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BERICHT/112: Das Künstlerzentrum Puschkin in Potsdam (Martin Ahrends)


Das utopische Zeitfenster

Von Martin Ahrends


Auf den ersten Blick sieht niemand, was in diesem Plattenbau steckt. Ringsum ein betonierter Parkplatz, vergitterte Fenster, das sieht nicht nur haltbar, sondern geradezu wehrhaft aus. Ein paar alte Peitschenlampen hängen da noch, auch Kamerahalterungen und seltsame Verkabelungen, weil sich in den 16 Jahren nach der Wende noch niemand die Mühe gemacht hat, sie abzunehmen. Wer weiß, noch einmal 16 Jahre, und sie haben Museumswert, wie dieses ganze Gebäude mit seinen schwer deutbaren retro-technischen Assessoires. Dann ist hier ein Museum, wo die Kreisleitung der Potsdamer Staatssicherheit residierte, dann hängt eine Gedenktafel im maroden Heizhaus: "Hier wurden die Akten der Potsdamer Opposition verbrannt." - Im Moment wären wir froh, wenn überhaupt wieder geheizt werden könnte in unserem "Künstler- und Gründerzentrum Potsdam".

Ein Wochentagmorgen. Auf mehr oder weniger klapprigen Fahrrädern oder in Autos, die stotternd und sabbernd ihr Gnadenbrot verzehren, erreichen jene Potsdamer das Gelände, die hier ihren Arbeitstag verbringen werden. Die einen schickt die Agentur für Arbeit; sie werden entweder darin geschult, wie man Bewerbungen schreibt und das ostübliche "Präsentationsdefizit" überwindet, oder sie kommen als 1-Euro-Jobber, um den Garten zu kratzen. Die andere Gruppe - das sind jene Künstler und Gründer, die dem Haus seinen klangvollen Namen gaben. Sie sind zumeist genauso arm wie die offiziellen Arbeitslosen, aber sie haben eine berufliche Option, die in manchen Fällen durchaus utopische Züge trägt. Mental und verwaltungstechnisch stehen sie an einem Anfang.

Was beide Gruppen verbindet: Wir alle, auch die Arbeitslosen, leben im verheißenen "Reich der Freiheit", das Karl Marx, der Stammvater des Sozialismus, vorhersagte für jene goldenen Zeiten, da die von einer Gesellschaft zu leistende notwendige Arbeit weitgehend von automatisierten Maschinen übernommen würde. Und die Menschen erstmals in ihrer Geschichte massenhaft Kopf und Hände frei hätten für die eigene Vervollkommnung: für die zweckfreie Betätigung ihrer "menschlichen Wesenskräfte". Also für Bildung, für Dichtung, Malerei, Musik, vor allem aber für die Ausprägung neuer Formen von gemeinschaftlicher Lebenskunst. - Wir leben im Reich der Freiheit. Warum fühlen wir das genaue Gegenteil? Abhängigkeit, Einschränkung, Angst? Könnten wir nicht wenigstens auf den ökologischen Schaden stolz sein, den wir nicht anrichten? Indem wir mangels Masse nur ein Minimum an CO2 produzieren?

Mit der Industrialisierung gewann unsere Gesellschaft ein wachsendes Freizeitbudget, von dem die Arbeitenden weitgehend ausgeschlossen sind. Dieser riesige Freizeitkuchen wird denen zugeschoben, die ihn gar nicht mögen, den so genannten Arbeitslosen. Offenbar ist dies Freizeitbudget etwas menschheitsgeschichtlich so neues, daß die Gesellschaft bislang wenig damit anzufangen weiß. Zeittotschläger aller Art finden reißenden Absatz: Man lässt sich bespaßen von der boomenden Unterhaltungsbranche, man stopft sich alle Sinne mit ihren Produkten zu. Manche der offiziell Arbeitslosen empfinden ihre freie Zeit gar als Unglück, sie sind unglückliche Zeitverprasser, obschon hoch privilegiert. Denn es ist die Freizeit aller, die sie da täglich zu verprassen haben.

Unser Haus ist nicht dafür gedacht, den gesellschaftlichen Freizeitreichtum einfach wegzuspaßen. Über der Zeit, die wir in diesem Haus verbringen, steht das Wort "Arbeit". Allerdings ist eine andere Arbeit gemeint, als die da draußen vor den Toren (wovon es immer weniger gibt), wir haben unsere Arbeit täglich zu erfinden. Und wenn wir einen guten Tag haben, fällt uns etwas ein, das Synergien freisetzt, ein sinnvolles Gemeinschaftsprojekt mit Außenwirkung. Denn wir sind ja keine geschlossene Anstalt, sondern ein öffentliches Haus, wollen also nicht nur uns selbst, sondern auch die anderen Bewohner der Stadt beglücken.

Jan ist Holzenthüller, er schleppt allerlei Wurzelknoten herbei, deren sehenswerte innere Beschaffenheit er im Keller freilegt, um daraus verkäufliche Einzelstücke zu fertigen. Georg ist scheu und selten zu sehen, doch er erfüllt das ganze Haus mit Brahms und Scarlatti. Im ehemaligen Konferenzraum der Stasi-Beamten hat er seinen musikalischen Salon eingerichtet, hier empfängt er seine Schüler, hier gibt er bei Kerzenschein und gutem Rotwein seine Konzerte, hierher ist er der Welt entflohen, wenn er nach Mitternacht noch musikalische Zwiesprache hält mit seinem alten Blüthner-Flügel.

Sechs bildende Künstler arbeiten sporadisch im Haus und stellen ihre Produkte im früheren Stasi-Speisesaal aus, wenn nicht das Barock-Opern-Ensemble hier für die sommerlichen Auftritte im Schlosstheater von Sanssouci probt. Es gibt eine Mode-Designerin, die einige betuchte Nähschülerinnen hat und ab und an auch mal eins ihrer besonders guten Stücke an den Mann bringt. Erst neulich sah ich einen Mitarbeiter des Bundestages bei ihr: Es hatte sich eine schafwollene Schlafmütze anpassen lassen. Es gibt eine stark frequentierte Jogaschule und eine Vergolderin, die mit Hinter-Glas-Arbeiten experimentiert. Es gibt ein paar junge Grafik-Designer, die sich schon einen Namen gemacht und ihren Gründungs-Anfang fast hinter sich haben. Und es gibt einen nicht mehr ganz frischen Autor, der wegen Griesgrams zu Hause rausgeflogen ist, und nun im Stasi-Block illegal übernachtet.

Das bin ich. Ich fühl mich übrigens sehr wohl hier. Die Lage ist großartig und wäre eigentlich unbezahlbar, ich kann gen Süden über Potsdams Dächer sehen bis zum Babelsberger Park. Keine Straße vorm Fenster, gute Luft. Nur diese nächtlichen Besuche haben mich anfangs gestört: Punkt zwölf schleicht Erich Mielke in seinen Filzlatschen durch Haus und wiederholt diesen einen berühmten Satz, mit dem er damals vor der ersten gewählten Volkskammer seine allumfassende Liebe zum Ausdruck bringen wollte. - Neulich roch es im ganzen Haus nach Kampfer: Eine Dufttherapeutin hatte beschlossen, die alten Geister auszuräuchern.

Der Laden läuft. Geld hat niemand, aber man kommt zurecht. Mancher Künstler künstelt nur für sich selbst herum. Und mancher Hartz-IV-Empfänger wälzt große Steine. Da ist diese Alleinerziehende, die mit viel Energie, ein Camp für strafentlassene Jugendliche an einem Potsdamer Havelsee aufzubauen versucht. Sie ist von Staats wegen mit dem Nötigsten versorgt, sie könnte sich auf ihre Mutterrolle zurückfallen lassen. Aber sie kämpft um einen Lebenssinn, hier, in diesem Zwischenreich zwischen bezahlter Arbeit und Sozialtransfer. Und da ist diese sechzigjährige Dampfmaschine aus Schwaben, die es noch immer nicht aufgegeben hat, ausgerechnet an diesem schäbigen Ort einen Kultursalon zu etablieren.

Wir alle verbringen im alten Stasibau die Freizeit, die die Berufstätigen nicht haben. Sie haben dafür das Geld, das wir nicht haben. Das Dumme: Wir können uns nicht mit ihnen austauschen, ihnen nicht von unserer Zeit abgeben, um etwas von ihrem Geld abzubekommen. Wir könnten ihnen manches abnehmen an Haus- und Kinderarbeit, einen Wochenend-Abenteuer-Kindergarten haben wir uns ausgedacht, eine Suppenküche mit köstlich exotischen Speisen für die Armen in den umliegenden Häusern, auch für die Berufstätigen nach Feierabend. Beides ist daran gescheitert, daß es nicht genehmigt wurde. Es tangiert den kommerziellen Sektor, den wir ohne weiteres nicht betreten dürfen. Wir sind ein Erwachsenenspielplatz. Menschen im besten arbeitsfähigen Alter verbringen hier den Grossteil ihres Tages, und oft sieht es aus, als spielten sie Beschäftigung in einem großen Wartesaal. Wir hätten Zeit für wichtige Dinge, die nicht bezahlt werden. Gibt es die? Wird nicht für alles wichtige bezahlt? Diese Frage beantwortet uns niemand. Wir müssen sie uns selbst beantworten.

Zum Beispiel haben wir Zeit für den Entwurf eines "etwas anderen Spielsalons", eines öffentlichen Raumes, wo man nicht vor Bildschirmen oder den rotierenden Scheiben der allgemein üblichen "Daddelkisten" hockt, sondern in aller Stille Schach oder Backgammon spielen kann, wo auch jene Gesellschaftsspiele angeboten werden, die unsere Großeltern noch aus ihren Kindertagen kannten, auch Spiele, die heute im Therapiebereich oder in der Schauspielausbildung Anwendung finden, Spiele, in denen man sich und die anderen Mitspieler auf unvergessliche Weise kennen lernen kann? Wir haben Zeit, unseren alten Stasibau in ein säkulares Kloster zu verwandeln, einen Ort der Transformation, wo man in gut durchdachten, erprobten Exerzitien im wörtlichen Sinne Verzicht üben kann. Übungen für eine verzichtsam reiche Lebensweise, die zu erlernen uns allen bevorsteht. Zeit hätten wir auch für die allmähliche Gründung eines Instituts für Alltags- und Festkultur, das, um nur ein Beispiel zu nennen, die Ausbildung zum "Zeremonienmeister" anbietet, zum Fachmann für originelle Ideen bei Familien- und Betriebsfeiern.

Wir sind überflüssig. Es gibt keine gesellschaftlich notwendige Arbeit, die ohne uns ungetan bliebe. Zusammen mit den Arbeitslosen, die täglich unser Haus besuchen, um hier ihre "Maßnahmen" zu absolvieren, leben wir "Künstler und Gründer" im gesellschaftlichen Überfluß an Zeit. Doch dieser Überfluß ist nicht überflüssig. Unser Haus ist ein Armenhaus, das nur bewohnen darf, wer seine materielle Armut mit einem Reichtum an Ideen aufwiegen kann.

Daß die Arbeit schlecht verteilt ist, wissen wir seit langem. Ebenso schlecht verteilt ist die Freizeit, die diejenigen erarbeiten, die in der glücklichen Lage sind, eine Arbeit zu haben, und die diejenigen oft sinnlos verprassen, die in der unglücklichen Lage sind, keine zu haben. Unser ganzes Leben ist der allwaltenden Effizienz unterworfen. Was wäre unter dem Aspekt der Effizienz mit der Freizeit anzufangen, die bei uns "Freigesetzten" versammelt ist? Es ist ja nicht unsere private, es ist ja die Freizeit aller und nichts weniger als das utopische Zeitfenster unserer Gesellschaft. Freiheit vom Zwang, auf Teufel komm raus produzieren, verkaufen, verbrauchen, entsorgen zu müssen. Die Freiheit, ein Stück weiter in den Raum des Menschenmöglichen hineinzuwachsen. Wir haben täglich das Gefühl, diesem hohen Anspruch nicht zu genügen. Und versuchen es täglich wieder.


Martin Ahrends, 56, ist Schriftsteller und lebt als freier Autor in Potsdam. Bis 1994 arbeitete er als Redakteur für die "Zeit" in Hamburg.


Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Dieser Artikel wurde bereits in folgenden Zeitschriften veröffentlicht:
"Magazin", "Stuttgarter Zeitung" und "Publik-Forum" Nr. 11/2008.


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Quelle:
Martin Ahrends, Juli 2008
mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Juli 2008