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BERICHT/144: Futuristische Verherrlichung der Geschwindigkeit und ihre Kritik im Dadaismus (Junge.Kirche)


Junge.Kirche 4/2009
Unterwegs für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung
Focus dieses Heftes: Verlangsamen

Die futuristische Verherrlichung der Geschwindigkeit und ihre Kritik im Dadaismus

Von Sigurd Bergmann


"Wir erklären, dass sich die Herrlichkeit der Welt um eine neue Schönheit bereichert hat: die Schönheit der Geschwindigkeit"

Filippo Tommaso Marinetti, futuristisches Manifest 1909


Für die futuristischen Künstler war die "Schönheit der Geschwindigkeit" eines der wichtigsten Zeichen der Zeit, die man am Anfang des Jahrhunderts in der Beschleunigungskraft der Rennwagen, den "gefräßigen" Bahnhöfen, Werften und Fabriken sowie in anderen Fortschritten der technischen Entwicklung erleben konnte. Umberto Boccioni gestaltet die Gleichzeitigkeit des Sehens, wenn sich alles bewegt und "alles rotiert", wie es im technischen Manifest der futuristischen Malerei 1910 heißt: "Alles spielt sich mit der größten Schnelligkeit ab! ... und durch das stete Vorhandensein der Dinge auf unserer Netzhaut vervielfältigen sie sich, deformieren sich, folgen aufeinander wie Vibrationen im Raum."


Allgegenwärtige Geschwindigkeit

Boccioni thematisiert die Gleichzeitigkeit der Ereignisse und Erlebnisse, ganz im Sinne des Bekenntnisses im futuristischen Manifest: "Zeit und Raum sind gestern gestorben. Wir leben bereits im Absoluten, denn wir haben schon die ewige, allgegenwärtige Geschwindigkeit erschaffen."

Die "gleichzeitigen Visionen" der zwei Frauenköpfe werden in die Strudel des Kraftfelds der Großstadt gezogen, deren Energie sich nichts entziehen kann. Nähe und Ferne, Fläche und Tiefe, Farbe und Form werden im Bild miteinander verflochten. Alles wird zur Bewegung, deren Strom den Betrachter in die Tiefe reißt. Während die Energieflüsse im asiatischen Denken die Elemente des Lebens miteinander in geordnete Verbindungen bringen, splittern, trennen und fragmentarisieren diese im Futurismus die Wahrnehmung des urbanen Raums in einer gewaltsamen Eigenmacht, deren Fährten der Künstler folgt. Aus "Feuer, Haß und Geschwindigkeit", so Marinetti im Manifest, ernähren sich die Herzen der Futuristen.

Die neue Erfahrung der Geschwindigkeit bildete das Zentrum in der Verherrlichung der Zukunft durch die Futuristen. Die Bewegung wurde zum Grundprinzip, wobei nicht nur die Bewegung im und durch den Raum, sondern die technische Bewegung von Raum und Zeit selbst in den Vordergrund trat. Der Fort-Schritt blieb nicht nur Mythos und Beschwörung, sondern wurde zur körperlichen und geistigen Wirklichkeit. Das Manifest der Futuristen - mit dessen Lob auf die Vision einer faschistischen Weltgesellschaft - war keineswegs nur eine periphere Äußerung von isolierten Künstlern. Vielmehr repräsentierte es die Seele des Jungen 20. Jahrhunderts mit ihrer Bewunderung für den ungehemmten technischen, sozialen und kulturellen Fortschritt und dessen stetige Beschleunigung sowie mit der Verherrlichung von Krieg, Militarismus, Gewalt, die "Verachtung des Weibes" und der Vergangenheit und Tradition. Interessant ist dabei auch der Hass, den die Futuristen auf die Friedhöfe und Museen als Orte des Verfaulens und Vergiftens pflegten.


... oder verkrümmter Stillstand?

Die futuristische Allianz der Künstler, Techniker und der politischen Elite wurde von den Zeitgenossen unmittelbar kritisch konfrontiert und begegnete intensivem Widerstand, vor allem bei den Künstlern des Dadaismus, deren Opposition sich aus einer zivilisationskritischen Lebensanschauung und Kunstauffassung speiste, die bis heute zum Kern der Gesellschaftskritik gehört. Seit dem Anfang des Jahrhunderts gehört die Kritik an der ungebremsten Freiheit, das Leben und die Zukunft ingenieurshaft zu steuern, ebenso zur westlichen Kulturgeschichte wie die Verherrlichung der übermenschlichen Macht über Natur, Geschichte und Mitmensch. Während die Futuristen den Fortschritt predigten, verwiesen die Dadaisten prophetisch auf das Elend dieses gewaltsam schnellen Fortschreitens.

Hannah Höch packt in ihrer Collage "Der Unfall" den Glauben an die Errungenschaft des Rades, das sich stetig schneller dreht, an seiner Wurzel.

Sowohl das Rad als auch der Wagen, sein Fahrer und die ganze Schönheit der Geschwindigkeit gehen im Unfall zugrunde. Der Glaube fällt um; das Gefährt bricht in sich zusammen und verdichtet sich zum Unding, welches nur noch als ein stummer Aufschrei existiert, der, wie jedes Verkehrsopfer, fragt "Warum?" und meist niemand findet, der die Frage annimmt, geschweige denn eine Antwort gibt. Warum verkehrt sich die Freiheit der Bewegung in ihr Gegenteil: den in sich verkrümmten, ewigen Stillstand? Wer möchte angesichts dieses Bildes noch behaupten, die Technik führe zum Glück und Freiheit sei Bewegung?

Die Kontroverse der Futuristen und Dadaisten zeigt uns, wie klar der Konflikt um die "Technisierung" der Gesellschaft und die Bedeutung der Bewegungsformen schon seit über hundert Jahren erkannt und öffentlich verhandelt worden ist. Die Praktiken menschlicher Bewegung sowie auch der Bewegung von Waren, Geldern und Denk- und Lebensweisen gehören seitdem zum Kernfeld, in dem die moderne und spätmoderne Gesellschaft ihre sozialen und ökologischen Konflikte austrägt. So definiert sich z. B. der sog. Europäisch-Ökonomische Raum (EEA) in der Vision und in den Verträgen der EU als ein Freiraum, in dem der Mobilität des Geldes, der Arbeitskraft und der Waren keine Hindernisse in den Weg gelegt werden dürfen. Um die postpolitische Allianz der gewählten Volksvertreter, der ungewählten und dunkel ernannten Administrationen und der finanzmächtigen Entscheidungsträger in diesem Freiraum am Leben zu erhalten, bedarf es technischer Erfindungen, die zwischen den Transaktionsflüssen des immateriellen Finanzmarktes mit den Naturprozessen der Erde und Weltgesellschaft vermitteln.

Eine besondere Rolle spielt die Auffassung der Technologie als ein dem Menschen gottgegebenes Instrument zur Erlösung seiner selbst und der Natur. Im Zusammenhang dieser Themanummer kann man die Kontroverse zwischen den gegensätzlichen Positionen zum einen als die unbegrenzte Freiheit der Geschwindigkeit und Beschleunigung und zum anderen als die Vision einer Verlangsamung und Entschleunigung bezeichnen. Während die vorige sich durch die Desintegration der natürlichen, individuellen, soziokulturellen und technischen Bewegtheiten auszeichnet, schwebt der zweiten eine tiefe Integration der Dimensionen des Bewegens und Bewegt-Seins vor. Die "Schönheit der Geschwindigkeit" steht gegen "die Entdeckung der Langsamkeit", wie es Sten Nadolny schön im Titel seines weit verbreiteten Romans zusammenfasst. Die Frage stellt sich, was denn zur guten, gerechten und blühenden Gemeinschaft aller Lebenden führt? Die Beschleunigung, die Entschleunigung, oder gar eine Synthese von beiden, die wohl am ehesten als "Rhythmus" zu umschreiben wäre?


Linien der Bewegung im Raum

Der Wandel der Bewegungsformen lässt sich in großen Zügen in der geschichtlichen Entwicklung der europäischen Landschaft verfolgen, indem man nach geraden Linien in der natürlichen und vom Menschen veränderten Umwelt sucht. Die Natur schafft vor allem gebogene Formen: Flussschlingen, geschwungene Ufer von Seen und Meeren, Umrisse von Baumkronen. In den Landschaften, die von "aufgeklärten" Menschen, vor allem nach dem Beginn der Industrialisierung, geprägt wurden, nahm die Bedeutung von Geraden erheblich zu. Besonders zwei Eingriffe in die Landschaftsgestaltung führten zur Dominanz der geraden über die gebogenen Linien, nämlich die Konstruktion von Kanälen und die Begradigung (welch Wort!) von Flüssen. Seit der frühen Neuzeit legte man zum Beispiel in Holland aus landwirtschaftsökonomischen Gründen weiträumige Netze von Kanälen an. Im 19. Jahrhundert folgten die Eisenbahnlinien, die kreuz und quer verlegt wurden. Damit verwandelte sich auch die Geschwindigkeit des Transports von Waren und Menschen, die sich damit in mancher Hinsicht näher rückten, in anderer voneinander entfernten. Die so genannte Überwindung der Distanz führt ja keineswegs nur zur Nähe, sondern ebenso zur Distanzierung, weil ich mich mit der gleichen Geschwindigkeit, mit der ich mich an etwas annähere, auch von dem anderen entferne. Während der Mensch in der Antike und im Mittelalter die Bewegung als etwas betrachtete, das zum Vergänglichen und daher zur niederen physischen Wirklichkeit gehörte, verstand man die Ruhe und den Stillstand der Ewigkeit als die geistige Mitte, die jeglicher Art von Wirklichkeit übergeordnet war. Jedwede Bewegung in der Welt entsprang, nach Aristoteles, der ewig unbewegten Gottheit. Der Grund und die Ursache der Bewegung lagen in der Ruhe und Unbewegtheit des Göttlichen. Theologen der christlichen Spätantike brachen jedoch mit diesem Kode und stellten die innere Bewegung des Dreieinigen, der/die in sich die vollkommene Gemeinschaft und Bewegtheit der Liebe, Gerechtigkeit und Schönheit darstellte, die sich in der Ökologie der Schöpfung spiegelt, ins Zentrum der Betrachtung.

Ganz im Gegensatz zu dem alten kulturellen Kode hat die moderne und spätmoderne Gesellschaft das Verhältnis von Ruhe und Bewegung vollends auf den Kopf gestellt. Bewegung, Geschwindigkeit und Beschleunigung tragen nun einen Wert an sich. Wer nicht schneller als andere denkt und handelt, wird abgehängt und bleibt zurück. Die stetig höhere Geschwindigkeit gilt keineswegs mehr nur dem Transport von Gütern und Geldern, sondern weitet sich ebenso auf die Menschen und ihre Lebensstile und Lebensformen aus. Nicht nur der "Schönheit der Geschwindigkeit", sondern auch ihrer Beschleunigung huldigt man.


Geist, der weht, Leben haucht und befreit

Der Künstler Raoul Hausmann hat in seiner Skulptur schon 1919 unmissverständlich vorgeführt, was mit dem Menschen im Kontext der beschleunigten Technisierung geschieht. Der Geist unserer Zeit zeigt sich als das, was den Kopf des Menschen genau vermisst, sich in seine Schädeldecke einbohrt, diese mit einem Trichter zur Kontrolle des Ein- und Ausfließenden versieht, seine Ohren und akustische Umwelt künstlich manipuliert und mit einer standardisierten Nummer die Identität angibt - wie 12 Jahre später dann auch in Auschwitz üblich. Hausmann hat den Kopf mit Attributen der Technik seiner Zeit, dem Fotoapparat, der Uhr, der Druckwalze und dem Mast beklebt. Man sollte ihn auch einmal in der jüngsten Ikone der Geschwindigkeit, dem deutsch-französischen Airbus, fliegen lassen, in der ersten Klasse versteht sich!

Die Augen des Holzkopfs, dessen, der von diesem Geist besessen ist, sind leblos, sein Mund bleibt unbewegt, seine polierte Haut ist unempfänglich für den Geist, der lebendig macht, und den Geist, der/die Natur befreit. "Ein Alltagsmensch", so schreibt der Dadaist Hausmann, "hatte nur die Fähigkeiten, die der Zufall ihm auf den Schädel geklebt hatte, äußerlich, das Hirn war leer." Genau das Gegenteil also vom Heiligen Geist, der die Gemeinschaft in Natur und Kultur mit Schönheit und Gerechtigkeit erfüllt.

Der technische Raum der Gegenwart zeichnet sich durch eine sich stetig erhöhende Mobilität der Transporte von Waren, Geldern, Menschen und Kulturformen aus. "Money makes the world go around", hieß es im Kabarett, nun fragt man sich, ob das Karussell eine Geschwindigkeit erreicht hat, die zum Abwurf von allem führt, was sich an ihm noch festklammert. Woher nur kommt dieser religiös fanatische Drang zur ständigen Erhöhung der Geschwindigkeit in der Moderne, die sich doch vom Drang des Religiösen und der Umklammerung durch die Geschichte gelöst zu haben glaubte? Was funktioniert als Gott und Geist in einer Welt, die alles tut, um sich vom Fluss der Zeit und der Umarmung des Raums zu lösen, und gerade dadurch sich desto mehr an beide bindet?

Wie verhält sich die Verherrlichung der Beschleunigung zur Erfahrung mit dem Gottessohn, der den Streifzug durchs Land, die unvorhersehbaren offenen Gespräche, die unerwarteten Wendungen und die Armen der Schöpfung liebte. Und wie verhält es sich zum Wirken von Schwester Geist, die das Leben "der kommenden Welt" spendet? Nimmt man die Botschaft des Dalai Lama, die durchaus auch eine christliche ist, ernst, der Weg sei das Ziel, drehen wir uns dann lediglich im Kreise? Wie und wohin weht uns der Geist - schnell, langsam oder eher im Rhythmus vielförmiger Tanzbewegungen?


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Umberto Boccioni, Gleichzeitige Visionen, 1911
Hannah Höch, Der Unfall, 1936
Raoul Hausmann, Der Geist unserer Zeit, 1919


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Inhaltsverzeichnis - Junge.Kirche 4/2009

Focus: Verlangsamen
- Der Katastrophe Einhalt gebieten / Klara Butting
- Was ist schon Zeit? / Brigitte Rohde & Beate Spilger
- Heilige Zeiten / Claudia Brinkmann-Weiß
- Eine nachhaltige Mobilitätskultur / Jobst Kraus & Jutta Steigerwald
- Die futuristische Verherrlichung der Geschwindigkeit und ihre Kritik im Dadaismus
- Die Umkehr des Verkehrs in Johannes Schreiters Glasbildwelt / Sigurd Bergmann

Zwischenruf I
- 75 Jahre Junge Kirche / Kristin Flach-Köhler und Karin Böhmer

Zwischenruf II
- 75 Jahre Junge Kirche / Gunther Schendel
- Leben ohne Führerschein / Ullrich Hahn
- Kindern ihre Zeit lassen / Elisabeth C. Gründler
- Wie Kinder das Leben verlangsamen / Christiane Kohler-Weiß
- Alles hat seine Zeit / Günter Altner
- Befreiung vom Hamsterrad / Fritz Reheis
- Der Schlafbootverleih / Benita Joswig

Forum
- 40 Jahre AGDF - 40 Jahre aktiv für den Frieden / Jan Gildemeister
- Interkulturelle Öffnung von Kirche und Diakonie
  Asyl in der Kirche
- Otra America es posible / Bernd Kappes
- Breklumer Brief
  Plädoyer für eine ökumenische Zukunft
- Die Gier der Finanzjongleure / Achim Schwabe
- Geistlicher Beistand für den ehrbaren Kaufmann / Silke Niemeyer
- Mit Menschenrechten gegen den Hunger / Bernd Kappes
- Wir sind der Schmerz, nicht die Ärzte / Hans-Jürgen Benedict

Sozialgeschichtliche Bibelauslegung
- Die messianische Hochzeit / Ton Veerkamp

Predigt
- Bestürzende Frömmigkeit / Harald Schroeter-Wittke

Geh hin und lerne!
- Trippeln und Sabbatgang / Gernot Jonas und Paul Petzel

Buchseiten, Veranstaltungen
Impressum und Vorschau


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Quelle:
Junge Kirche, 69. Jahrgang, Nr. 4/2009, Seite 11-14
Herausgeber: Erev-Rav, Verein für biblische und politische Bildung
Redaktion: Junge Kirche, Luisenstraße 54, 29525 Uelzen
Tel. & Fax 05 81/77 666
E-Mail: verlag@jungekirche.de
Internet: www.jungekirche.de

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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Oktober 2009