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BERICHT/023: Gefesselte Kunst - Kulturadministration in Zeiten der Globalisierung (SB)


Cultural Governance - Hegemonialstreben auf leisen Sohlen

Plenarsitzung auf der Konferenz radius of art am 9. Februar 2012

Podium - Foto: © 2012 by Schattenblick

Suraiya Begum, Ole Reitov, Christine M. Merkel
Foto: © 2012 by Schattenblick

Kunst und Kultur mit politischen und staatlichen Mitteln zu administrieren scheint vor allem in Sicht auf die Kommodifizierung und Globalisierung kultureller Produktivität notwendig zu sein. Die Vereinnahmung nicht nur der Ergebnisse künstlerischen Schaffens, sondern auch Herkunft und Identität repräsentierender Verhaltenweisen und Sprachformen durch eine globale Kulturindustrie hat zu einer fortschreitenden Nivellierung kultureller Entwicklungen geführt, die sich prototypisch in der Dominanz popkultureller Ikonen US-amerikanischer Genese in jedem Winkel des Planeten abbildet. Diese Megastars entspringen einer virtuellen Inszenierung transnationaler Kulturalität, die zwar aus Sicht ihrer Adressaten mit den USA identifiziert werden mag, die in der dortigen Bevölkerung verankerte Kultur jedoch nur sehr bedingt abbildet. Was Film-, Musik- und Werbeindustrie auf den globalen Markt werfen, ist von vornherein für die Konsumtion durch ein internationales Publikum vorgesehen und produziert daher eher einen kulturindustriellen Mythos namens Amerika, als daß es die sozialen Widersprüche und Konflikte dieser Gesellschaft darstellte oder jenseits stereotyper Klischees einen Eindruck von der Vielfalt lokaler und regionaler Kultur dieses Landes vermittelte.

Wo Kultur als Instrument der Kapitalverwertung am Reißbrett konzipiert und mit informationstechnischen Mitteln vervielfältigt wird, gibt das betriebswirtschaftliche Primat der Kosteneffizienz als Kriterien ihrer Vermarktung leichte Übersetzbarkeit in verschiedene Sprach- und Kulturräume, standardisierte Plots für crossmediale Mehrfachverwertung und weitreichenden Schutz vor Produktpiraterie vor. Form und Inhalt künstlerischen Schaffens sind damit Einflüssen ausgesetzt, die mit dem Anspruch auf originäre Kunst kaum mehr in Übereinstimmung zu bringen sind. Es kann daher nicht erstaunen, daß die Debatte über die gesellschaftlichen Bedingungen kultureller Produktivität vor allem die Frage betrifft, wie die finanzielle Bemittelung der Künstler und Institutionen politisch durchzusetzen und zu administrieren ist.

Publikum und Podium - Foto: © 2012 by Schattenblick

Gutbesuchte und lebendig moderierte Veranstaltung
Foto: © 2012 by Schattenblick

Kulturelle Diversität im Bann globaler Konkurrenzwirtschaft

So auch auf der Konferenz radius of art, die den Zusammenhang zwischen kreativer Subjektivität und ihrer gesellschaftlichen Verallgemeinerung programmatisch zu ergründen versuchte. "Good life in times of cholera and other turbulences - What role for cultural governance?" - was am zweiten Tag der Konferenz unter diesem Titel in Form einer Plenarsitzung stattfand, konnte die Frage nach dem guten Leben den Bedingungen des globalen Kapitalismus zwar nicht beantworten, legte mit der Anspielung auf den berühmten Roman "Love in the Time of Cholera" jedoch nahe, daß die von Gabriel García Márquez geschilderten Probleme emotionaler Bindung durch ihre warenförmige Zurichtung nicht eben leichter zu handhaben sind. Schon die anfangs vom Moderator Ole Reitov, Programm Manager der ARTSFEX Initiative in Dänemark, getroffene Feststellung, daß alle Beteiligten miteinander auf englisch kommunizieren, obwohl die geringere Zahl unter ihnen mit dieser Sprache aufgewachsen ist, ließ erkennen, daß der Anspruch auf eine Entwicklungspolitik, die sich der Kultur als strategisches Mittel bedient, selbst vor dem Problem steht, einen vereinheitlichten Ansatz supranationaler Governance mit dem autochthonen Wildwuchs kultureller Vielfalt in Übereinstimmung zu bringen.

Kulturelle Diversität zu erhalten und fördern fällt unter die Zuständigkeit der United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization (UNESCO), in deren Rahmen die dazu erforderlichen vertraglichen Grundlagen geschaffen wurden. Um diesen Prozeß und die Motivation der Akteure in den kulturindustriell hochentwickelten Metropolengesellschaften Westeuropas und Nordamerikas zu verstehen, lohnt sich ein Blick auf die moderne Entwicklung großindustrieller Strukturen in diesem Bereich. So ist der Konflikt zwischen kultureller Identität und den expansiven Strategien international operierender Filmkonzerne von signifikanter Bedeutung für die Forderung nach öffentlicher Regulation der Kulturwirtschaft, die in der Entstehung der UNESCO 1945 ihren institutionellen Ausdruck fand.

Als der Kinofilm Anfang des 20. Jahrhunderts zu einem wichtigen Element nationaler Kulturproduktion aufwuchs, zeigte sich bald, wie sehr seine künstlerische Gestaltung in Abhängigkeit von seiner technischen und finanziellen Ermöglichung steht. Zwar gibt es heutzutage aufgrund kostengünstiger Produktionsmittel stets Nischen, in denen sich unabhängige Filmemacher die technischen Möglichkeiten verschaffen, ihre eigenen cineastischen Ideen zu verwirklichen, doch bleibt der überwiegende Teil der Filmproduktion in den Händen der großen Produktionsstätten. Die Industrialisierung einer vitalen Form künstlerischen Ausdrucks rief eine Kulturkritik auf den Plan, deren radikalste Vertreter dem Film aufgrund seiner technischen Reproduzierbarkeit jeden eigenständigen kulturellen Wert absprachen [1]. Schließlich resultierte die Abhängigkeit des Mediums von marktwirtschaftlichen Zwängen in Verbindung mit der sich ausbreitenden Globalisierung in einer Schlacht um die Vorherrschaft in den Kinosälen, hauptsächlich ausgetragen zwischen Hollywood und dem Rest der Welt.

Während sich die europäische Filmindustrie schwer damit tat, unter dem zerstörerischen Einfluß des Ersten Weltkrieges Fuß zu fassen, erlebten die großen amerikanischen Studios eine erste Blütezeit. Der in diesen Jahren erwirtschaftete Kapital- und Erfahrungsvorteil, in Verbindung mit der Abhängigkeit der europäischen Alliierten von der Finanzmacht der USA, begünstigte die monolithische Stellung der US-Filmindustrie auf diesem Markt um ein weiteres. Dementsprechend versuchten europäische Regierungen, mit Hilfe von Handelshemmnissen und Quotenregelungen die Dominanz Hollywoods zu kontern. Allen voran sträubte sich Frankreich gegen die Amerikanisierung seines Kulturmarktes. 1946 jedoch unterzeichnete die Regierung in Paris im Rahmen einer Neuverhandlung ihrer Schulden gegenüber den Vereinigten Staaten ein Handelsabkommen, das die Importquoten für Filme regelte. In Folge dessen mußten die französischen Filmproduzenten massiv zurückstecken. Wurde zuvor noch 50 Prozent der Laufzeit von französischen Filmen gedeckt, wurde dieser Anteil auf 31 Prozent gesenkt.

Der britischen Filmindustrie erging es nicht besser. Nachdem man in London 1947 beschlossen hatte, ausländische Filme mit einer 75prozentigen Steuer zu belegen, boykottierten die amerikanischen Studios schlichtweg den britischen Markt, was letztendlich dazu führte, daß der Anteil der britischen Eigenproduktionen in den Kinos des Landes im Rahmen eines Abkommens von 45 auf 30 Prozent gesenkt wurde.

Mit der Gründung der UNESCO wurde dem Warencharakter cineastischer Unterhaltung auf eine Weise Rechnung getragen, bei der es vor allem um die Aushandlung des Verhältnisses zwischen Liberalisierung des globalen Kulturmarktes und dem handelspolitischen Protektionismus wie der wirtschaftspolitischen Subventionierung nationaler Industrien ging. Um die eigenen wirtschaftlichen Interessen gegen den europäischen Widerstand durchzusetzen, verklagte die Motion Pictures Export Association of America die Europäische Union beim Vorläufer der WTO, GATT, wegen Ungleichbehandlung ausländischer Erzeugnisse. 1993 rückten die Handelsregeln für audiovisuelle Erzeugnisse in den Mittelpunkt der Verhandlungen. Die EU entwickelte zu diesem Zeitpunkt das Konzept der "Kulturellen Ausnahme", mit der die Totalität des Freihandelsprimats der Welthandelsorganisation zugunsten einer Beschränkung der Einfuhr kultureller Güter, der Subventionierung der eigenen Filmindustrie und der Quotierung bestimmter Radioprogramme relativiert wurde.

1999 taufte man die "Kulturelle Ausnahme" in "Kulturelle Vielfalt" um, was eine Aufweichung des rechtsförmigen Charakters der gemeinten Ausnahmeregelungen signalisierte. Auf der 31. UNESCO-Generalkonferenz im Oktober 2001 verabschiedete man die "Allgemeine Erklärung zur kulturellen Vielfalt", die 2005 durch das "Übereinkommen zum Schutz der Vielfalt kultureller Inhalte und künstlerischer Ausdrucksformen" ergänzt wurde. Auf dem Weg zu dieser Konvention, die das Recht der Staaten auf eine eigenständige Kulturpolitik gegen die Forderung, alle Handelshemmnisse für Kulturgüter einzuebnen, sichern und den Rahmen für verstärkte internationale Kooperation auf diesem Gebiet setzen sollte, wurde 2004 in einer Resolution der 64. Hauptversammlung der Deutschen UNESCO-Kommission erklärt:

"Ein Ziel des Übereinkommens ist es, die im Rahmen der Verhandlungen in der Welthandelsorganisation (WTO) über Liberalisierung des Handels mit Gütern und Dienstleistungen in den letzten Jahren entstandenen Gräben zu überwinden und eine pragmatische Perspektive der arbeitsteiligen Zusammenarbeit zwischen der WTO und der UNESCO zu entwickeln." [2]

So war die Position der an diesem Prozeß beteiligten Regierungen in Ländern mit hochproduktiven Kulturindustrien maßgeblich von dem Interesse bestimmt, der Liberalisierung des Welthandels keine allzugroßen Hürden in den Weg zu legen, um das ökonomische Gesamtprodukt nicht zu schwächen. Der Erhalt kultureller Vielfalt findet vor allem dann Zuspruch, wenn nationale Unternehmen davon profitieren, während ansonsten kein Einwand gegen die Globalisierung kultureller Belange erhoben wird. Die "duale" oder "Doppelnatur" der Kulturgüter, von der unter den damit befaßten Regierungsbeamten und UN-Funktionären die Rede ist, unterstellt ein Verhältnis von Kultur und Ware, das im wesentlichen auf die Legitimation des Warencharakters durch den vorgeblich auch kulturell zu bestimmenden Wert von Kulturgütern hinausläuft. Wenn nationale Märkte miteinander konkurrieren, und darum geht es im Widerstreit zwischen Liberalisierung und Protektionismus in erster Linie, dann droht der nicht als Tauschwert zu bestimmende Charakter eines Kunstwerkes auf der Strecke des Interesses an seiner Verwertung zu bleiben.

Daß sich darin, wie die globale Dominanz der US-amerikanischen Filmindustrie zeigt, auch ein Interessenkonflikt zwischen der EU und den USA spiegelt, ist für die Frage der Autonomie künstlerischen Schaffens von nachrangiger Bedeutung. Zwar gehören die USA zu denjenigen Staaten, die die Konvention nicht ratifiziert haben, doch entspricht dies der Priorität von Staaten, deren Handlungsfähigkeit von der im eigenen Land angesiedelten Kapitalmacht abhängt. So fällt es kaum mehr auf, wenn Bundespräsident Gauck am 17. Juni vollmundig den Freiheitswillen der Menschen in der DDR feiert, weil sie sich 1953 gegen sowjetische Panzer gestellt hatten, während die Bundesregierung zur gleichen Zeit plant, zugunsten der eigenen Rüstungsindustrie und eigener Hegemonialinteressen Panzer nach Saudi-Arabien zu exportieren, mit denen Aufstände gegen arabischer Despoten niedergeschlagen werden.

So steht und fällt der Schutz kultureller Vielfalt mit den Marktpositionen der an dieser Diskussion beteiligten Regierungen, daran ändert auch die Einbeziehung angeblicher Nichtregierungsorganisationen oder anderer gesellschaftlicher Akteure in diesen Prozeß kaum etwas. Wo Kunst zur Ware wird, bestimmen ästhetische Kriterien und affirmative Sinnstiftung ihren künstlerischen Wert, während eine kapitalismuskritische und sozial widerständige Wirkung eher unerwünscht ist. Es liegt auf der Hand, daß eine unter den Auspizien der Cultural Governance erfolgende Kulturförderung letztlich auf mehr oder weniger unsichtbare Grenzen stoßen wird, wenn der Anspruch auf Vielfalt auch radikale Entwürfe von systemantagonistischer Stoßrichtung umfaßt.

Auch der Schutz sprachlicher Vielfalt erschöpft sich an den betriebswirtschaftlichen Bedingungen der globalen Arbeitsteilung und Wissensproduktion. Selbst große und in der westlichen Kulturgeschichte seit Jahrhunderten verankerte Sprachgemeinschaften romanischen und germanischen Ursprungs haben angesichts der Dominanz der Lingua Franca der kapitalistischen Globalisierung das Nachsehen. Ein längst in vielfältige geographische und anwendungsorientierte Varietäten zerfallenes Englisch beherrscht das Feld nicht nur in Wirtschaft, Politik und Kultur, sondern auch in den Wissenschaften, wo es jedem zukünftigen Akademiker abnötigt, am besten zweisprachig aufzuwachsen, um sich auf diesem Feld behaupten zu können. Der erhebliche Einfluß, den die individuelle Spracherziehung auf die kognitive und kulturelle Subjektivität eines Menschen ausübt, dokumentiert die Grenzen einer Übersetzbarkeit von Sprache, die ihre funktional sichersten Ergebnisse nicht umsonst auf dem Gebiet normativ durchorganisierter Jargons technischer und naturwissenschaftlicher Disziplinen erzielt.

Im Nord-Süd-Verhältnis zeigt sich der Verfall kultureller Autonomie unter dem Ansturm marktwirtschaftlicher Verwertungsimperative besonders deutlich. Ole Reitov schilderte dies anhand eines Falls, bei dem die Weltbank afrikanischen Staaten eine Option für günstige Kreditfinanzierungen eröffnete, sofern diese in die Kulturindustrie investiert würden. Zu diesem Zeitpunkt bestand eine große Nachfrage nach Weltmusik auf dem europäischen Markt, der auf diese Weise bedient werden sollte. Afrikanische Musik nur deshalb zu fördern, weil sie ein einzigartiges Kulturgut ist, paßt nicht ins Konzept einer marktkonform konditionierten Diversitätsstrategie, weil sie ansonsten kaum politische Unterstützung erhält. Was dies an den kulturellen Traditionen der Länder des Südens anrichtet, läßt sich unter anderem anhand ihrer Zurichtung auf die Ansprüche einer Tourismusindustrie studieren, deren Kunden die entseelte Buntheit einer Folklore vorgegaukelt wird, die unter die Räder einer touristischen Mobilität auf der Suche nach letzten Beständen noch nicht marktförmig aufbereiteter Lokalkulturen geraten ist.

Die an der Debatte beteiligte Kulturministerin Bangladeshs, Suraiya Begum, warf ein positives Licht auf das UNESCO-Abkommen, indem sie dessen Einfluß auf den Erhalt der Sprachvielfalt ihres Landes schilderte. 1952 sei es infolge der Teilung des ehemaligen britischen Kolonialreiches Indien im Konflikt mit Pakistan zum Wechsel der Landessprache von Bengali in Urdu gekommen. Die Kämpfe darum, die Muttersprache der Bengalen behalten zu können, nannte Begum als Hauptgrund für Bangladesh, das Abkommen zu ratifizieren. Zudem sei der Regierung an den etwa 50 kleinen ethnischen Gruppen Bangladeshs gelegen, die dort seit Jahrtausenden lebten und sich wesentlich über ihre jeweilige Sprache definierten. Der am Schluß der Plenarsitzung gezeigte Werbefilm über die touristischen Angebote Bangladeshs bestätigte jedoch, daß kulturelle Vielfalt kommerziell verwertungsfähig gemacht werden muß, um bestehen zu können, mithin nicht in einem ausschließenden Verhältnis zu kolonialistischen Imperativen stehen kann.

Projektion des Trailers - Foto: © 2012 by Schattenblick

Christine M. Merkel präsentiert "Kinshasa Symphony"
Foto: © 2012 by Schattenblick

Auf den Spuren der Eroberer - Transkultureller Kolonialismus

Im Mittelpunkt der Plenarsitzung stand ein kurzer Trailer des Films "Kinshasa Symphony", der im Jahr 2011 auf der Berlinale gezeigt wurde. Die mehrfach ausgezeichnete Dokumentation hat eine Gruppe Musiker in der Demokratischen Republik Kongo zum Gegenstand, die dort das einzige Symphonieorchester Zentralafrikas gründeten. Christine M. Merkel, Leiterin des Fachbereiches Kultur der deutschen UNESCO-Kommission, präsentierte den Film als gelungenes Beispiel für ein Kulturmanagement zwischen Politik und Zivilgesellschaft, das unter anderem auch ein Festival wie das der gleichentags eröffneten Berlinale ermögliche, wo 2010 die Premiere von "Kinshasa Symphony" stattfand.

Zweifellos steckt erheblicher Aufwand hinter der Ausrichtung eines solchen Filmfestivals, doch die von Merkel als "unsichtbar", sprich irgendwie nicht genügend anerkannt dargestellte Arbeit der Kulturpolitiker und -funktionäre erfolgt nicht aus reiner Kunstseligkeit, sondern ist integraler Bestandteil eines kulturindustriellen Verwertungsstrebens, dem ein von massiver Medienaufmerksamkeit begleitetes Event wie das der Berlinale zuarbeitet. Zudem verbleibt die institutionelle und organisatorische Seite des Kunst- und Kulturbetriebs auch deshalb im Hintergrund, weil er denjenigen Teil gesellschaftlicher Organisation betrifft, über dessen ökonomische Zwangslogik gerade mit dem Mittel des Schönen und Guten hinweggetäuscht werden soll. So schmücken sich Politiker gerne mit kulturellen Meriten, weil dies eine Entscheidungssouveränität suggeriert, die ihnen so weitgehend abhandengekommen ist, daß ihr öffentlich alimentierter Existenzzweck in Frage gestellt werden müßte.

Die von der UNESCO-Funktionärin am Beispiel der Geschäftstüchtigkeit des Komponisten Ludwig van Beethoven, dessen neunte Symphonie in dem Dokumentarfilm zur Aufführung gelangt, dargestellte Relevanz der UNESCO-Konvention für eine kulturelle Produktivität, die nicht nur Vielfalt, sondern auch Kommerz fördert, bestätigt den fremdbestimmten Charakter der unter dem Dispositiv "kulturelle Diversität" subsumierten künstlerischen Arbeit. Sich eben damit in der Kunst auseinanderzusetzen und mit diesem Mittel gegen die eigene Verkäuflichkeit zu revoltieren fällt desto schwerer, je mehr der Eindruck erweckt wird, eine von Kapitalinteressen bestimmte Politik stehe in einem antagonistischen Verhältnis zu diesen.

Allerdings läßt sich Merkels Angebot, sich beim Kunstgenuß auch für die "versteckte Geschichte" hinter den Ergebnissen künstlerischer Arbeit zu interessieren, gerade anhand des Beispiels "Kinshasa Symphony" ganz anders denn als Geschichte der erfolgreichen Verschmelzung von Kunst und Ökonomie schildern. So intervenierte Onur Suzan Kömürcü Nobrega vom Goldsmiths College an der University of London und auf der Konferenz anwesend als unabhängige Beobachterin des Themenfensters Cultural policy strategies and funding structures, indem sie die Frage aufwarf, ob es sich an dieser Stelle tatsächlich um kulturelle Vielfalt handle oder nicht eher um ein Paradebeispiel für kulturellen Kolonialismus: "Ich habe Kinshasa Symphony selbst nicht gesehen und nach dem Trailer weiß ich nicht, ob ich ihn tatsächlich sehen würde. Kinshasa war eine von Belgien kolonialisierte Stadt, Beethoven nach Kinshasa zu bringen ist für mich etwas problematisch, weil es diesen recht eindeutigen Beigeschmack hat, die westliche Zivilisation nach Kinshasa zu bringen. Ich weiß nicht, in wie weit das in dem Film reflektiert wurde, aber mein erster Eindruck ist, was ist da los?"

Eine Zuhörerin versuchte zu vermitteln, indem sie schilderte, was es mit den Musikern in dem Film auf sich hat. Der Gründer des Orchesters sei einst Pilot gewesen, bis er seinen Arbeitsplatz verlor und beschloß Musiker zu werden, mit dem einzigen Wunsch, Beethoven spielen zu können. So sammelte er ein komplettes Orchester von 80 begeisterten Musikern um sich, die den Aufbau eines Symphonieorchesters praktisch ohne weitere Unterstützung vollbracht hätten. Sicherlich ist den Musikern in dem Film ihr Enthusiasmus nicht zur Last zu legen, doch ist Kritik an der positiven Darstellung dieser Entwicklung in Anbetracht der blutigen Kolonialgeschichte des Kongo [3] allemal indiziert. Wenn die Mitglieder des Orchesters französisch sprechen, sich in europäische Abendgarderobe werfen und einen deutschen Komponisten spielen, ohne daß der Massenmord der Kolonisatoren an der Bevölkerung des Kongo ausführlich Erwähnung findet, dann wäre das vergleichbar damit, ein Werk des erklärten Antisemiten Richard Wagner in Israel aufzuführen und den Holocaust an den europäischen Juden dabei zu verschweigen.

Allein zu feiern, daß afrikanische Musiker in der Lage sind, eigenständig ein Symphonieorchester aufzubauen, läßt auf mangelnde kulturelle Sensibilität schließen. Letztendlich steckt in der positiven Bewertung, daß man in Afrika etwas leisten kann, was in Europa selbstverständlich ist, die negative Implikation einer kulturellen Rückständigkeit, für die es allein in Anbetracht des großen Einflusses afrikanischer Musik auf die Entwicklung moderner Musikformen nicht den geringsten Anlaß gibt. Bedenkt man zudem, daß die Instrumentalfassung des Hauptthemas "An die Freude" aus dem letzten Satz der neunten Sinfonie die Hymne der Europäischen Union und damit eines der offiziellen Symbole der EU ist, dann feiert man in Kinshasha mit diesem Musikstück ausgerechnet denjenigen Staatenbund, dem die Afrika ausplündernden Kolonialstaaten angehören. Afrika soll an einer Kultur genesen, die auf dem Raub an seinen Menschen und Ressourcen errichtet wurde und deren heutige Sachwalter es durch eine die eigene Wertschöpfung sichernde Handels-, Ordnungs-, Kriegs- und Finanzpolitik am Boden halten.

Daß der Nationalhymne des weißen Kolonialstaates par excellence, Rhodesien, ebenfalls diese Melodie zugrundelag, sei hier nur als aberwitzige Pointe erwähnt. In jedem Fall läßt sich anhand dieses Beispiels für einen längs des neokolonialistischen Nord-Süd-Gefälles verlaufenden Kulturtransfers erahnen, wie problematisch ein Ansatz von kultureller Diversität ist, von dem es in der Rezension des Spiegel heißt: "Der Dokumentarfilm "Kinshasa Symphony" erzählt vom einzigen Symphonieorchester Zentralafrikas und davon, wie Beethoven und Händel das Elend erträglicher machen." [4] Zweifellos spricht nichts gegen afrikanische Musiker, die sich aus künstlerischem Interesse europäischer Hochkultur widmen. Sollten sie ihr Überleben dadurch sichern, um so besser, doch die Beschwichtigung der Hungernden durch ästhetischen Genuß dokumentiert eben jenen kolonialistischen Blick, der in der Adaption der bourgeoisen Symbole dieser Kulturproduktion anklingt.

"Leibhaftige UNESCO-Dichter schießen ins Kraut, die etwa dafür sich begeistern, daß auch inmitten der unmenschlichsten Situationen das Menschliche blühe und durch eine Humanität, die keine controversial issues anpackt, internationale Leitbilder von Verwaltungsressource mit ihrem Herzblut auspinseln. (...) Mir schwant, daß neben der östlichen Spruchbanddenkerei auch bereits eine westliche UNESCO-Philosophie heranreift, und ich wäre nicht erstaunt, wenn sie auf Tagungen und Kongressen als fördernswert approbiert würde und wenn man Projekte zur Ermittlung allgemeinverbindlicher wertbeständiger Werte finanzierte."

Was Theodor W. Adorno in einem vom SWF aufgezeichneten Vortrag am 26. Juli 1959 in der Kunsthalle Baden-Baden zum Widersprüche harmonisierenden Charakter des globalen Kulturmanagements prognostizierte, war also schon damals in seinen Grundzügen erkennbar. Der Bauch der Hungernden wird von einer Ode an die Freude nicht voll, und die Betroffenen haben von der Anteilnahme der Satten nichts außer dem Eindruck, daß die europäischen Eliten ihr Leid auch noch zur eigenen Legitimation instrumentalisieren. Als IWF-Chefin Christine Lagarde, an die Adresse notleidender Griechen gerichtet, dieser Tage erklärte, sie mache sich mehr Sorgen um die Kinder in einem kleinen Dorf in Niger, die sich zu dritt einen Stuhl teilten und vergeblich nach Bildung strebten, da verglich sie das schlimmere Elend mit dem weniger schlimmen, um sich von beidem freizuhalten. Eine eurozentrische Kulturpolitik zu feiern, die etwa auf dem Feld der Musik erheblichen Nachholbedarf bei der Aufarbeitung kolonialistischer Strukturen hat, wenn man die weltweite Dominanz einer weißen Popkultur bedenkt, deren musikalische Formen zu einem Gutteil auf den Handel mit afrikanischen Sklaven zurückgehen, ist bestenfalls ahistorisch und schlimmstenfalls verächtlich.

Zuhörer diskutieren mit - Foto: © 2012 by Schattenblick

Rege Debatte im Plenum
Foto: © 2012 by Schattenblick

Autonomie der Kunst im Horizont des Machbaren

In ihrem Report "Reflections on the Geometry of Global Symbolic Power" [5] zur radius of art-Konferenz hat Onur Suzan Kömürcü Nobrega den Begriff Radius auf das Konzept von Zentrum und Peripherie angewendet, um die Instrumentalisierung der Künste als Mittel zur "Akkumulation und Darstellung symbolischer Macht" herauszustellen. Dabei gelangt sie - analog zu der ökonomische Ungleichheit zwischen Zentrum und Peripherie untersuchenden Weltsystemtheorie Immanuel Wallersteins - zu der Schlußfolgerung, daß die historische Abhängigkeit, in der Künstler gegenüber den politischen und religiösen Eliten ihres Landes standen, und die Praxis von Regierungen, "politische und kulturelle Macht gegenüber ihren Bürgern und anderen Nationen durch das Spektakel der Künste zu demonstrieren", auf dem Feld auswärtiger Kulturpolitik in der Reproduktion eines Systems der neokolonialistischen Patronage und des eurozentrischen Konservativismus resultiere. Dies habe sich auch in einigen Diskussionen während der Konferenz abgebildet, namentlich in der Plenarsitzung "Good Life in Times of Colera and Other Turbulences". Dort sei der Eindruck entstanden, daß "die überkommenen Unterscheidungen zwischen der europäischen Hoch- und Avantgardekunst des sogenannten 'Zentrums' und der ' kulturell diversen', 'traditionellen' oder 'nativen' Kunst in der sogenannten 'Peripherie'" zementiert würden.

Es mangelt also nicht an Begriffen und Konzepten, das Verhältnis zwischen künstlerischer Subjektivität und dem Anspruch auf eine zweifellos gebrochene - und deshalb womöglich erst recht zu erkämpfende - Autonomie einerseits und die Anforderungen einer von kapitalistischen und staatshegemonialen Imperativen dominierten Kulturproduktion andererseits zu bestimmen. Stellt man demgegenüber die Frage nach der Bedeutung von Cultural Governance, so hat man es von vornherein mit einem Verfügungsanspruch zu tun, der, ob privatwirtschaftlich oder staatlich artikuliert, einer ihrem Anspruch gerecht werdenden Autonomie des Künstlers zuwiderläuft. Die Verwirklichung schöpferischer Authentizität stößt über alle Einschränkung durch den gesellschaftlichen Charakter der Vermittlungsform Kunst hinaus auf bürokratische und ökonomische Hindernisse, von denen sich zu emanzipieren erfordert, diese selbst zum Gegenstand künstlerischer Konfrontation zu machen.

Kulturelle Diversität, so sinnvoll dieser Anspruch in Anbetracht der Totalität ökonomischer Verwertung erscheint, erweist sich dementsprechend als Werkzeug institutioneller und administrativer Verfügungsgewalt, das den widersprüchlichen Charakter kapitalistischer Vergesellschaftung moderieren soll. Analog zum Begriff der Nachhaltigkeit, der im Zweifelsfall nichts anderes meint als die Fortschreibung herrschender Verhältnisse unter angeblich umweltverträglichen Bedingungen, erhebt kulturelle Diversität zum Ziel, was in der Vergleichbarkeit warenförmig gemachter Subjektivität seinen wortwörtlich zu verstehenden Niederschlag findet. Menschen- und Freiheitsrechte als Voraussetzung für die Verwirklichung kultureller Diversität zu postulieren erscheint ethisch wertvoll, macht jedoch vergessen, daß der Verlust an kultureller Autonomie von Ausbeutung und Unterdrückung nicht zu trennen ist. Schlimmstenfalls erwächst aus dieser Bedingung ein weiterer Anlaß, Krieg im Namen von Rechten zu führen, an deren Mißachtung die humanitären Interventionisten in der Regel selbst beteiligt sind. Ginge es tatsächlich um die Würdigung individueller schöpferischer Arbeit, dann näherte man sich ihr mit einem Respekt, der ihre Verwaltbarkeit und Verwertbarkeit verböte. So gebären die "Zeiten der Cholera" nicht nur das Siechtum ohnmächtig erlittener Fremdbestimmung, sondern dem spanischen cólera gemäß auch den Zorn, dessen es bedarf, sich von ihr zu befreien.

Fußnoten:

[1] Kultur und Globalisierung

[2] http://www.unesco.de/reshv64-2.html

[3] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/redakt/afka1971.html

[4] http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-73892437.html

[5] http://www.boell.de/educulture/education-culture-14182.html

Menschenrechte als Bedingung kultureller Diversität - Foto: © 2012 by Schattenblick

Ein weiterer Vorwand für humanitären Interventionismus? Foto: © 2012 by Schattenblick

20. Juni 2012