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THEORIE/013: Vom singulären Wert zur Pluralisierung der Werte (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 10/2012

Vom singulären Wert zur Pluralisierung der Werte

Von Stephan Schmauke



Dass wir heute ganz selbstverständlich "Wertedebatten" führen, über den "Wertewandel" nachdenken und "Wertesysteme" in Frage stellen, wäre den Deutschen zur Zeit der Aufklärung höchst befremdlich erschienen. Denn eine sprachliche Besonderheit trennt uns vom 18. Jahrhundert: Wir reden heute über "Werte" im Plural, die Menschen damals verwendeten den Begriff "Wert" im Singular, auch Kant. In Nietzsches "Umwertung aller Werte" aus dem 19. Jahrhundert entspricht die Verwendung des Begriffs bereits unserer heutigen. Wie kam es aber zur "Pluralisierung" der Werte und - damit einhergehend - zur Relativierung des Wertebegriffs?


Irgendwann zwischen dem ausgehenden 18. und dem 19. Jahrhundert muss sich im Deutschen die Rede von den Werten im Plural durchgesetzt haben. Die Singularform gibt es zwar noch immer, etwa wenn davon die Rede ist, dass dieses oder jenes "keinen Wert" habe (im Sinne von: "es hat keinen Sinn"). Im allgemeinen Sprachgebrauch ist aber die Pluralform heute wesentlich gängiger - wenn etwa über "Werteverfall" oder "Wertewandel" gesprochen wird.

Im Folgenden wird es um den ideengeschichtlichen Hintergrund dieses Sprachwandels gehen. Denn, um bei den beiden bereits genannten Philosophen zu bleiben, weder Kants ausschließliche Verwendungsweise des Wortes "Wert" im Singular noch Nietzsches Neigung zur Pluralform ist zufällig.


Vom Wert des Menschen zur "Umwertung aller Werte"

Kant unterscheidet in der Metaphysik der Sitten (1798) begrifflich zwischen dem äußeren "Preis", den ein Mensch habe, und seinem inneren "Wert". Insofern der Mensch ein Objekt der Natur sei, habe er - wie alle anderen natürlichen Dinge oder Lebewesen auch - einen Tauschwert, d.h. einen "Preis". Insofern der Mensch sich aber aus moralischen Gründen selbst zum Handeln bestimmen könne, habe er einen singulären Wert, der ihn "über allen Preis erhaben" mache. Dieser innerliche, absolute, nicht quantifizierbare Wert sei es, der den Menschen als Zweck an sich selbst auszeichne, der ihn zu mehr mache als zu einem bloßen Mittel für andere. Kurz: Der Begriff des Wertes (in Abgrenzung zum "Preis") kann mit philosophischer Genauigkeit bei Kant nur im Singular stehen, weil er mit dem Begriff der Menschenwürde identisch ist. Und die lässt sich bekanntlich nicht gegen etwas anderes verrechnen.

Umgekehrt widerstrebt Nietzsche die Singularform, weil sein philosophischer Nihilismus - die Auffassung, dass nichts einen Wert an sich selbst habe, sondern alles nur auf menschlichen Wertsetzungen beruhe -, bereits von der Tatsache einer Wertepluralität ausgeht. Die Forderungen der Französischen Revolution nach Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit sind aus der Sicht Nietzsches ebenso "umzuwerten" wie Kants Begriff der Menschenwürde und wie die nicht in moralphilosophischen Zusammenhängen generierten Vorstellungen von "Wahrheit", "Zweck", "Einheit", "Sein" usw.. All diese Begriffe würden von Menschen als "wertvoll" deklariert, um damit strategische Ziele zu verfolgen, Ziele, die Nietzsche als Äußerungen eines "Willens zur Macht" zusammenfasst. Genau diese Einsicht in den Funktionszusammenhang von Wertsetzungen versteht Nietzsche unter der "Umwertung aller Werte".

Wichtig ist es nun, den Zusammenhang zwischen der Pluralisierung des Wortes "Wert" und der konzeptionellen Relativierung des Wertbegriffs im Auge zu behalten. Bei Kant "hat" der Mensch einen Wert; bei Nietzsche legen die Menschen aus machtstrategischen Gründen Werte fest. Theodor W. Adorno hat den Prozess der Wertepluralisierung als Symptom fortschreitender Verdinglichung unter dem Primat ökonomischen Denkens interpretiert. "Noch Kant und Hegel", schreibt er, "verwenden den in der politischen Ökonomie beheimateten Wertbegriff nicht. Er ist wohl erst bei Lotze in die philosophische Terminologie eingedrungen; Kants Unterscheidung von Würde und Preis (...) wäre mit ihm inkompatibel."


Hermann Lotze und das postidealistische Vakuum

Adorno verweist auf einen Philosophen, der heute nahezu unbekannt ist, der jedoch zu seinen Lebzeiten (und darüber hinaus) in der deutschen akademischen Philosophie einen großen Einfluss hatte: Rudolf Hermann Lotze (1817-1881). Bei ihm ist tatsächlich zum ersten Mal in einem philosophischen Zusammenhang von "Werten" (im Plural) die Rede. Was uns Adorno nicht mitteilt, ist der konkrete Grund, weshalb bei Lotze plötzlich ein Wertebegriff auftaucht, der nicht mehr mit dem Kants zusammenpasst.

Lotzes Lehr- und Publikationstätigkeit - er war 35 Jahre lang Professor in Göttingen, zum Schluss erhielt er einen Ruf nach Berlin - fällt in die Zeit nach dem Zusammenbruch des deutschen Idealismus - jener mit den Namen Fichte, Schelling und Hegel verbundenen philosophischen Strömung, welche die materielle Welt als Produkt des Geistes zu durchdringen versuchte. Nach Hegels Tod (1831) war ein philosophisches Vakuum entstanden. Das idealistische Vertrauen in die welterzeugende Kraft des spekulativen Geistes mochte man in Akademikerkreisen nicht mehr teilen: Die idealistische Naturphilosophie fand keine Anhänger mehr. Zu deutlich waren die Erfolge der empirischen Naturwissenschaften, die sich in jener Zeit übrigens nicht nur methodisch, sondern auch institutionell gegenüber der Philosophie zu verselbstständigen begannen. Der Glaube an die Philosophie als "Leitwissenschaft" war passé. Einerseits. Andererseits jedoch blieb nach wie vor das Gefühl bestehen, es müsse da doch noch etwas mehr geben als nur die "harten Fakten" der materiellen Welt. Das metaphysische Bedürfnis ließ sich mit den Mitteln der Empirie nicht stillen.

Lotzes Versuch, Philosophie unter nach-idealistischen Bedingungen mit den modernen Wissenschaften zu versöhnen, setzt bei jenem Bedürfnis an, das uns zum Weiterfragen drängt, wenn wir mit wissenschaftlichen Tatsachen konfrontiert werden: Warum ist dies oder jenes so oder so? Im Laufe der Zeit komme durch dieses Nachfragen für jeden Menschen eine individuelle Bildungsgeschichte zustande, deren Umfang und deren spezifische Ausprägungen sich danach richteten, was für den jeweils Fragenden "wertvoll" bzw. "gleichgültig" sei. Die Aufgabe der Philosophie bestehe nun darin, so Lotze, angesichts der Vielzahl der den Bildungsgeschichten zugrundeliegenden Werte nach deren letztem Zusammenhang zu fragen - nach dem, was nicht nur für den oder jenen, sondern was "an und für sich" wertvoll sei. Diesen Gedanken baut Lotze in seiner Spätphilosophie weiter aus. Dort geht es ihm gar nicht mehr um die Wertsetzungen konkreter Individuen, sondern um eine abstrakte "Welt der Werte". Lotzes Philosophie trägt somit, indem sie nach dem (letztlich von allen Subjekten unabhängigen) "Wesen" der Werte fragt, einen starken platonischen Zug. Zugespitzt könnte man sie als platonische Ideenlehre bezeichnen, die - statt mit Ideen - mit Werten operiert. Somit hat Lotze zwar die Pluralform "Werte" in die Philosophie eingebracht, doch anscheinend gerade nicht in relativierender Absicht. Bei Lotze scheint der oben behauptete Zusammenhang zwischen Wertepluralisierung und Werterelativierung noch nicht zu bestehen.

Nun muss man zwischen der Absicht und dem Erfolg einer philosophischen Terminologie unterscheiden. Lotze suchte nach einer Legitimation dafür, die Philosophie als wissenschaftliche Letztinstanz angesichts der wachsenden Dominanz der Naturwissenschaften zu behaupten - und erfand dafür die hierarchisch gegliederte "Welt der Werte" mit dem Wert des "Guten" als höchstem Punkt. Doch gerade dieser letzte Wert, der immerhin noch als Singularität, als Wert "an sich" gedacht war, wurde von den nachfolgenden Philosophen nicht mehr rezipiert.


Wertepluralismus ohne Werterelativierung?

Wirkmächtig wurde nicht Lotzes Platonismus, sondern lediglich seine sprachliche Pluralisierung der Werte. So wurde seine Auffassung von Werten als Momenten individueller Bildungsgeschichten zu einem wichtigen Motiv in der Theorie der Geisteswissenschaften. Und sein Schlagwort von einer "Welt der Werte" (im Kontrast zur "Welt der Tatsachen") war terminologisch vor allem im südwestdeutschen Neukantianismus fruchtbar, der die philosophischen Teildisziplinen der Erkenntnistheorie, Ethik und Ästhetik als Teile einer allgemeinen "Wertlehre" abhandelte - was bei Kant selbst undenkbar gewesen wäre, was aber durch ausdrückliche Berufung auf Lotze möglich geworden war. Nun bestanden die spezifischen Problemstellungen des Neukantianismus zu einem großen Teil aus Abgrenzungsbemühungen gegen relativistische Einwände à la Nietzsche: Das Erbe des Lotzeschen Wertepluralismus bei gleichzeitiger Ablehnung seines Werteplatonismus, könnte man sagen. Diese Probleme pflanzten sich in der Wertphilosophie Max Schelers bis hin zum "Werturteilsstreit" um Max Weber und zum soziologischen "Positivismusstreit" der 60er Jahre fort. Die Frage, wie man grundsätzlich eine Vielzahl von Werten annehmen und gleichzeitig deren Relativierbarkeit vermeiden könne, ist bis heute nicht beantwortet. Der philosophisch inspirierte Theoriediskurs hat sie einfach fallen gelassen. Dies mag man bedauern - auch angesichts einer empirischen Werteforschung, die seit den 70er Jahren mit einer Definition von "Wert" operiert, die zwar dessen Pluralform voraussetzt, aber im Vergleich zu den Werten Lotzes geradezu inhaltsleer erscheint: "Wert", so definiert R. B. Perry in seiner General Theory of Values, ist "any object of interest", jedes beliebige Objekt des Interesses. Als solches ist es nichts anderes als der Tauschwert, von dem schon Adorno vermutete, dass er "bei Lotze" in die philosophische Terminologie "eingedrungen" sei.

Folgendes könnte man festhalten: Von Kants singulärem Wertebegriff - der Würde des Menschen - führt kein direkter Weg zu unserer heutigen pluralen Auffassung von Werten. Erst die philosophische Genese des Wertepluralismus bei Hermann Lotze - ein Notbehelf angesichts des Zusammenbruchs des deutschen Idealismus - führte rezeptionsgeschichtlich zu Problemen der Relativierung der Werte, die in Nietzsches "Umwertung aller Werte" auf besonders prägnante Weise zum Ausdruck gekommen sind. Es dürfte nicht schaden, wenn man sich in der aktuellen Wertedebatte dieser verschlungenen Begriffsgeschichte der "Werte" erinnert. Denn der Vorwurf der Beliebigkeit kann immer drohen.


Stephan Schmauke (* 1970) ist Philosoph und arbeitet als freier Lektor und Publizist in Bonn.
schmauke@web.de

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 10/2012, S. 45-48
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. November 2012