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ARCHITEKTUR/018: "Stararchitekt" Oscar Niemeyer und das Blutbad von Brasilia (Klaus Hart)


"Stararchitekt" Oscar Niemeyer und das Blutbad von Brasilia

Regisseur Vladimir Carvalhos "vergessener" Doku-Hit

Von Klaus Hart, 14. Dezember 2007


Haben Sie's gemerkt? Eine reife Leistung vieler europäischer Medien, auch zum hundersten Geburtstag Niemeyers die Sache mit dem Blutbad, dem Doku-Hit unter den Tisch fallen zu lassen. Man hat den Eindruck: In bestimmten Blättern, manchen Feuilletonredaktionen, Verlagen und PR-Agenturen herrscht seit Jahrzehnten panische Angst vor dem Thema. Andernfalls wäre es erheblich schwieriger, den Mythos Niemeyer und die entsprechenden Brasilienklischees lukrativ zu schüren. Indessen existieren die Fakten: Der vielfach preisgekrönte brasilianische Dokumentarfilmer Vladimir Carvalho hörte von einem Blutbad, gar einem Massaker an protestierenden Bauarbeitern Brasilias von 1959, holte zahlreiche Zeitzeugen vor die Kamera, erhielt für den das erste Mal auf dem Brasilia-Filmfestival von 1990 gezeigten Streifen zahlreiche Auszeichnungen, sogar von der brasilianischen Bischofskonferenz CNBB, von der Kritikerassoziation Sao Paulos. Ich habe Carvalho exklusiv zu den Vorgängen beim Bau Brasilias interviewt, der von Oscar Niemeyer mitbeaufsichtigt wurde. Denn es gibt jene Heldensage, jenen regelrechten Mythos um die Errichtung der brasilianischen Hauptstadt, wonach der große Architekt immer nahe bei seinen geliebten Arbeitern war, im Staub der Savanne - alle ziehen an einem Strang, vollbringen das große Werk, schließlich zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärt. Und es gibt viele widersprechende Darstellungen, darunter Carvalhos Dokumentarfilm "Conterraneos Velhos de Guerra".

"Der Bauplatz von Brasilia war damals ein Wilder Westen", sagt Carvalho, "alles mußte schnell gehen, die Fristen waren kurz. Entsprechend wurden die Arbeiter behandelt. Wie berichtet wird, gab es sogar verdorbenes Essen, wurde während eines Karnevals das Wasser des Bauarbeiterlagers abgestellt, um zu verhindern, daß diese sich waschen konnten, um danach in Nachbarstädten des Teilstaates Goias Karneval zu feiern. Eines Tages war das Essen wieder verdorben - das brachte das Faß zum Überlaufen. Die Arbeiter verloren die Geduld, warfen die Teller mit dem Essen aus dem Fenster, aus Protest. Da rief man die Bauplatzpolizei, die Guarda Especial de Brasilia, die sollte eingreifen. Die Arbeiter wehrten sich nach Kräften, schafften es sogar, die Bauplatzpolizei zurückzutreiben. Der Tag verging - doch nachts, als alle im Bauarbeitercamp schliefen, kam die Polizei erneut und feuerte mit Maschinenpistolen in das Lager. In Brasilien sagt man, das Volk übertreibt, aber erfindet nichts ("O povo aumenta, mas nao inventa"). Das Volk könnte also die Vorfälle übertrieben geschildert haben - hat aber nichts erfunden, ging von einem konkreten Fall aus. So könnte man die Zahl der Ermordeten zu hoch angegeben haben. Im Film sagt einer - 30 Tote, ein anderer 60, wieder ein anderer 120, einer sogar etwa 500. Ich habe im Dokumentarfilm Positionen von Personen aneinandergereiht, die damals dabei waren oder die Vorfälle mitbekommen hatten. Ich habe nichts bewiesen - der Film war ein Wort gegen alle, die heute sagen, es gab kein Blutbad und die in der Regel mit der damaligen Administration liiert waren, den damaligen Staatspräsidenten Juscelino Kubitschek loben. Es handelte sich damals um eine Repressalie gegen revoltierende Arbeiter. In Brasilia kann man heute noch Ältere, auch Taxifahrer von damals treffen, die davon berichten und klar sagen, ja, es gab diese Toten! Nur eine einzige Zeitung, "O Binomio" aus Belo Horizonte, die in Opposition zur Kubitschek-Regierung stand, berichtete über eine Revolte von Bauarbeitern, die gewaltsam unterdrückt worden sei, daß es offenbar Tote gegeben habe. Wegen dieser Toten, wegen des ganzen Falles wurde Brasiliens erste Bauarbeitergewerkschaft gegründet. Es gab damals viele Unfälle. Viele Bauarbeiter fielen von den Gerüsten, Tote wurden rasch beseitigt, damit die Lebenden nicht die Lust verloren, der Bau in hohem Tempo fortgesetzt werden konnte. Zeugen sagten: Die Bauarbeiter konnten nur wenige Stunden schlafen, sich nur wenig ausruhen, mußten den Bau ja beenden. Die Arbeiter waren schlichtweg fix und fertig, deshalb kam es zu den Unfällen. Weil man eben die Sicherheitsbestimmungen stark gelockerte hatte."

Vladimir Carvalho befragte für den Dokumentarfilm auch Oscar Niemeyer: "Ich ging zu ihm, weil ich dachte, er kennt die ganze Geschichte, kann alles bezeugen, kann bestätigen, was die anderen mir sagten. So wie die einfache Wäscherin. Am Tage des Massakers wollte sie den Arbeitern die sauberen Sachen ins Lager bringen, doch man ließ sie nicht hinein. Sie hob die Sachen ein ganzes Jahr lang auf - und als sie wußte, was da im Lager passiert war, hat sie die Sachen der Bauarbeiter an andere Leute verschenkt. Doch Oscar Niemeyer hat verneint, daß das Blutbad geschehen ist, er sagte, davon weiß ich nichts, davon habe ich noch nie etwas gehört. Er war ein großer Freund von Juscelino Kubitschek. Auch über die Arbeitsunfälle wollte Niemeyer nicht reden. Und heute will gleich gar keiner von den Leuten oben über die Vorfälle sprechen. Niemeyer wird jetzt hundert Jahre alt, niemand will ihn verärgern. Für dessen Biographie ist der Fall nicht gut."

Carvalho befragte für den Film auch den Architekten Lucio Costa, der mit Niemeyer in Brasilia zusammenarbeitete. "Als ich Costa auf den Fall ansprach, sagte er mir, was willst du denn, das war der Bau einer Stadt, kein Duett tanzender Kavaliere."

Laut Carvalho wurde zwar eine Untersuchung zu den Vorgängen gestartet, doch seien, wie es heiß, die Unterlagen verbrannt.

Gemäß den Aussagen eines Zeitzeugen im Film wurden die ermordeten Bauarbeiter dort verscharrt, wo heute in Brasilia der Fernsehturm steht. Einige hätten noch gelebt, als die Planierraupe über sie Erde geschoben habe.

1997 wurde in Brasilien das Buch "Conterraneos Velhos de Guerra" herausgegeben, welches das gesamte Drehbuch sowie die Kritikerstimmen über den Dokumentarfilm enthält. Es liegt allen vor, die über Oscar Niemeyer und Brasilia schreiben, Ausstellungen, PR organisieren. Brasilia-Bauarbeiter, die damals dabei waren, findet man leicht - ich habe Wagner M. 2007 bei Sao Paulo auf das Blutbad angesprochen. Der erinnert sich sofort: "Ja, das ist damals tatsächlich passiert." Es heißt, bei Protesten, etwa gegen verdorbenes Essen, seien Hunderte von der Bauplatzpolizei erschossen worden? "Das gab es immer wieder, ich habe das gesehen, ich war Zeuge. Es war diese Bauplatzpolizei, die gemordet hat. Doch man konnte sie nicht anzeigen, alle hatten Angst vor ihr. Es gab Repression. Und wer gar etwas gesehen hatte und darüber offen redete - solche Zeugen wurden liquidiert. So war das damals in Brasilia."

Im Drehbuch zum Dokumentarfilm, das im gleichnamigen Buch nachzulesen ist, sagen Arbeiter von damals, daß es keinen Arbeitsschutz gegeben habe, sich deshalb viele tödliche Unfälle ereigneten, die Leichen sofort weggeschafft wurden. Fiel einer vom Gerüst, liefen seine Kollegen rasch nach unten, wo er aufgeschlagen sein könnte - doch die Leiche war bereits nicht mehr da, wird berichtet.

Dann die Schilderungen über das "Massacre" von 1959. "Es gab einen Protest gegen verdorbenes Essen, fehlendes Wasser, verspätete Lohnzahlungen... Das geschah so ungefähr am zweiten Tag des Karnevals... Man hat die aus dem Lager rausfahrenden LKWs gesehen - die Leute sagten, alle beladen mit Toten, die in Gruben bei Brasilia geworfen werden sollten..."

Architekt Lucio Costa wird befragt - hätte er damals Kenntnis von dem Blutbad gehabt, wie hätte er reagiert? "Ich hätte dem nicht die geringste Bedeutung gegeben. Keine. Das sind Episoden. Vom Gesichtspunkt der Errichtung dieser Stadt her, sind das Episoden ohne die geringste Bedeutung... Ich sehe kein Motiv, das zu dramatisieren."

Zeitzeuge Heraldo: "Ja, da sind viele Männer umgekommen. Wir haben auf die alle gewartet, aber keinen mehr gesehen. Zwei Tage später mußten wir wieder arbeiten - die Armee dabei mit Maschinengewehren, damit wir arbeiten. Denn der ganze Bau sollte eben nie stocken."

Das Buch enthält zahlreiche Kritikerstimmen. Während des Karnevals von 1959 seien etwa 500 Bauarbeiter erschossen und an einem nie identifizierten Ort verscharrt worden - ein Fakt, der wie viele andere von den Autoritäten dieser Zeit vor der Öffentlichkeit versteckt worden sei, ist zu lesen. Präsident Kubitschek habe von dem Massaker gewußt, doch Lucio Costa und Oscar Niemeyer lehnten es ab, den Fall zu kommentieren. Was Lucio Costa sage, sei enttäuschend - was Oscar äußere, sei bedrückend. "Man lernt - unter den monumentalen Palästen von Brasilia liegen Kadaver, viele Kadaver."

Ex-Bildungsminister Cristovam Buarque, heute Kongreßsenator, zählt zu den Qualitäten des Films die "Authentizität". Erinnert wird im Buch, daß der Streifen auf dem Festival des neuen lateinamerikanischen Films in Havanna den großen Preis der Jury erhalten hat. Brasiliens Presse, die Präsident Kubitschek unterstützte, habe das Massaker bewußt versteckt, auffällig sei, wie nervös sich im Film Oscar Niemeyer während seiner Äußerungen gebärde. "Übrigens - diese niederträchtige Episode wurde mit absoluter Scheinheiligkeit durch Zeitzeugen der Epoche verborgen, verheimlicht - allen voran durch Niemeyer", schreibt die in Paris erscheinende Zeitung "Temoignage Chretien".

Der Dokumentarfilm von Carvalho, so ein brasilianisches Blatt, sei die "Geschichte der Zerstörung von Mythen". Demontiert würden Figuren wie Oscar Niemeyer - als "Architekt des Sozialen". Nicht zufällig hätten sich Niemeyer und Costa stets geweigert, sich den Dokumentarfilm anzusehen.

Wie mir Vladimir Carvalho im Exklusivinterview sagte, befindet sich eine Kopie des Films im Centre Pompidou von Paris - mit dem Titel "Glanz und Elend von Brasília".

Kurios zudem, daß in den Würdigungen zum hundertsten Geburtstag Niemeyers die über 500 öffentlichen Schulen Rio de Janeiros, die sogenannten CIEPS, im Grunde Niemeyers sozial bedeutendstes Hauptwerk, kaum oder gar nicht erwähnt werden. Der Schwarze Paulo Lins, Bestsellerautor und zudem Co-Regisseur des brasilianischen Streifens "City of God", der auch in Deutschland erfolgreich lief, kennt indessen die CIEPs sehr genau von innen, hat in ihnen Unterricht gegeben.

Die progressive brasilianische Monatszeitschrift "Caros Amigos", zu deren ständigen Autoren auch der Befreiungstheologe Frei Betto und Landlosenführer Joao Pedro Stedile gehören, befragte Paulo Lins zu seinen Erfahrungen in Niemeyers Vorzeige-Schulen: "Die Idee der CIEPs, also einer Schule, in der die Kinder den ganzen Tag bleiben, ist interessant. Doch die CIEPs sind entsetzlich (horroroso), Niemeyer möge mir verzeihen - das ist ein Projekt aus Zement und Eisen, grau. Die Klassenzimmer haben nicht einmal Wände bis zur Decke! Ich habe in diesen CIEPs Unterricht gegeben - es war meine schlimmste Zeit als Lehrer."


Zum Autor:
Klaus Hart ist seit 1986 Brasilienkorrespondent
für Medien in Deutschland, Österreich und der Schweiz.


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Quelle:
Klaus Hart, Sao Paulo, Brasilien - Dezember 2007
Mit freundlicher Genehmigung des Autors
Internet: www.klaushart.blogger.com.br


veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Dezember 2007