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GUTE-NACHT/3414: Der kleine Nachtwächter empfängt den Morgen (SB)


Gute Nacht Geschichten vom kleinen Nachtwächter


Wie heiß der Tag gewesen war. Da hielt es der kleine Nachtwächter trotz seiner zugezogenen Gardinen im Zimmer nicht mehr aus. Er flüchtete geradewegs ins Freie, um auch dort von der Hitze überwältigt zu werden. Aber unter den Bäumen am Bach ließ es sich aushalten. Rebell sprang sogleich ins Wasser und wollte gar nicht wieder heraus, genau wie die Kinder, die hier Staudämme bauten und Boote fahren ließen. Nach einer Weile gesellten sich einige von ihnen zu dem kleinen Nachtwächter in den Schatten. Zuerst zögerten sie, dann aber fragten sie ihm fast Löcher in den Bauch.

Wie es denn sei, so als Nachtwächter zu arbeiten? Ob er manchmal in der Dunkelheit Angst bekäme? Ob er schon Einbrecher gejagt und gefangen hätte? Und viele andere Fragen hatte der kleine Nachtwächter zu beantworten. Bald schlug die Kirchturmuhr sechs. Das war das Zeichen für die Kinder zum Aufbruch. Auch wenn einige von ihnen Hunger verspürten, gern gingen sie noch nicht nach Hause, denn ihnen war klar, nach dem Abendbrot wartete das Bett auf sie.

"Immer müssen wir so früh zu Bett gehen", schimpfte einer der Jungen und ein anderer sagte: "Wenn ich groß bin, werde ich auch Nachtwächter, dann brauche ich nie mehr früh schlafen gehen." Aber dann nahmen sie doch die Beine in die Hand und liefen nach Hause. Jetzt bemerkte der kleine Nachtwächter, daß auch er Hunger bekam und teilte sich mit Rebell ein Stückchen Brot. Anschließend legte er sich noch für ein Weilchen auf's Ohr und schlief fest ein.


*


"Rebell! Wie spät ist es bloß?", sind die ersten Worte, die dem kleinen Nachtwächter bei seinem Erwachen über die Lippen kommen. Aber auch Rebell ist gerade erst aufgewacht, gähnt und streckt sich tüchtig aus. Dann aber ist er schneller wieder auf den Beinen als sein Herrchen. Sofort rennt er zum Bach und nimmt einen Schluck Wasser. Doch sehr gut scheint es ihm nicht zu schmecken. Es ist wohl einfach auch jetzt noch zu warm und schmeckt schal.

Da von Rebell ja keine Antwort zu erwarten war, blickt sich der kleine Nachtwächter um und orientiert sich am Abendhimmel. Die Sonne geht gerade wie am Abend zuvor rot unter. "Oh, es muß schon bald zehn Uhr sein. Komm schnell, Rebell, es wird Zeit für unsere Runde durch die Stadt." Ohne die Laterne und die Taschenlampe - die sind beide zuhause geblieben, denn dorthin wollte der kleine Nachtwächter nach seinem Spaziergang an den Bach zurückkehren -, ziehen er und Rebell zum Marktplatz los. Von dort aus durchstreifen sie die Seitengassen und statten auch den Schrebergärten einen Besuch ab. Während dieser Zeit hat die Kirchturmuhr schon fünfmal eine volle Stunde geschlagen.

"Wie hell es doch im Sommer ist. Am Abend wird es erst sehr spät dunkel und bald auch schon wieder hell", stellt der kleine Nachtwächter fest. Da läutet die Kirchturmuhr zur halben Stunde. Zwar kann der kleine Nachtwächter das Zifferblatt der Turmuhr nicht sehen, aber er kann das Läuten des alten Riesen deuten und weiß, daß es mittlerweile halb Vier geworden ist. Die Vögel haben ihre Nachtruhe beendet und zwitschern schon wieder munter drauf los. Am Horizont erhebt sich ein roter Streifen und verkündet den Aufstieg der Sonne. "Sie macht sich bereit, uns wieder einen heißen Tag zu bescheren", erkennt der kleine Nachtwächter. Andächtig starrt er in die Ferne. Tiefliegender Nebel breitet sich dort über den Feldern aus und verschluckt die auf der Straße fahrenden Autos. Nur ihr Gebrumme ist zu vernehmen. Hoch hinauf ragt der Wasserturm. Rundherum blinken noch die roten Lichter, die die Flugzeuge in der Nacht warnen sollen.

Jetzt wendet der kleine Nachtwächter seinen Blick vom Horizont ab und läßt ihn hier in der Nähe etwas höher hinaufschweifen zu den Baumriesen rechts und links des Weges. Diese greifen mit ihren Ästen über den Pfad, als wollten sie sich gegenseitig umarmen. Nur ein kleiner Kreis bleibt zum Himmel frei, und genau dort hat sich der halbe Mond versteckt.

"Wie wundervoll das auschaut", geht es dem kleinen Nachtwächter ganz nah, und auch Rebell scheint von dem Schauspiel des aufsteigenden Morgens ergriffen, denn er steht ganz andächtig da. "So eine Nacht sollten die Kinder auch einmal erleben. Das würde ihnen gefallen, anstatt immer nur im Bett zu liegen und zu schlafen!"

Zeichnung: Der Mond lugt durch die Bäume - © 2011 by Schattenblick

zum 28. Juni 2011