunstgeschichte als Vorbereitung des abstrakten Expressionismus ausdeutete.

Bedeutsam ist angesichts der Definitionsmacht der Documenta insbesondere, was traditionell ausgegrenzt wird. Sie ist zu keiner Zeit ihrem selbstgesetzten Anspruch gerecht geworden, einen repräsentativen Überblick über das weltweite Kunstschaffen zu bieten. Nie wurde der wohl bedeutendste Bildhauer der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Alfred Hrdlicka, gezeigt. Auch der im letzten Jahr verstorbene große bürgerliche Portraitist Lucian Freud fehlt, um nur zwei herausragende Beispiele zu nennen. Nach offizieller Lesart hat die Documenta die von den Nationalsozialisten verfemte Kunst der Öffentlichkeit wieder zugänglich gemacht.

Dieser Gründungsmythos wirkt bis heute nach, erweist sich jedoch bei näherer Überprüfung als frei erfunden. Statt Erinnerungsarbeit zu leisten hat die Documenta sowohl die verfemten Ausdrucksformen entsorgt als auch die Künstler, die sich ihrer bedienten, so die kritische Intervention Seppmanns. Schon in den frühen Jahren wurden die politische Kunst der Expressionisten, die Neue Sachlichkeit und alle Künstler mit sozialistischem Anspruch ausgegrenzt. Der Documenta als unwürdig galten mit ganz wenigen Ausnahmen wie Karl Hofer, dessen Kriegsbilder dem Zeitgeist entsprachen, all jene Künstler, die zuvor als "entartete Kunst" verfemt worden waren. Hofer ließ sich jedoch nicht beirren und kritisierte die Wirkung einer "inneren SA" im Kunstbetrieb der Bundesrepublik. [7] Einer der beiden Chefideologen der damaligen Kunstformierung formulierte das Organisationsprinzip der Documenta. So schrieb Werner Haftmann im Katalog der Documenta II: "In Kassel wird nur "Qualität im obersten Rang" präsentiert. Und deshalb müsse die Kunst der Liebermann, der Corinth, der Grosz, der Grundig, der Guttuso, der Kollwitz und der Barlach unberücksichtigt bleiben.

Diskussionsbeitrag aus dem Publikum - Foto: © 2012 by Schattenblick

Klaus Stein
Foto: © 2012 by Schattenblick

An diesen erhellenden Vortrag Werner Seppmanns schloß sich eine erste kurze Frage- und Diskussionsrunde an. Während seine Grundsatzkritik am Kunstbetrieb auf viel Zustimmung traf, betonte der Pädagoge Klaus Stein, der einige der Konferenzteilnehmer am Vortag durch die dOCUMENTA (13) begleitet hatte, die Widersprüche im Vorhaben der Documenta und plädierte dafür, Widerständiges aufzuspüren. In seiner Erwiderung betonte Seppmann demgegenüber noch einmal, daß man vor allem fragen müsse, was ausgegrenzt wird. Bis zu 700.000 Besucher der Documenta würden in die Orientierungslosigkeit geschickt. Man müsse die Ausstellung an ihrem Anspruch messen, die zeitgenössische Kunst zu repräsentieren. Er halte positive Ausnahmen für Manipulationselemente, die den Trend lediglich kaschierten: Das wenige Vorwärtsweisende gehe in diesem Sumpf unter.

Fußnoten:
[1] http://www.marx-engels-stiftung.de/home.html

[2] Die Buch-Oase, gelegen in Kassels Vorderen Westen, ist Café und Kulturprojekt zugleich. Man kann dort in entspannter Atmosphäre ein Buch lesen, kostenlos mit dem Laptop im Internet surfen oder während eines geselligen Gespräches biologisch angebauten und fair gehandelten Kaffee genießen. Zudem bietet das Café die Möglichkeit, ausgestellte Kunst zu erleben, Veranstaltungen zu besuchen und selber Veranstaltungen in den Räumlichkeiten zu organisieren.

http://www.cafebuchoase.de wird betrieben von:
Café Buch-Oase
Dana Al Najem
Germaniastr. 14
34119 Kassel

[3] http://www.jungewelt.de/2012/08-10/014.php

[4] http://www.ndr.de/kultur/kunst_und_ausstellungen/documenta115.html

[5] http://www.zeit.de/2012/24/Kunst-Documenta

[6] http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kunst/jeff-koons-in-frankfurt-die-braut-haut-ins-auge-11791665.html

[7] http://www.karl-hofer.de/hintergruende.htm

Schriftzug über Fenster des Kulturprojekts - Foto: © 2012 by Schattenblick

Veranstaltungsort Café Buch-Oase
Foto: © 2012 by Schattenblick

10. September 2012