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DOCUMENTA/009: Kairo - Bamiyan - Alexandria - Kairo - Banff - Andere Orte (dOCUMENTA (13))


dOCUMENTA (13)

Andere Orte
KABUL - BAMIYAN
7. Juni 2010 bis 19. Juli 2012

Seminare und Ausstellung: Eine Position der dOCUMENTA (13)

Foto: Anna Rossi

Andrea Viliani
dOCUMENTA (13) Agent
Foto: Anna Rossi

Die vier wichtigsten Positionen, um die sich die dOCUMENTA (13) dreht - Belagerungszustand, Hoffnung, Rückzug und Bühne -, entsprechen vier möglichen Bedingungen, unter denen Künstler und Denker in der Gegenwart agieren. Diese Positionen sind nicht allumfassend, und ihre Bedeutung entsteht durch ihre Wechselbeziehungen und Resonanzen. Kabul und Bamiyan bilden zusammen eine Kreuzung dieser Bedingungen. Hier erleben Künstler, zeitgleich zum Zustand der Hoffnung, oftmals auch den Belagerungszustand, wie auch den des Rückzugs und der Exponierung. Die Seminare fanden, nach einem ersten Treffen im Juni 2010, im Frühjahr und Sommer 2012 statt und münden in eine dazugehörende Ausstellung in Kabul im Königinnenpalast, im umliegenden Bagh-e Babur und der Nationalgalerie, die kuratorisch von dem Mitglied der Agenten-Kerngruppe der dOCUMENTA (13) Andrea Viliani und dem Künstler Aman Mojadidi organisiert wird. Die Seminare wurden als Teil einer Veranstaltungsreihe mit einer Gruppe von mehr als fünfundzwanzig afghanischen Kunststudenten abgehalten, um Diskussionen über zentrale Fragen und Themen anzuregen; sie wurden von internationalen und afghanischen Teilnehmern geleitet. Ziel der Seminare und der Ausstellung ist, künstlerische Praktiken mit der lokalen Gemeinschaft zu teilen und diese Praktiken in einem partizipatorischen Prozess der Kreation, der Auseinandersetzung und des Lernens vorzustellen.

Die Seminare, in die Künstler, Autoren aus dem Kunstbereich und Denker einbezogen waren, wurden gemeinsam mit mehreren öffentlichen afghanischen Kunstinstitutionen organisiert, die auf verschiedenen Gebieten wie bildende Kunst, Musik, Theater und Film aktiv sind. In dem Seminar Art Histories in the Form of Notes, das im Februar 2012 stattfand, wurden Begriffe wie Kunst, Geschichte, Tradition, das Zeitgenössische, Experiment, Leben und Imagination unter verschieden Gesichtspunkten analysiert; dabei diente die schriftliche Notiz als Instrument, um eine Lage darzustellen, in der Konzepte, Ideen und Berichte auf eine provisorische Weise festgehalten werden, die ihre Potenziale und ihren hypothetischen Wert unterstreicht. Die darauffolgenden Seminare beschäftigten sich mit unterschiedlichen, aber miteinander zusammenhängenden Gebieten künstlerischer Reflexion und Intervention:

- wie man mit Sprache, Übersetzung und Vermittlung als hypothetischen Weichen zwischen Verstehen und Missverstehen und als kritischen Handlungen umgeht, bei denen die Wahrheit ständig verhandelt wird (seeing studies/translation as artistic practice, ein neues Projekt des instituts für inkongruente übersetzung, das von der Künstlerin Natascha Sadr Haghighian und dem Schriftsteller Ashkan Sepahvand in enger Zusammenarbeit mit der National Gallery in Kabul konzipiert wurde; Creating an Art Magazine: Testing the Grounds/Finding the Language, ein Seminar, in dessen Mittelpunkt eine Kooperation zwischen dem Mailänder Verlag Mousse Publishing und der Zeitschrift Sepida stand, die in den 1980er Jahren in Pakistan erschien und kürzlich von The Killid Group, Kabul, wieder aufgelegt wurde).

- wie man die geopolitischen Kategorien von Inklusion und Exklusion überwindet; wie man, im Zeitalter einer verbreiteten Remigration und hoch entwickelter digitaler Praktiken, den Anschluss an einen umfassenderen Diskurs bewahrt und die Kriterien von Zugehörigkeit und Wandel im Gleichgewicht hält (Perspectives on the Art of Today, veranstaltet vom CCAA - Center for Contemporary Arts Afghanistan).

- wie man Archive als öffentliche Orte untersucht; wie man Archivmaterial mit einem gemeinsamen öffentlichen Gedächtnis verbindet; wie man die Zirkulation von weniger bekannten Geschichten fördert, indem man das Archiv als Operationsbasis nutzt (Archive Practicum, Seminar unter der Leitung von Mariam Ghani und Pad.ma bei Afghan Film); wie man Fotografien archiviert, organisiert und erhält; wie man die Beziehung zwischen Sprache und Bildern in bewegten und unbewegten Bildern erforscht; wie man digitale Bilder aufzeichnet, manipuliert, speichert und vermittelt (Photographic Information, Seminar unter der Leitung von Masood Kamandy an der Fakultät für bildende Kunst der Universität Kabul).

- wie einfache Materialien aus der alltäglichen Umgebung oder der Körper eine Herangehensweise erhellen können, die einen unerwarteten Raum radikaler Freiheit schafft, die Zustände der Emanzipation und des Mitspracherechts verbessert und die Vorstellungen von Transformation und Verkörperung erforscht; wie man das Zeitgenössische wieder mit dem Traditionellen verknüpfen kann, indem man überkommende Dichotomien sowie Vorstellungen von Haltbarkeit und des "Handgemachten" herausfordert und die lokalen Bedeutungen traditioneller Materialien und Objekte betont; wie theatralische oder choreografische Praktiken das Persönliche und das Politische zum Vorschein bringen; wie die Ästhetik der Bühne mit historischen Momenten zusammenhängt; wie die Biografie des Schauspielers an die Geschichte des Theaters, aber auch an Geschichte im weiteren Sinne gebunden ist; wie man ein Kunstwerk schafft, das darauf beruht, die verborgene, aber geteilte Geschichte einer Gemeinschaft aufzudecken; wie man mit Grenzen umgeht; wie man aus beinahe nichts eine monumentale, visionäre Erfahrung hervorbringt (Acts, Gestures, Things and Processes: Material and Performance, ein mehrteiliges Seminar unter der Leitung des Künstlers und Filmemachers Barmak Akram, des Künstlers und Choreografen Jérôme Bel sowie der Künstler Lara Favaretto und Adrián Villar Rojas, das im Bagh-e Babur, am Institut Francais d'Afghanistan, in Istalif, am Nationaltheater und an der Fakultät für bildende Kunst der Universität Kabul abgehalten wurde).

Parallel dazu wurden zwei Seminare in Bamiyan organisiert. What Dust Will Rise?, das unter der Leitung von Michael Rakowitz in einer Höhle inmitten der Felsformation stattfindet, in der einst auch die Buddha-Statuen von Bamiyan standen, nutzt die Imagination, um die schwindenden Fertigkeiten der Bildhauerei wiederzubeleben und ein mögliches zukünftiges Erbe wiederherzustellen. Rereading Shahnameh von Khadim Ali reinszeniert die traditionellen Praktiken des Geschichtenerzählens und der Miniaturmalerei, um mehrere Generationen miteinander zu verbinden und zu begreifen, wie unsere Vergangenheit jahrhundertelang erzählt und zu unserer Gegenwart wurde.

Foto: Roman März

Goshka Macuga
Of what is, that it is; of what is not, that it is not 1, 2012 Wandteppich 520 x 1740 cm in Auftrag gegeben und produziert von der dOCUMENTA (13) mit Unterstützung des Fiorucci Art Trust, London; Outset Contemporary Art Fund; Andrew Kreps Gallery, New York; Galerie Rüdiger Schöttle, Munich; Kate MacGarry, London.
Besonderer Dank an Andrea Viliani, Roman Mensing, Joel Peers, Flanders Tapestries Courtesy die Künstlerin; Andrew Kreps Gallery, New York; Kate MacGarry, London; Galerie Rüdiger Schö++ttle, Munich
Foto: Roman März

Ausgehend von diesen Seminaren, umfasst die Ausstellung überwiegend Arbeiten, die in Afghanistan entstanden sind, und verwickelt das Publikum in einen Dialog voller Entsprechungen - zwischen Belagerung und Diaspora, Zusammenbruch und Wiederaufbau, Erinnerung und Fantasie, Vergangenheit und Zukunft - und wechselseitiger Evokationen beider Städte, Kabul und Kassel, die beide Zeugen der Zerstörung durch Krieg und der Notwendigkeit eines materiellen Wiederaufbaus und der geistigen Wiederherstellung sind. Auf diese Weise werden sie zu Bühnen, auf denen unsere Gegenwart zur Darstellung kommt (wie in den Arbeiten von Tacita Dean und Goshka Macuga) oder transzendiert wird (wie in den beiden Baum-Skulpturen von Giuseppe Penone in der Kasseler Karlsaue und im Bagh-e Babur in Kabul). Die dOCUMENTA (13) evoziert eine Lage, in der Krieg und Frieden koexistieren (wie in den Fotografien von Zalmaï und in der Malerei von Francis Alÿs) und in der Formen der weltlichen Imagination Engagement, Materie, Dinge, Verkörperung und aktives Leben erforschen. So verortet die dOCUMENTA (13) die künstlerische Forschung an einem unsicheren und zugleich einnehmenden Punkt - dem der poetischen Erkundung und der gewagten Konzentration, der einsichtsvollen Motivation und des meditativen Strebens.

Wie Mariam und Ashraf Ghani in ihrem dOCUMENTA (13)-Notizbuch Afghanistan: A Lexicon uns ins Gedächtnis rufen, können sich Mythen, Spekulationen, Gerüchte und Fakten überlagern. Prototypen der Zukunft und Symbole der Vergangenheit, Pläne und Fehlschläge können auf "selektive, assoziative Weise" koexistieren, wie in Ghanis eigenem Video, das den königlichen Palast in Kabul, Darulaman, der in den zurückliegenden dreißig Jahren des Bürgerkriegs in Afghanistan zerstört wurde, in das 1941 und 1943 bombardierte Kasseler Fridericianum transformiert. Auch andere Projekte, wie etwa das des mexikanischen Künstlers Mario Garcia Torres, sollten in diesem Licht betrachtet werden. Garcia Torres hat das One Hotel wiederbelebt, eine Initiative, die der italienische Künstler Alighiero Boetti von 1971 bis 1977 in Kabul entwickelt hatte. Boetti war nach Afghanistan gegangen, um seine Identität als Künstler und seine eigene Kunstauffassung neu zu erfinden, indem er zusammen mit Gholam Dastaghir im Shar-e Naw-Distrikt eine Unterkunft namens One Hotel betrieb, wobei er die Eröffnung eines Hotels wahrscheinlich nicht als Kunstwerk betrachtete. Auch Garcia Torres - der die verlassenen und vergessenen Räumlichkeiten wiederherstellt und aktiviert, indem er Rosen anpflanzt und Gästen im Garten Tee serviert - schafft nicht das, was wir üblicherweise als Kunstwerk bezeichnen würden; vielmehr handelt es sich um ein imaginäres - teils reales, teils fiktives - Raum-Zeit-Kontinuum, das man erleben und mit anderen teilen kann; eine Gelegenheit, unsere eigene Handlungsfähigkeit durch die Wahrnehmung von Kunst neu auszurichten. Diese nicht präzise, erzählerische Herangehensweise an das, was Kunst ist, ermöglicht es, die konventionellen Unterscheidungen zwischen Gast und Gastgeber oder zwischen damals und heute abzumildern, und bildet ein Echo auf das einladende Multiversum künstlerischer Gesten, die im Mittelpunkt der dOCUMENTA (13) in Afghanistan stehen.

Die documenta (13)/Goethe-Institut-Programme in Afghanistan finden statt unter der Schirmherrschaft des Ministeriums für Information und Kultur, Afghanistan, und mit Unterstützung des Auswärtigen Amtes der Bundesrepublik Deutschland.

Mario Garcia Torres
Have You Ever Seen The Snow?, 2010 89 slides, audio / 89 Dias, Ton, 52 min. / Min. Starts every full hour, last time at 7 pm /
Beginnt zu jeder vollen Stunde, letzter Start 19:00 Courtesy the artist / der Künstler; Jan Mot, Brussels
Photo: Roman März

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ALEXANDRIA - KAIRO
1. bis 8. Juli 2012
Das Kairoer Seminar:
Eine Position für die dOCUMENTA (13)

Das Kairoer Seminar ist eine zweiteilige Veranstaltungsreihe und ein Austauschprogramm, das Menschen aus Kassel und Alexandria verbindet. Es entstand aus dem Nachdenken über Hoffnung, Schlaf, Lernprozesse und das Handeln und wurde vom Arabischen Frühling des Jahres 2011 angeregt.

Tagsüber handelt der tätige Mensch; er begehrt Dinge, arbeitet, produziert - und manchmal verschreibt er sich der Revolution. Nachts, da der Mensch schläft, fesselt seine Seele ihn mit einer Art Streik und verwickelt ihn in das Spiel der Einbildungskraft. Beim Kairoer Seminar geht es um Hoffnung und Schlaf als Quellen für ein neues Verständnis des Handelns, das sich mit dem Bereich des Rationalen auseinandersetzt, zugleich aber über ihn hinausreicht.

Teil 1: Das Kairoer Seminar. Studium
Das Kairoer Seminar. Studium stellt eine Herangehensweise an das Lernen und die Praxis dar. Es bietet zehn Studierenden des MASS Alexandria Studio and Study Program 2012 die Gelegenheit, im Rahmen von Voruntersuchungen Anfang des Jahres 2012 in Alexandria die documenta zu diskutieren. Anschließend arbeiten dieselben Studierenden einen Monat lang, vom 9. Mai bis zum 9. Juni, bei der Vorbereitung der Ausstellung mit Künstlern der dOCUMENTA (13) zusammen. Das Kairoer Seminar. Studium ist eine gemeinsame Veranstaltung von MASS Alexandria und der dOCUMENTA (13). Im Juli 2012 wirken die Studierenden nach ihrer Rückkehr nach Alexandria als musikalische "Begleitung" an Das Kairoer Seminar. Das Seminar mit.

Teil 2: Das Kairoer Seminar. Das Seminar
Bei einem Seminar geht es oft darum, dass ein Professor oder eine Professorin und eine Gruppe von Studierenden zusammen nachdenken und Ideen in einem gemeinsamen Kontext diskutieren. Aber das Wort Seminar lässt auch an das Pflanzen oder Kultivieren einer Saat denken. Mit Blick auf diese beiden Bilder schlägt Das Seminar, der zweite Teil des Kairoer Seminars, eine Untersuchung der Frage vor, wie künstlerische und intellektuelle Beiträge durch Praxis zum Entwurf einer zukünftigen Gesellschaft führen können, um so politische Auflehnung, Teilnahme, die Praxis der alltäglichen Lebensführung und Hoffnung und die Praxis des Künstlers neu zu überdenken. Das Seminar ist ein Vorwand für eine organische Begegnung, die im Wesentlichen in Alexandria und zum kleineren Teil in Kairo stattfindet, als nuancierte Neueinschreibung einer Stadt in die heutige Realzeit sowie in ihre historische Rolle und in Erinnerung an die beinahe gleichzeitige Eröffnung der ersten documenta am 16. Juli 1955 in Kassel und der ersten Biennale für die Kunst der Mittelmeerländer - der Alexandria Biennale -, die ihre Pforten zum ersten Mal am 26. Juli 1955 öffnete.

Das Seminar ist ein temporärer Ort, der Ereignisse, Begegnungen und Handlungen nach Art der Aussaat von Samen auffasst. Es findet an verschiedenen Orten statt. Was kann man tun; und wie können wir es tun; und welche Formen von Teilnahme und Kreativität stehen uns zur Verfügung: All dies sind Fragen, die unsere Untersuchungen leiten. Diese Begegnungen zielen darauf, durch Gespräch und Spiel einen gemeinsamen Erfahrungsraum zu eröffnen.

Das Seminar ist eine musikalische Performance, die vermittels eingeladener "Grundtöne", einer Zahl von "Instrumenten", einiger studentischer "Begleitungen" und des "Chors" der Anwesenden erklingt. Veranstaltungsorte sind unter anderem: MASS Alexandria; ACAF, Alexandria; Konstantinos Kavafis' Haus, Alexandria; die Goethe-Institute in Alexandria und Kairo.

Das Kairoer Seminar. Das Seminar ist eine von CIRCA (Cairo International Resource Center for Art) gemeinsam mit der dOCUMENTA (13) ins Leben gerufene Veranstaltung, die auf Einladung von MASS Alexandria und dem ACAF in Alexandria stattfindet. Die Veranstaltung wird durch die Goethe-Institute in Kairo und Alexandria unterstützt. Angestoßen wurde das Projekt durch Sarah Rifky, Leiterin von CIRCA; an der Planung wirkten außerdem Chus Martínez, Mitglied der Agenten-Kerngruppe und Leiterin der Abteilung der dOCUMENTA (13), Raimundas Malasauskas, Mitglied der Agenten-Kerngruppe, Bassam El Baroni, Leiter von ACAF, und der Künstler Wael Shawky, Leiter von MASS Alexandria, mit.

Foto: Roland Andrijauskas

Raimundas Malasauskas
dOCUMENTA (13) Agent
Foto: Roland Andrijauskas

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BANFF
2. bis 15. August 2012
The Retreat - Die Klausur:
Eine Position der dOCUMENTA (13) /
Banffer Forschungen zur Kultur 2012

Im Rahmen der dOCUMENTA (13) findet während der Ausstellung in Kassel (9. Juni bis 16. September 2012) vom 2. bis zum 15. August 2012 The Retreat im Banff Centre, Alberta, Kanada, statt. Mit anderen in Klausur zu gehen bedeutet, sich an einen Schutzort, in die Abgeschiedenheit und Abgetrenntheit zurückzuziehen (von lat. re-trahere, sich zurückziehen, stammt das englische retreat ab) - nicht mit der Absicht, das tätige Zusammenleben mit anderen hinter sich zu lassen, sondern um gemeinsam mit anderen über Dinge nachzudenken. Die Entscheidung, sich an einen Ort, der weit weg von der Welt und doch in ihr ist, zurückzuziehen, kann die Möglichkeit eröffnen, Missverhältnissen entgegenzuwirken und Machtverhältnisse aufzustören, auch wenn der Rückzug selbst scheinbar mit einem Schwinden der Mittel, sogar ihrem Fehlen verbunden ist. Klausur ist nicht Verzicht auf die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Herausforderungen, politischen Gegensätzen oder kulturellen Sackgassen, sondern ist ein temporärer Zustand, der dauerhaften Wandel hervorbringen will.

Ein Grund für die Entscheidung, sich in Klausur zu begeben, könnte der Wunsch sein, sich dem Informationsfluss, der für uns heute Fluch wie Segen ist, zu entziehen. Der Rückzug könnte die Ablehnung des politischen Status quo anzeigen, an dessen Stelle die Entfaltung radikalerer Möglichkeiten menschlicher Gemeinschaft treten soll. Man kann aus der breiteren Öffentlichkeit und dem Umgang mit Menschen heraustreten, um einer religiösen oder spirituellen Berufung zu folgen, und einen Raum der konzentrierten Stille und Meditation aufsuchen, um dem Prozess des Lebens und Sterbens seine Mitte wiederzugeben. Der Rückzug in Klausur kann einen Ausbruch auf Zeit aus dem vorherrschenden sozioökonomischen Paradigma ermöglichen mit dem Ziel, alternative Wirtschaftsformen auf der Grundlage von Schenken, Naturalien und Tauschhandel anstelle von Geld zu entwickeln. All diese Formen des Rückzugs bieten die Chance zur Stärkung und Wiederbelebung von Körper und Geist, um dann in das Durcheinander des gesellschaftlichen Lebens und alltäglicher Wahrnehmung zurückzukehren, die von der Geschwindigkeit der heutigen Existenz mitgerissenen werden. In Die Lust am Text (1973) schrieb Roland Barthes: "Nur ein Weg bleibt, der Entfremdung der heutigen Gesellschaft zu entkommen: sich ihr nach vorne zu entziehen." In diesem Sinne wird The Retreat neue Wege eröffnen, sich den Einschränkungen, Ausweglosigkeiten, Problemen und Krisen eines zwischen imaginativer und konzeptueller Fruchtbarkeit und der Sterilität gefangenen Jahrhunderts "nach vorne zu entziehen" - nicht um eine fragwürdige Flucht zu arrangieren, sondern um neue Räume der Offenheit, Freiheit und Möglichkeit zu erschließen.

The Retreat ist eine Klausurtagung von Banff Research in Culture (BRiC). Sie wurde konzipiert von Carolyn Christov-Bakargiev, künstlerische Leiterin der dOCUMENTA (13), Kitty Scott, Mitglied der Agenten-Kerngruppe der dOCUMENTA (13) und Director of Visual Arts am Banff Centre, Imre Szeman, Canada Research Chair für Kulturwissenschaften an der University of Alberta, und Chus Martínez, Mitglied der Agenten-Kerngruppe und Leiterin der Abteilung der dOCUMENTA (13).

Foto: Becker Lacour 2007

Chus Martínez
dOCUMENTA (13) Agent
Foto: Becker Lacour 2007

Das Banff Centre ist eine weltweit bekannte Einrichtung, die die Realisation und Präsentation neuer Werke der bildenden Kunst und der Musik sowie tänzerischer, dramatischer und literarischer Arbeiten fördert. The Retreat wird durch die großzügige Unterstützung des Banff Centre, des Canada Council for the Arts, der dOCUMENTA (13), der Kahanoff Foundation und der University of Alberta ermöglicht.

Außerdem nehmen zwanzig Doktoranden, Postdoktoranden, Juniorprofessoren, Schriftsteller und aktive Künstler aus aller Welt an The Retreat teil.

Parallel zu The Retreat findet die Ausstellung "Modest Livelihood" von Brian Jungen und Duane Linklater in der Walter Phillips Gallery, Banff Centre vom 3. August bis 28. Oktober 2012 statt.

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Quelle:
dOCUMENTA (13) - Pressemitteilung vom 6. Juni 2012
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Juni 2012