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GUTE-NACHT/3239: Der kleine Nachtwächter vergißt dich nicht (SB)


Gute Nacht Geschichten

Innerhalb der Stadt mit den hohen Mauern und ihren Türmen, die der kleine Nachtwächter bewacht, gibt es auch einen Friedhof. Normalerweise geht der kleine Nachtwächter spät abends schnell an diesem wie ein Park angelegten Gelände vorbei. Doch heute ist das anders. An diesem Abend betritt der kleine Nachtwächter den Friedhof. Ziestrebig geht er auf ein ganz bestimmtes Grab zu.

Hier holt er aus den tiefen Taschen seiner Jacke eine weiße Kerze in einem roten Plastikbecher und einem goldenen Deckel hervor. An seiner Laterne zündet er die Kerze an und stellt sie mitten auf das Grab. Dann spricht er leise: "Heute wärst du einhundertundvier Jahre alt geworden. Darum habe ich dir eine Kerze mitgebracht. Keine Angst, es ist ein Grablicht und genau für diesen Zweck bestimmt."

Eine Weile bleibt es still. Dann spricht der kleine Nachtwächter wieder: "Abends vor dem Schlafengehen bin ich gern zu dir nach oben in deine Wohnung gekommen. Wir haben manchmal ferngesehen oder uns etwas erzählt. Aber meistens spielten wir Mensch-ärgere-dich-nicht, ab und zu auch Halma, Dame oder Mühle. Wer gewonnen hat, kann ich nicht einmal mehr sagen. Ich habe deine Bilder an den Wänden bewundert, die du alle selbst gestickt hast. Auf schwarzem Grund war da ein bunter exotischer Vogel zu sehen und Früchte, auf denen er saß. Er blickte mich aus seinem runden Rahmen an, als wollte er von einer geheimnisvollen Welt erzählen. Auf dem anderen Bild schlief Dornröschen. Sie und der Prinz waren mit schwarzem Faden auf weißes Tuch gebannt. Manchmal haben wir zusammen gelernt. Wenn ich ein Gedicht auf hatte, hast du mich abgehört. Du hast immer Zeit für mich gehabt."

Erneut kramt der kleine Nachtwächter in einer seiner Jackentaschen. Nun zieht er eine kupferfarbene Dose hervor. Er öffnet sie und holt einige Muscheln und kleine Steinchen heraus. Diese legt er behutsam wie ein Muster auf das Grab. Früher waren in der Dose stets Kekse. Seine Großmutter bewahrte immer selbstgebackene Anisplätzchen oder eigens hergestellte Rumkugeln darin auf. Der kleine Nachtwächter bekam bei jedem Besuch etwa daraus ab.

"Es wird Zeit, daß ich wieder durch die Stadt streife und von der Mauer herunter blicke in die Ferne", sagt der kleine Nachtwächter und wendet sich zum Gehen. Dann aber dreht er sich noch einmal um, mit den Worten: "Auf den Gräberpark hier werfe ich auch immer ein Auge. Denn niemand soll vergessen werden. Du schon gar nicht. In meinem Herzen trage ich dich immer bei mir!"


2. August 2010

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