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ADVENT - ERZÄHLT/002: Der Friedensbaum - Ausbruch ... Teil 1 (SB)


Der Friedensbaum - Ausbruch ...

Teil 1


Ein trauriger Tiger liegt in seinem Gehege - Buntstiftzeichnung: © 2014 by Schattenblick

Buntstiftzeichnung: © 2014 by Schattenblick

Durch die Gitterstäbe seines Käfigs sah der alte Tiger hinaus auf die graue, nasskalte Umgebung. Nur noch ganz wenige Menschen fanden sich zu einem Zoobesuch ein. Den meisten war es schon zu kalt und zu dunkel. Es wurde früh dunkel. Tiger fühlte sich einsam und sehnte sich zurück nach Indien. Von dort kam er nämlich. Da war er zu Hause. Aber es ist schon so lange her, dass er gefangen wurde und man ihn hierher in den Zoo gebracht hatte. In der Anfangszeit dachte Tiger, er würde lieber auf der Stelle sterben, als hier eingesperrt im Käfig zu leben. Er war unsagbar traurig. Sicher, er hatte schon viele Fluchtpläne geschmiedet. Am liebsten hätte er den Tierwärter zum Frühstück verspeist und wäre durch die offene Käfigtür verschwunden. Aber der Wärter passte immer ganz genau auf. Und - er betrat niemals den Tigerkäfig. Hatte er etwa Angst?

Wie gesagt, das ist schon lange her. Inzwischen hatte Tiger beschlossen, nicht zu sterben - schließlich könne er das ja immer noch, wenn es denn sein muss. Er hatte sich in den Kopf gesetzt, wieder nach Indien zu reisen.

Der Tierpfleger gab ihm gut und reichlich zu fressen. Über das Essen konnte er sich wirklich nicht beklagen. Aber es ist schon ein Unterschied, ob man ein Stück Fleisch vorgeworfen bekommt oder selbst auf die Jagd geht. Menschen verstehen das nicht. Davon war Tiger überzeugt. Menschen sind ohnehin ganz merkwürdige Wesen. Sie verletzen andere und merken es nicht einmal, jedenfalls behaupten sie das. Die meisten denken nur an sich selbst. Selten blieb mal jemand vor seinem Käfig stehen und sagte etwas wie, "oh, der arme Tiger, der ist bestimmt traurig, weil er gefangen ist." Ja, das kam wirklich nur sehr selten vor.

Aber alles änderte sich als Tiger Bruno kennenlernte. Bruno war kein Mensch, nein, Bruno war ein mittelgroßer brauner Hund. Eines Nachmittags streifte besagter Bruno durch den Zoo. Allerdings nicht ganz freiwillig. Sein Herrchen hatte ihn vergessen. Festgebunden an einem Laternenpfahl hatte er leise vor sich hin gewinselt und gehofft, sein Herrchen würde ihn abholen. Doch es dämmerte bereits und Bruno hatte sich mutterseelenallein gefühlt. Dann war ein Tierpfleger des Weges gekommen, erblickte den ganzen Kummer und band Bruno los.

Ein kleiner brauner Hund sitzt angebunden neben einem Laternenpfahl - Buntstiftzeichnung: © 2014 by Schattenblick

Buntstiftzeichnung: © 2014 by Schattenblick

"Na, denn lauf mal zu und suche dein Zuhause. Es wird bald dunkel werden." Bruno hüpfte vor Freude ein paar mal in die Höhe und rannte augenblicklich los. Unterwegs hielt er immer wieder an und schnüffelte hier und dort, doch keine Spur brachte ihn näher zu seinem Herrchen. Schließlich stoppte er vor einem großen Käfig. Ein riesiger Tiger fauchte ihn böse an. Bruno war sehr froh, dass Gitterstäbe ihre Welten trennten.

"Der sieht mich an, als sei ich sein Abendessen", dachte Bruno und beschloss, lieber schnell weiter zu gehen. Er schüttelte sich und hob seine Vorderpfote. Doch auf einmal hörte er eine ganz, ganz leise Stimme: "Lauf nicht fort, kleiner Hund, warte bitte!" Bruno drehte sich einmal um sich selbst, schaute in alle Richtungen und konnte niemanden sehen, niemanden - außer den Tiger. Sollte diese leise, feine und sanfte Stimme etwa zu dieser übergroßen Katze gehören?

Der Tiger hockt in seinem Gehege und schaut mürrisch und verdrießlich drein - Buntstiftzeichnung: © 2014 by Schattenblick

Buntstiftzeichnung: © 2014 by Schattenblick

"Hast du etwa gerade nach mir gerufen?" Bruno hatte sich in gemessenem Abstand hingesetzt und betrachtete den Käfig und den Tiger darin.

"Ja, sicher, ich dachte immer, Hunde hören so gut. Aber nun ja. Ich habe dich gerufen, weil ich deine Hilfe brauche. Ich meine selbstverständlich, weil ich deine Hilfe erbitten möchte, falls du mir denn eine Bitte erfüllen würdest."

"Oh, nur nicht so umständlich", bellte Bruno zurück und wunderte sich über diesen ausgesprochen höflichen Umgangston. "Was möchtest du denn von mir?"

"Am meisten ersehne ich eine Befreiung aus diesem Käfig. Es ist nämlich an der Zeit, mich auf den Heimweg nach Indien zu machen."

"Indien? - Was ist das denn?", Bruno hatte dieses Wort noch nie gehört.

"Indien, lieber Hund, das ist ein Land in weiter Ferne, ein Land, das ich meine Heimat nenne. Dort wurde ich geboren, dort bin ich aufgewachsen und genau dort möchte ich gerne wieder hinreisen."

"Nun gut, aber wie kann ausgerechnet ich dir dabei behilflich sein?", wollte Bruno wissen.

"Eigentlich hatte ich gehofft, du könntest die Käfigtür öffnen."

"Oh ja, nichts leichter als das, das mache ich jeden Tag, Tigerkäfigtüren öffnen, nichts leichter als das", Bruno schüttelte sich vor Lachen. Wie sollte ein Hund eine so gut verschlossene Käfigtür aufschließen?

"Ich möchte dich bitten, dich nicht über mich lustig zu machen. Das ist meine ernsthafte Idee. Irgendwie muss ich doch hier hinaus gelangen."

"Entschuldige bitte, Tiger - wie heißt du überhaupt?"

"Ich heiße Bramaputra, aber hier sagen alle nur "Tiger" oder "der Tiger". Niemand redet mit mir oder spricht mich direkt an - da brauche ich ja auch keinen Namen."

Das klang sehr traurig. Bruno hatte eine Idee, nein er hatte sogar zwei Ideen: "Halt, stopp, so soll es nicht bleiben. Dein Name ist etwas lang und klingt für mich sehr fremd, aber wie wäre es, wenn ich "Herr Tiger" zu dir sage?"

Tiger wiegte seinen Kopf hin und her und hoch und runter. Bruno verstand es als Zustimmung und legte gleich seine zweite Idee vor: "Also gut, Herr Tiger, ich habe mir folgenden Plan ausgedacht. Ich renne dort hinten auf den Hügel hinauf und klettere über die kleine Absperrung, springe hinunter in dein Gehege und fange ganz laut an zu bellen. Du musst grauenerregend knurren und fauchen. Dann kommen, jedenfalls hoffe ich das, die Tierpfleger, um mich vor dir zu retten. Sie öffnen die Tür und genau in diesem Moment müssen wir rasch handeln. Du stürmst dicht neben mir durch die Tür. Falls ein Tierpfleger sich in den Weg stellen will, müsstest du einmal ungezogen sein und ihn einfach umschubsen. Dann rennen wir beide so schnell wir können zum Eingang des Zoos und verstecken uns in der Stadt. Es ist inzwischen ja schon dunkel geworden. Wir haben also gute Möglichkeiten, uns in den engen Gassen zu verstecken."

"Dein Plan hört sich sehr durchdacht an. Wir sollten ihn so ausführen, wie du es vorgeschlagen hast. Nur eine Frage hätte ich noch - wohin gehen wir danach", wollte Herr Tiger gerne wissen.

"Verlass dich ganz auf meine Spürnase. Den Weg nach Hause finde ich bestimmt. Ich wohne in dem Haus von Willi Müller. Er hat mich hier im Zoo vergessen und bisher konnte ich ihn noch nicht wiederfinden. Egal jetzt, jedenfalls sind wir in dem Haus erst einmal sicher und finden bestimmt eine Lösung für eine geeignete Unterkunft. Das Auto von Willi Müller ist gerade in der Werkstatt. Die Garage wäre also frei. Dort könnten wir zuerst ein Versteck finden."

Bruno rannte den Hügel hinauf und sprang in den Käfig. Herr Tiger brüllte und fauchte so gefährlich wie er konnte. Es dauerte nicht lange und ein Tierpfleger, der gerade in der Nähe war, kam angerannt und schimpfte laut. Er pöbelte und fluchte so laut, dass Herr Tiger fast aufgehört hätte zu fauchen, so sehr hatte er sich über den wütenden Tierpfleger erschrocken. Der schloss die Tür zum Käfig auf. Zuvor hatte er aber noch eine Spritze in seine Hand genommen, mit der er Herrn Tiger betäuben wollte. Doch Bruno und Herr Tiger waren viel zu schnell. Herr Tiger schubste den Pfleger beiseite. Dann rannten die beiden so schnell sie konnten fort. Der Tierpfleger war auf dem Boden gelandet und rappelte sich wieder auf, klopfte seine Kleidung ab und versuchte dabei den Hund und den Tiger zu erspähen. Doch er konnte sie nicht mehr sehen.

Bruno, der Hund, rennt vorne weg und der Tiger hinterher - Buntstiftzeichnung: © 2014 by Schattenblick

Buntstiftzeichnung: © 2014 by Schattenblick

Bruno und Herr Tiger versteckten sich hinter einer großen Hecke. Sie hörten nun die lauten Rufe: "Vorsicht, ganz gefährlicher, großer, bösartiger Tiger jagt kleinen braunen Hund. Wer den Tiger sieht, soll sofort die Polizei anrufen!"

"Oh je, da müssen wir nun aber sehr geschickt vorgehen und niemand darf uns sehen", meinte Herr Tiger bestürzt. Bruno war nicht so ängstlich. In dieser Stadt kannte er sich gut aus und so neckte er Herrn Tiger: "Ich wusste ja gar nicht, was für ein gefürchteter Kerl du bist ..."

"Ach Bruno, lass das, mir ist nicht nach Scherzen zu Mute."

"Ich wollte dich ein wenig aufmuntern, wir schaffen das schon, glaub' mir", tröstete Bruno. Sie blieben eine Weile hinter der Hecke und warteten, bis der Tumult sich aufgelöst hatte.

Tiger und Hund liegen hinter einer Hecke versteckt, nur ihre beiden Schwänze lugen an einem Ende hervor - Buntstiftzeichnung: © 2014 by Schattenblick

Buntstiftzeichnung: © 2014 by Schattenblick

"Bleib' du hier, ich spinkse mal um die Ecke, mal sehen ob die Luft rein ist", bekundete Bruno und schlich leise, Pfote um Pfote hinter der Hecke hervor. Die Straßen waren ruhig. Autos fuhren in die eine oder in die andere Richtung, Menschen gingen wieder gemessenen Schrittes auf den Gehwegen. Bruno drehte sich, warf einen kurzen Blick über seine Schulter, um sich zu vergewissern, dass ihn niemand beobachtet. Er hatte Glück. Niemand achtete auf ihn. Guten Mutes zwängte sich Bruno durch die Hecke und traf ziemlich genau mit seiner Schnauze auf Herrn Tigers Hinterbacke.

Der sprang erschrocken herum, riss sein riesiges Maul auf und fauchte ganz gruselig. Es schien, als wolle er Bruno den Kopf abbeißen. Gerade noch rechtzeitig erkannte Herr Tiger seinen Freund und brummte etwas verlegen: "Oh, entschuldige bitte, aber ich bin momentan in einer sehr angespannten Verfassung. Ich nahm an, ein ein Mensch wäre mir auf die Schliche gekommen und wollte mich fangen."

"Macht doch nichts, Herr Tiger, ich hätte besser aufpassen müssen. Aber ich wollte dir so schnell wie möglich berichten, dass die Straßen wieder frei sind. Wir können uns also sofort auf den Weg zu meinem Haus machen", japste Bruno aufgeregt und erläuterte Herrn Tiger seinen Plan: "Ich werde immer ein Stückchen voraus gehen, falls etwas Unvorhergesehenes geschieht. Dann kann ich dich warnen und wir verstecken uns lieber."

"Das ist sehr klug Bruno. Am besten verlieren wir keine Zeit. Diese Menschen aus dem Zoo sind unberechenbar. Stets haben sie etwas, womit sie dich überraschen. Mal bekommst du etwas Gutes zu Essen, ein anderes Mal scheuchen sie dich in einen kleinen, engen Käfig, darin können sie dich zum Schlafen bringen, obgleich du gar nicht müde bist. Sie nennen es 'betäuben'. Das fühlt sich überhaupt nicht gut an", verfiel Herr Tiger in leichtes Klagen.

"Ist schon gut, Herr Tiger, ich kann dich verstehen. Ich bin ein Hund und habe gelernt aufzupassen und ich gebe auf uns beide acht!" Bruno versuchte seine Stimme möglichst mutig klingen zu lassen.

Fortsetzung folgt ...

6. Dezember 2014


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