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GUTE-NACHT/2759: Von Saum zu Saum (SB)


"Die Werke des Zeichners Raimund sind in der Galerie am Brunnen zu besichtigen. Ausstellungseröffnung ist am ...", so ist es in der Einladung zu lesen. Heute abend nun soll die Ausstellung eröffnet werden. Bis dahin aber gibt es noch edliches zu tun, zum Beispiel die Räume zu wischen. In der Eile wird der Boden nicht gründlich getrocknet. Das kann fatale Folgen haben, ein schnelles Durchqueren der Gänge kann zum Ausrutschen führen. Hinweisschilder an den Wänden warnen davor.

Keine Warnung braucht das kleine Wesen. Es ist aus dem Zeichenblock herausgefallen, direkt in eine kleine Wasserlache am Boden. Das kleine Wesen steckt in dem Körper einer Anziehpuppe aus Papier. Wie vielleicht jeder weiß, saugt Papier Wasser sofort auf. Das ist nicht immer vorteilhaft. Bücher beispielsweise sollten von Wasser ferngehalten werden. Die Seiten, einmal voll Wasser vollgesogen, werden nach dem Trocknen nie wieder so schön glatt wie sie vorher einmal waren - da hilft auch kein Bügeln. Zeitungspapier wird ebenfalls ganz knitterig. Das macht allerdings nichts, wenn die Zeitung sowieso in den Papiercontainer wandert, dann kann sie besser auch mit Wasser und Kleister vermischt zu Pappmaschee verarbeitet werden.

Die Anziehpuppe allerdings möchte kein Kleistermatsch werden. Sie freut sich aber dennoch ganz durchnäßt worden zu sein. Denn sobald dies geschieht, ob mittels Tee, Wasser oder einer anderen Flüssigkeit, wird das kleine Wesen, das in der Anziehpuppe steckt, lebendig. Es kann sich drehen und wenden und herumspringen wie die großen Leute.

Das kleine Wesen ist begeistert. Es klatscht in die Hände, springt hoch in die Luft und wäre fast von einem den Gang entlang eilenden Jungen wie ein Fußball vorwärts geschleudert worden. Gerade noch rechtzeitig kann sich das kleine Wesen am Hosenbein des Jungen festhalten. So betrachtet es die Galeriewelt aus der untersten Perspektive. Das ist auf Dauer ziemlich langweilig, da die ausgestellten Bilder viel weiter oben an den Wänden hängen. Das kleine Wesen möchte gern die Bilder des Zeichners Raimund ansehen. Auch wenn es bei ihm gelebt hat, so kennt es doch nicht alle seine Arbeiten.

"Wie nun von hier ganz unten nach dort ganz oben gelangen?", überlegt das kleine Wesen. Es entscheidet sich, erstmal den Platz am Hosenbein zu verlassen und sich auf die Kante einer Fußleiste zu setzen. Von hier aus beobachtet das kleine Wesen das Geschehen. Es sieht die Frau, die bisher den Boden wischte, jetzt mit einem kleineren Wischding in der Luft herumwedeln. Auch an die Bilder gelangt das Wischding heran. Leider viel zu schnell wandert das Wischding von einem Bild zum anderen, so daß nicht viel Zeit bleibt, sich dieses genauer zu betrachten.

Plötzlich entdeckt das kleine Wesen den Zeichner Raimund. Er kommt den Gang wieder zurück, neben sich eine Frau. Das kleine Wesen hat sie bisher noch nie gesehen. Der Zeichner ist aufgeregt. "Wie kann es angehen, daß meine Bilder noch nicht aufgehängt sind, wo doch heute Abend schon die Eröffnung ist?", schimpft er. "Keine Panik, wir sind es gewohnt, die Werke unserer Künstler erst am letzten Tag in Stellung zu bringen!" Damit eilt die Frau davon und läßt den Zeichner Raimund einfach im Gang stehen. Diesen Augenblick nutzt das kleine Wesen, um nun am Hosensaum des Zeichners Platz zu nehmen. "Sicher wird er bald zu seinen Bildern zurückkehren", vermutet das kleine Wesen. Wenn es richtig verstanden hat, stehen diese noch immer auf dem Fußboden an die Wänden gelehnt.

Das kleine Wesen hat Glück. In dem Raum, in dem Raimunds Bilder ausgestellt werden, stehen die Bilderrahmen noch am Boden, aber bereits so verteilt, wie die Zeichnungen später hängen sollen. Also kann das kleine Wesen, die Wände abschreiten und sich die Zeichnungen in Ruhe ansehen. Hier ist im Moment sowieso niemand tätig. Nur der Zeichner hat sich auf das einzige Möbel in der Mitte des Raumes gesetzt, die Hände vors Gesicht gelegt und überlegt, was er selber anstellen kann, um die Bilder in Position zu bringen.

Das kleine Wesen hat das Bild mit der Landschaft und dem Schuppen schnell hinter sich gelassen. Dieses Bild hatte der Zeichner an dem Tag gefertigt, als sie beide einen Ausflug unternahmen. Als nächstes Motiv erscheint eine Szene aus dem Zoo. Hinter Gittern ist ein weißes Tier zu sehen, das dem Teddybär auf dem Sofa zuhause in Raimunds Wohnung sehr ähnelt. Eine Blume steckt am Gitter mit einer Aufschrift. Aber das kleine Wesen kann sie nicht entziffern. Doch es weiß auch so, was das Bild zu bedeuten hat. Raimund hatte während er daran arbeitete erklärt, daß er festhalten wolle, wie die Leute über den Tod des Pflegevaters von dem Eisbären Knut denken.

Das kleine Wesen schreitet weiter voran. Es kommen neue Landschaftsbilder und weitere Tierzeichnungen, auch Menschen in Not sind auf einigen Blättern dargestellt. Alles ist mit schwarzer Tusche gezeichnet. Das erscheint dem kleinen Wesen doch sehr grau. "Vielleicht will die Frau deshalb die Bilder nicht aufhängen, weil sie keine Farbe haben", grübelt das kleine Wesen. Am liebsten möchte es den traurig ausschauenden Zeichner trösten. Aber es ist sich nicht sicher, was der Zeichner davon halten wird, wenn das kleine Wesen plötzlich lebendig vor ihm steht. Dennoch sucht es eine Möglichkeit, ungesehen in die Nähe des Zeichners zu gelangen. Dort unter dem merkwürdig ausschauenden Möbelstück, nimmt das kleine Wesen Platz und wartet. Von hier aus hat es einen guten Überblick über alle Zeichnungen. "Vielleicht sollten die Besucher am Abend die Bilder auch aus dieser Perspektive betrachten", überlegt das kleine Wesen. Wie der Zeichner bleibt es am Boden hocken und wartet ebenfalls auf das, was jetzt kommen wird. Da sich aber lange Zeit gar nichts tut, beginnt das Papier der Anziehpuppe schon wieder zu trocknen. Da das kleine Wesen nicht in Bewegung ist, sondern am Boden in einer gemütlichen Stellung verharrt, fällt ihm das nicht auf.

15. Oktober 2008

Gute Nacht