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GUTE-NACHT/3234: Der kleine Nachtwächter befreit den Schwarzkäfer (SB)


Gute Nacht Geschichten

Der kleine Nachtwächter blickt von der Stadtmauer in die Weite vor ihm. Sein Blick streift den nahen Wald und richtet sich auf die Berge in der Ferne. Noch niemals ist er so weit wie sein Blick reicht von zuhause fort gewesen. Ein Seufzer entfährt ihm. Zwar würde er gern die Welt erkunden, aber irgendwie bereitet ihm der Gedanke, die Stadt zu verlassen, auch Unbehagen.

Mit einem weiteren Seufzer wendet sich der kleine Nachtwächter wieder wichtigeren Dingen zu. Der nächste Rundgang steht an. Nach wenigen Schritten stößt der kleine Nachtwächter plötzlich mit seinem Fuß gegen etwas am Boden Liegendes. Durch den Anstoß ist das Etwas gegen die Steinwand geschleudert worden und scheppert wie Blech.

Erschrocken springt der kleine Nachtwächter einen Schritt zurück. "Wie dumm von mir", denkt er, als er zu Boden blickt, "das ist ja nur eine Metallschüssel. Wer hat die wohl hier hergestellt und was soll sie hier?" Noch während der kleine Nachtwächter nach der Schüssel greift, kommt ihm ein Gedanke: "Vielleicht hatte einer der Stadtbewohner die Schüssel mit Wasser oder Milch für die verwilderten Katzen hierher gestellt. Jetzt ist sie zwar leer. Aber mag sein, daß sie wieder aufgefüllt wird. Dann lasse ich sie einfach hier stehen."

Zum Gehen gewandt vernimmt der kleine Nachtwächter ein merkwürdiges Geräusch. Es klingt als ob irgendetwas an der blechernen Schüssel kratzt. "Ach was", denkt der kleine Nachtwächter und wendet sich erneut zum Gehen. Doch schon wieder ist dieses Geräusch zu vernehmen. Da bückt sich der kleine Nachtwächter und hebt die Schüssel hoch, um sie gleich wieder auf der Stadtmauer abzustellen. Er blickt in die Schüssel hinein und kann tatsächlich etwas darin entdecken.

Vorsichtig kippt er die Schüssel zur Seite, sodaß der Inhalt auf der Stadtmauer landet. "Da war doch tatsächlich ein Käfer in der Schüssel", stellt der kleine Nachtwächter fest, "wie kommt denn so einer da hinein?"

"Ein Käfer!", ahmt eine Stimme den kleinen Nachtwächter nach, "und wie kommt denn so einer da hinein? Pah, pah, pah! Ich bin doch kein gewöhnlicher Käfer. Ich gehöre zur Familie der Tenebrionidae, den Schwarzkäfern, um es deutlicher zu sagen." - "Oh, tut mir leid", entschuldigt sich der kleine Nachtwächter. "Tut mir leid, tut mir leid!", äfft der Käfer nach, "leid tun sollte dir, daß du mich in die Schüssel geschubst hast!" Der kleine Nachtwächter überlegt, wie das bloß geschehen sein konnte. Der Käfer dagegen wendet sich um und krabbelt davon.

Plötzlich ein Schrei! Der Käfer ist am Rand der Mauer angelangt, und der Blick in die endlose Tiefe hat ihn sehr erschreckt. Schützend legt der kleine Nachtwächter seine linke Hand an den Rand der Mauer und bietet dem Käfer seine rechte zum Hinaufklettern an. Der Käfer nimmt die Einladung an.

"Oh, war das ein Schreck zur Abendstunde!", seufzt der Käfer. "Vielen Dank für den Schutz!" Nach einer kurzen Pause fragt der kleine Nachtwächter: "Herr Käfer, sie waren wohl noch nie hier oben auf der Mauer und haben in die Ferne geschaut?" - "Nein, nein. Das habe ich noch niemals getan. Meine Welt liegt unter Holz- und Steinhaufen. Ich kletterte gerade ein Stück die Steinmauer hinauf zu meinem besonderen Ausguck - das war ein Stein, auf dem nur ich Platz finden konnte -, da donnerte dieses metallische Ding gegen die Wand und schlug meinen Stein aus der Mauer heraus. Ich konnte mich gerade noch durch einen Fall in das Blechdingsbums retten.

"Haben sie sich verletzt?" - "Nein, nicht wirklich!", sagt der Käfer. "Mhm, Herr Käfer, möchten sie denn nicht einfach mal einen Blick riskieren?" - "Nein danke. Ich brauche nicht in die Ferne zu schweifen, mir ist alles recht was um mich und nahe bei mir ist, was sozusagen in meiner Reichweite liegt." - "Mhm", überlegt der kleine Nachtwächter. Dann fragt er: "Wollen sie denn nicht ein einziges Mal etwas anderes erleben? Ich könnte sie mit zu mir nach Hause nehmen." Der Käfer schüttelt seinen Kopf, daß die Fühler nur so wackeln: "Nein, auf keinen Fall. Sie wissen ja gar nicht, was sie mit mir in ihr Haus holen." Neugierig fragt der kleine Nachtwächter: "Was denn?"

"Nun, die Menschen nennen uns Totenkäfer oder Todesverkünder. Sie glauben, daß wir den Tod ins Haus bringen, wenn wir uns auf ihren Stufen zeigen." Ein bißchen verängstigt meint der kleine Nachtwächter: "Aber das ist doch gewiß nicht der Fall." - "So ist es", bestätigt der Käfer, "das ist alles nur Aberglaube. Wir tun den Menschen nichts an. Aber jetzt setzen sie mich wieder in mein Reich zurück."

Der kleine Nachtwächter kniet sich nieder und legt seine Hand auf den Steinboden. Bevor der Käfer hinunterkrabbelt, fragt er schnell: "Wie darf ich euch rufen, wenn ich das nächste Mal hier vorbeikomme?" - "Mein Name ist Blaps Mortisaga. Aber Blaps reicht." - "Gut Herr Blaps. Vielleicht begegnen wir uns bald einmal wieder. Schließlich sind wir beide in der Nacht unterwegs."


13. Juli 2010

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