Schattenblick →INFOPOOL →KINDERBLICK → GESCHICHTEN

GUTE-NACHT/2752: Den Herbst einfangen (SB)


"Du sollst mich doch Herbst nennen!", protestiert das kleine Wesen. "Irgendwie kann ich mich an diesen Namen in Zusammenhang mit dir gar nicht gewöhnen", entgegnet Zeichner Raimund. Plötzlich hat der Zeichner eine Idee: "Möchtest du den Herbst vielleicht kennenlernen?" Erstaunt fragt das kleine Wesen: "Das geht?" Der Zeichner nickt und meint: "Die vergangenen Tage hat sich der Herbst von seiner stürmischen und naßkalten Seite gezeigt. Heute ist er eher sommerlich angezogen. Die Sonne lacht sogar vom Himmel. Laß uns hinausgehen, ich nehme meine Zeichenutensilien mit und dann fangen wir den Herbst ein."

"Der Herbst ist doch bunt?", fragt das kleine Wesen sehr vorsichtig. Verwundert antwortet der Zeichner: "Ja, warum möchtest du das wissen?" - "Wenn du den Herbst einfangen willst, brauchst du dann nicht auch Farben?" Der Zeichner lächelt. Eigentlich sind seine Skizzen und Bilder nur mit schwarzen, weißen und grauen oder gelegentlich einmal mit roter und brauner Tusche gefertigt. Aber ein richtiges Herbstbild wird erst durch seine Farbenpracht wirklich. "Ausnahmsweise nehme ich auch Farben mit und einen kleinen Pinsel. Dann kannst du die Farbe bedienen, während ich die Umrisse herausarbeite."

Damit ist das kleine Wesen einverstanden. Die ganzen Zeichensachen und der große Block, in dem das kleine Wesen wohnt, sind auf dem Gepäckträger verstaut. Jetzt kann die Reise losgehen. Raimund weiß auch schon, wo er einen wirklich guten Herbstanblick findet und steuert mit seinem Fahrrad geradewegs draufzu.

Hier auf dem kleinen Hügel wachsen viele Büsche, die jetzt rote und schwarzblaue Beeren tragen. Es sind Hagebutten und Schlehen. "Das sollte doch ein prächtiges Bild abgeben", denkt der Zeichner und baut seine Staffelei auf. Hierauf stellt er den Zeichenblock und läßt das kleine Wesen in die Umgebung schauen.

"Oh, bin ich schön!", freut sich das kleine Wesen, das ja genau wie die jetzige Jahreszeit Herbst genannt werden möchte. Die Feuchtigkeit, die in der Luft liegt und sich auch auf den Büschen mit ihren Früchten zeigt, gibt den Dingen einen glänzenden Schimmer. Allein so viele rote Töne der Hagebutten zeigen wie prahlerisch der Herbst sein kann. "Diese Vielfalt an Farben einzufangen ist schier unmöglich", denkt der Zeichner. Wie eine Bestätigung lachen die dunkelroten Weinblätter, die die eine Seite des in der Nähe stehenden Schuppens bedecken, herüber. Zum großen Teil sind diese fingerförmigen Blätter schon abgefallen.

"Ich möchte so ein rotes Blatt haben", sagt das kleine Wesen. Der Zeichner läßt die Staffelei stehen und geht hinüber zum Schuppen. Hier sucht er am Boden nach dem schönsten Blatt für seinen kleinen Freund. Doch es sind so viele schöne Blätter, daß er sich nicht entscheiden kann. Aus diesem Grund nimmt er gleich eine ganze Handvoll mit. Wenn der kleine Herbst sich eines ausgesucht hat, will der Zeichner die anderen zuhause in einen Becher stellen.

Während der Zeichner wieder zurückkehrt, betrachtet er die Blätter in seiner Hand genauer. Eine Erinnerung steigt auf. Als er noch zur Schule ging, hatte er des öfteren Blätter aufgesammelt. Sie waren für den Kunstunterricht bestimmt. Die Blätter sollten nicht als Vorlage zum Abzeichnen dienen, sondern sie wurden selbst zum Kunstobjekt. Zwischen Zeitungspapier gelegt, beschwert mit dicken Büchern, wurden die Blätter getrocknet und danach zu kleinen Figuren zusammengestellt und aufgeklebt. Das hatte ihm immer viel Spaß bereitet. Zeichner Raimund hatte den Hintergrund der Figuren dann noch mit Mustern weiter ausgestaltet, was ihm eine besonders gute Note einbrachte. Die konnte er auch wirklich gebrauchen. Denn da all die anderen Fächer, außer dem Zeichenunterricht, ihn überhaupt nicht interessierten, kam er in den sonstigen Fächern im Zeugnis nicht so gut weg. Aber das war: "Schnee von gestern."

"Schnee?", fragt das kleine Wesen, "was ist mit Schnee? Ich sehe keinen Schnee!" - "Das kannst du auch nicht. Erst wenn der Winter kommt und es noch kälter wird, lernst du den Schnee kennen. Hier ist dein Blatt." Damit legt der Zeichner ein rotes Blatt auf den aufgeschlagenen Block, klappt den Deckel unter Protest des kleinen Wesens zu, sammelt all seine Zeichendinge ein und schwingt sich aufs Fahrrad. Zuhause wartet ein heißer Tee in der Thermoskanne und Apfelstrudel steht im Backofen bereit. Dort angekommen wird er zuerst die restlichen Blätter wie früher pressen und dann bei Tee und Kuchen sich überlegen, was er mit den getrockneten Blättern anfangen kann. Das Blatt des kleinen Wesens wird er in den Zeichenblock kleben. So kann sich der kleine Freund an roter Farbe sattsehen.

6. Oktober 2008

Gute Nacht