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GUTE-NACHT/2967: Der Dosensammler - Bruderlos (SB)


Gute Nacht Geschichten


Onkel Josef ist wieder zurück. Pele hat den ganzen Tag auf dem Hof gespielt, nur um die Ankunft des Onkels nicht zu verpassen. Vor Freude hat er ihm zugerufen: "Ich bringe dir gleich etwas zu essen!" Mit diesen Worten verschwand er im Haus und holte Brot und Butter, Käse und Wurst und eine Flasche Bier von Vater. Damit lief er sogleich die vielen Stufen im gegenüberliegenden Haus hinauf, um zu hören, was Onkel Josef von seiner Reise zu berichten hat.

Außer Puste kommt Pele oben unter dem Dach vor der Wohnung an. Wie stets ist die Tür jetzt nicht mehr abgeschlossen. Pele vergißt zu klopfen und stürmt gleich hinein. "Warum hast du nicht gesagt, daß du wegfährst?", fragt Pele sofort. Diese Frage plagte ihn schon die ganzen Tage.

"Nun setzt dich doch erst einmal!", schlägt Onkel Josef vor. Er sieht Pele an, daß dieser sich Sorgen um ihn gemacht hat. Onkel Josef setzt sich zu Pele an den Tisch. Dann beginnt er zu erzählen: "Mein Bruder ist gestorben." Pele sieht erstaunt aus. Er hat nicht gewußt, daß der Onkel einen Bruder hatte. "Nun, wir haben uns lange nicht gesehen", fährt Onkel Josef fort, "das letzte Mal war es vor zehn Jahren. Wir hatten einen Streit und keiner wollte nachgeben. Jetzt tut es mir leid, daß wir nie mehr zusammen gekommen sind. Jetzt können wir unsere Gedanken nicht mehr austauschen und auch nicht aus dem Weg räumen, was zwischen uns stand. Als ich von dem Tod meines Bruders erfuhr, wollte ich erst einmal über alles nachdenken und darum habe ich nichts zu dir gesagt. Daß du dir Sorgen um mich machst, damit habe ich nicht gerechnet."

Nach diesen Worten wird es still im Raum. Pele ist neugierig, was das für ein Streit sein mochte, bei dem man zehn Jahre lang nicht mehr mit dem eigenen Bruder spricht. Pele hat selbst schon einmal einen Streit mit seinem besten Freund Hansen gehabt. Zuerst wollte auch von ihnen keiner mehr mit dem anderen sprechen oder gar spielen. Doch dann merkten beide, wie langweilig es ist, so allein den Tag zu verbringen. Schon nach drei Tagen waren sie beide wieder ein Herz und eine Seele bis Hansen mit seinen Eltern fortziehen mußte. Das war für beide sehr schmerzhaft. Aber sie versprachen, sich zu schreiben und in den Ferien zu besuchen, was sie bisher auch taten.

Pele will gerade ansetzen und Fragen nach dem Bruder und dem Streit stellen, da steht Onkel Josef auf und holt etwas aus seiner Tasche. Es ist ein Zeitungsausschnitt mit einem schwarzen Rand, eine Traueranzeige. "Seine Freunde haben ihn wohl sehr gemocht", sagt Onkel Josef, "eine große Traueranzeige war dort in der Tageszeitung. Ich habe sie mir herausgeschnitten und ich werde sie bewahren." Pele fragt sich, ob Onkel Josef den Ausschnitt wohl auch in eine seiner Dosen steckt, damit sein Bruder nicht vergessen wird und die Nachwelt von ihm erfährt. Pele findet das in Ordnung. Deshalb holt er von den Regalen eine Dose herunter und überreicht sie Onkel Josef. Der blickt Pele an und ist einverstanden.

Er steckt den Ausschnitt in die Dose, zündet eine Kerze an und erzählt, was die beiden Brüder früher zusammen gehalten hatte. Aber dann kam der Streit und Onkel Josef sagt: "Bevor du dich mit einem anderen Menschen zerstreitest, solltest du dir überlegen, ob es nicht andere Möglichkeiten gibt, Ärger aus dem Weg zu räumen, als dein Gegenüber zu verletzen." Onkel Josef verschließt die Dose und stellt sie an einen ganz besonderen Platz.

26. Juni 2009

Gute Nacht