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GUTE-NACHT/3231: Der kleine Nachtwächter bei der Künstlerin der Stadt (SB)


Gute Nacht Geschichten

In der Stadt, in der der kleine Nachtwächter mit seiner Laterne in der einen und der Taschenlampe in der anderen Hand jeden Abend nach dem Rechten sieht, lebt eine Künstlerin. Sie malt alles auf, was sie sieht. Die kleine Stadt mit ihrer hohen Mauer rundherum, das Stadttor, die Menschen, die hier leben und ihre Tiere hat sie bereits zu Papier gebracht oder auf eine Leinwand gebannt. Die Künstlerin malt aber nicht nur Bilder, sondern sie fertigt auch Figuren aus Ton an oder Mosaike aus bunten Glasperlen oder Steinen.

An diesem warmen Abend sitzt sie noch vor der Haustür, als der kleine Nachtwächter die Straße entlang geht. "Hallo kleiner Nachtwächter", spricht sie den kleinen Mann an, "willst du dich nicht einen Moment ausruhen? Ich kann dir etwas Holundersirup anbieten." Da sagt der kleine Nachtwächter nicht nein.

Während die Künstlerin ins Haus geht, betrachtet der kleine Nachtwächter woran sie gerade arbeitet. Ein großes Glas wird mit bunten Perlen und Edelsteinen beklebt. "Das sieht aber sehr schön aus", lobt der kleine Nachtwächter, als die Holunderlimonade gebracht wird. "Danke sehr", freut sich die Künstlerin. Ich hoffe auch jemand anderen wird das Glas gefallen. Ich brauche dringend etwas Geld, um mir neue Farben und Perlen zu kaufen!", erklärt die Künstlerin. "Und sicher auch etwas zu essen!", ergänzt der kleine Nachtwächter. "Ja, das auch. Aber wichtiger sind mir die Farben. Wenn ich nicht malen oder etwas gestalten kann, bin ich nur noch traurig."

Zwar malt der kleine Nachtwächter nicht, aber er kann die Frau gut verstehen. Wenn er nicht mehr jede Nacht durch die Stadt ziehen könnte, würde er ebenfalls traurig, denn er würde diese Rundgänge vermissen.

"Schau mal!", sagt die Künstlerin, "hier ist ein Riß in der Scheibe deiner Lampe. Wenn da nicht schnell etwas geschieht, geht die Glasscheibe ganz kaputt." - "Was kann ich da bloß tun? Kannst du mir nicht helfen?", bittet der kleine Nachtwächter. Schon nimmt sich die Künstlerin die Lampe zur Hand. Schnell hat sie bunte Steine und Glasstücke aufgeklebt, die den Riß in der Scheibe verdecken und zusammenhalten.

"Das sieht aber schön aus", freut sich der Nachtwächter, "jetzt kann ich gleich losziehen und meine Lampe überall herumzeigen. Bis bald!" - "Vergiß deinen Sirup nicht!", ruft die Künstlerin dem kleinen Nachtwächter nach. Doch der ist schon wieder unterwegs. "Leider wird die Lampe wohl niemand zu Gesicht bekommen", sagt die Künstlerin und zuckt die Achseln, "unser Nachtwächter bekommt doch kaum mal eine Menschenseele zu Gesicht."

Ob sich die Künstlerin da mal nicht irrt.


10. Juli 2010

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