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GUTE-NACHT/2942: Frau Löwenzahn trifft Josef, den Dichter (SB)


Gute Nacht Geschichten


Es ist später Nachmittag. Die Löwenzähnchen schimpfen. Schon wieder ist ein Menschenkind in den Garten gekommen und liegt nicht weit von ihnen entfernt im Gras. "Der drückt ja all unsere Freunde platt!", beschweren sich die Löwenzahnkinder bei ihrer Mutter. Mutter Löwenzahn schaut hinüber zu dem Unhold und sagt: "Ja, die Menschen nehmen keine Rücksicht auf uns Pflanzen und auch nicht auf die kleinen Tiere." Jetzt will Mutter Löwenzahn diesen kleinen Kerl doch einmal im Auge behalten. Was macht er da eigentlich? Er sieht so nachdenklich aus. Er nimmt seine Hand und greift sich eine weitläufige Verwandte, Frau Butterblume. "Meine Güte, jetzt reißt er sie bestimmt aus", befürchtet Mutter Löwenzahn, "sicher will er auch eine Löwenzahnkette flechten, wie gestern das kleine Mädchen." Doch was ist das? Das Menschenkind pflückt Frau Butterblume nicht ab. Er scheint sie nur anzuschauen. Auch streicht er ganz vorsichtig über ihre gelben Kinder. "Hat löwenzahn denn sowas schon gesehen?", staunt Mutter Löwenzahn.

Das Menschlein heißt Josef. Josef liegt im grünen Gras zwischen all den gelb-leuchtenden Butterblumen und grübelt: "Warum werden immer nur die Rosen, Tulpen und Nelken oder die Vergißmeinnicht im Gedicht beschrieben? Sind die Butterblumen nicht genauso schön? Ja, leuchten sie nicht viel heller? Es ist Zeit, daß auch über sie mal ein Gedicht geschrieben wird." So denkt Josef und setzt seinen Gedanken auch gleich in die Tat um. Seine Reime spricht er laut vor sich hin:

"Keiner will euch,
keiner verschenkt euch in Liebe,
dabei leuchtet ihr so hell
und bald werdet ihr der Wolke gleich sein..."

Josef ist mit diesen Versen nicht zufrieden: "Das reimt sich ja nicht einmal. Außerdem ist es wohl auch besser nur über e i n e   Butterblume zu schreiben. Das klingt dramatischer." So versucht er ein weiteres Mal, ein Gedicht zu verfassen:

"Keine Blumenvase will dich,
keine Liebe wird durch dich vereint,
dabei träumen deine vielen hundert Samen
wie eine Wolke in der Welt...

Noch immer ist Josef mit seinen Versen nicht zufrieden. Er betrachtet sich die Butterblume intensiv. Er sieht sich auch die danebenstehende Verwandte an.

Mutter Löwenzahn beobachtet alles ganz genau. Nachdem das Menschlein Frau Butterblume berührt hat, dreht er sich jetzt zu Frau Pusteblume um. "Hoffentlich berührt er nicht ihre Kinder, die fliegen doch glatt weg. Sie sind schon so bereit. Die gelben Kleider haben sie abgelegt und ihr Fluggewand angezogen. Wenn jetzt dieses Menschlein über sie streicht, können sie nicht mehr anders und purzeln alle zu den Wurzeln ihrer Mutter hinunter. Doch dort ist ja überhaupt kein Platz für so viele Kinder. Wehe, wehe ..."

Mutter Löwenzahn ist wirklich besorgt. Sie weiß, daß alle Löwenzahnkinder für ihre Reise den Wind brauchen, der sie möglichst weit und lange fortweht, damit sie auch etwas von ihrer Reise haben. Schließlich fliegen alle Löwenzahnsamen nur ein einziges Mal im Leben durch die Luft.

Josef ahnt von den Befürchtungen der Mutter Löwenzahn nichts. Er bestaunt die weiße Kugel, die so flauschig wie eine Wolke aussieht. "Ich möchte sie fliegen sehen, die vielen Samen", wünscht sich Josef insgeheim und er hat einen Plan. Josef pflückt ganz vorsichtig Frau Pusteblume mit ihren Kindern ab, so vorsichtig, daß kein einziges Pusteblumenkind verloren geht.

Mutter Löwenzahn stockt der Atem: "Er hat es gewagt, sie abzupflücken, dieser Menschenwurm!"

Voller Vorfreude, aber trotzdem ganz vorsichtig, schreitet Josef mit der Pusteblume in der Hand zum Gartentor. Das Gedicht muß bis morgen warten. Dann wird er ein wunderschönes Löwenzahngedicht aufschreiben. Jetzt geht sein Schritt zielstrebig zur Haustür. Er durchschreitet die offenstehende Tür und betritt die Treppe nach oben, die zu seinem Zimmer führt. Immer noch ganz vorsichtig hält Josef die Pusteblume in der Hand.

Ein kleines Pusteblumenkind ist neugierig und wagt sich etwas vor. Halt! Warte doch! Warte auf deine große Reise!

Josef hat Glück. In seinem Zimmer steht das Fenster ganz weit offen. Er schaut auf die Wiese hinunter. Dort unten hat er die Pusteblume gepflückt. Josef blickt nun in den Himmel. Ja, jetzt wird er die Pusteblumensamen wie kleine Schneeflocken in den Himmel schicken. "Wie weit sie wohl reisen werden? Und wo sie landen? Ob sie alle wieder zu ganzen Pusteblumen heranwachsen werden?", das alles geht Josef durch den Kopf. Am liebsten wäre er jetzt ganz klein und würde sich an einem Samenkorn festhalten und mitfliegen. Doch wer würde dann pusten?

Josef nimmt einen tiefen Atemzug und pustet was er kann. Dann noch einmal bis alle Pusteblumenkinder davongeflogen sind. "Fliegt schön weit!", ruft Josef den Samen noch nach, die in die rot untergehende Sonne hineinfliegen.

Mutter Löwenzahn, unten auf der Wiese, hört den Ruf. Sie blickt in den Himmel und sieht die Pusteblumenkinder hoch hinauf in die Wolken fliegen. Ob sie dort oben auch auf Wolkenflausch treffen werden? Naja, jedenfalls haben die Kinder von Mutter Pusteblume jetzt eine weite Reise vor sich. Das haben Mutter Löwenzahns eigene Kinder noch vor sich. Darüber ist Mutter Löwenzahn sehr froh. So kann sie ihre Kleinen noch ein paar Tage lang bei sich haben, und sie wünscht ihnen: "Gute Nacht!"

Erstveröffentlichung im Jahr 2000

25. Mai 2009

Gute Nacht