Schattenblick →INFOPOOL →GEISTESWISSENSCHAFTEN → PHILOSOPHIE

PROFIL/013: Habermas und seine neuen Verehrer (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion 2/2009

"Alt, aber nicht fromm"
Jürgen Habermas und seine neuen Verehrer

Von Edmund Arens


Einst war Jürgen Habermas ein rotes Tuch für konservative Politiker, Professoren und Bischöfe; heute wird er sogar vom Papst zustimmend zitiert. Der Philosoph aber bleibt bei aller respektvollen Annäherung an Religion ein auf Abstand bedachter Beobachter, der sich gegen Vereinnahmung wehrt.


*


Jürgen Habermas, der am 18. Juni 2009 seinen 80. Geburtstag begeht, ist seit Jahrzehnten nicht nur ein viel diskutierter Philosoph, sondern zugleich ein scharfzüngiger Zeitdiagnostiker. Letztes Jahr erschien der Band XI seiner "Kleinen Politischen Schriften", in denen er so ziemlich alle brisanten Fragen von Auschwitz bis Zivilgesellschaft ebenso tagespolitisch aktuell wie theoretisch unterfüttert behandelt hat.

Unter dem Titel "Ach, Europa" (Frankfurt 2008) legt er nunmehr schonungslose Analysen zur Zukunft Europas, zur fehlenden Handlungsfähigkeit der Europäischen Union, zur Reform der europäischen Institutionen und zu einer Politik der abgestuften Integration nach dem Scheitern des Verfassungsvertrags vor. Hinzu kommen Überlegungen zur Qualitätspresse als unverzichtbarem Rückgrat der politischen Öffentlichkeit und zum Beitrag mediengestützter Massenkommunikation zur Ausbildung reflektierter öffentlicher Meinungen. Dabei nimmt er auch die aus der Medienmacht eines Silvio Berlusconi resultierenden Pathologien der politischen Kommunikation aufs Korn.

Ende letzten Jahres hat Habermas in einem großen Interview mit der Wochenzeitung "Die Zeit" angesichts der gegenwärtigen Finanzkrise den "Privatisierungswahn" der neoliberalen Agenda gegeißelt (6. November 2008), die "Anlegerinteressen eine rücksichtslose Dominanz einräumt, die ungerührt wachsende soziale Ungleichheit, das Entstehen eines Prekariats, Kinderarmut, Niedriglöhne und so weiter in Kauf nimmt, die (...) Kernfunktionen des Staates aushöhlt". Der Neoliberalismus verscherble die Reste der politischen Öffentlichkeit an Rendite steigernde Finanzinvestoren und mache Kultur und Bildung von den Interessen konjunkturempfindlicher Sponsoren abhängig. In Anbetracht des Desasters dieser Politik fordert er eine demokratisch-politische Zähmung des Marktes durch internationales Recht und transnationale politische Institutionen, die globale Probleme im Sinne einer zukünftigen Weltinnenpolitik beraten und politisch aushandeln.


Verdächtigt als geistiger Handlanger der RAF-Terroristen

Der Frankfurter Philosoph Habermas galt bei bürgerlich Gesinnten lange Zeit als gefährliche intellektuelle Speerspitze des Neomarxismus. Selbst der Patriarch der Kritischen Theorie, Max Horkheimer, empfahl seinem Freund Theodor W. Adorno im Jahr 1958, dessen Assistenten Habermas aus dem Frankfurter Institut für Sozialforschung zu entfernen. In den sechziger Jahren wurde der junge Intellektuelle zunächst als Vordenker der Studentenbewegung wahrgenommen, der sich für die Hochschulreform und gegen den Vietnamkrieg engagierte. 1967 erntete Habermas indessen wütenden Protest seiner studentischen Sympathisanten, als er die aktionistischen Studenten des "linken Faschismus" bezichtigte und die Träume der Studentenbewegung 1968 auf dem Frankfurter Schüler- und Studentenkongress als "Scheinrevolution" titulierte.

Die Absage an den linken Aktionismus hat freilich nicht verhindert, dass Habermas von Konservativen als geistiger Handlanger der RAF-Terroristen verdächtigt wurde. Als er 1971 Frankfurt verließ, um an der Seite Carl-Friedrich von Weizsäckers Co-Direktor des Starnberger Max-Planck-Instituts zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt zu werden, verweigerte ihm die Universität München eine Honorarprofessur. Dafür sorgten ausgerechnet seine philosophischen Kollegen vor Ort im Verein mit Rektor Nikolaus Lobkowicz.

In den achtziger Jahren stand Habermas dann im Mittelpunkt des erbittert geführten so genannten Historikerstreits, den er selbst 1986 ausgelöst hatte durch seine kritische Besprechung von Werken revisionistischer Historiker, welche die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung bestritten. Sie relativierten die NS-Verbrechen, indem sie diese gegen stalinistische Verbrechen aufrechneten, um damit die deutsche Nazigeschichte zu normalisieren. Während des Historikerstreits erfuhr Habermas am eigenen Leibe unter anderem die geballte Medienmacht der "Frankfurter Allgemeine Zeitung", deren deutschnationale Geister ihn nach allen Regeln des Denunziationsjournalismus diffamierten.


Nicht erst die Frankfurter Friedenspreisrede brachte die Wende

Mit seiner viel beachteten Friedenspreisrede, gehalten einen Monat nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001, wendete sich das Blatt. Was Habermas in der Frankfurter Paulskirche über "Glauben und Wissen" ausführte, stieß auf größtes Interesse auch jener, die ihn früher links liegen gelassen hatten. Seine Auseinandersetzung mit der "postsäkularen Gesellschaft", welche sich "auf das Fortbestehen religiöser Gemeinschaften in einer sich fortwährend säkularisierenden Umwelt" einzustellen und damit für einen produktiven Umgang der säkularen und der religiösen Seite miteinander zu sorgen habe, ließen auch die Herzen katholischer Hierarchen höher schlagen. Dagegen rieben sich manche von Habermas' Freunden verwundert die Augen und sahen sich zu distanzierenden Bemerkungen bemüßigt: Er sei auf seine alten Tage offenbar altersmilde, wenn nicht gar fromm geworden.

Freilich hat Habermas in seiner Friedenspreisrede zuallererst die bedrohliche Dimension von Religion angesprochen, die mit dem 11. September 2001 unübersehbar wurde, an dem "die Spannung zwischen säkularer Gesellschaft und Religion (...) explodiert ist". Gegenüber dem terroristisch gewordenen Fundamentalismus verweist er aber zugleich auf "vernünftige" religiöse Formen und Religionsgemeinschaften, die ihm zufolge über semantische Potenziale und normative Ressourcen verfügen. Er spricht sich energisch dafür aus, dass sich "auch die säkulare Seite einen Sinn für die Artikulationskraft religiöser Sprachen bewahrt" und wendet sich vehement gegen einen "unfairen Ausschluss der Religion aus der Öffentlichkeit".

Wer den Habermas der Paulskirchenrede einer theologischen Wende bezichtigt oder darin eine solche begrüßt, verkennt, dass der Frankfurter Philosoph bereits seit drei Jahrzehnten zumindest mit der Politischen Theologie im streitbaren Gespräch stand. In seinem Werk "Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus" (Frankfurt 1973) registrierte er die bei Jürgen Moltmann, Johann Baptist Metz und Dorothee Sölle beobachtbare Repolitisierung der biblischen Überlieferung, bei der seiner Ansicht nach Gott "zum Namen für eine kommunikative Struktur" wird. Im Jahr darauf führt er in Starnberg mit dem Arbeitskreis "Theologie und Politik" Gespräche zu Legitimationsproblemen der Religion (vgl. Dorothee Sölle u.a., Religionsgespräche, Darmstadt 1975).

In Helmut Peukert fand er einen politischen Theologen, der ihn in seiner Dissertation "Wissenschaftstheorie - Handlungstheorie - Fundamentale Theologie" (Düsseldorf 1976) differenziert rezipierte, fundamentaltheologisch kritisierte und, ausgehend von der Frage der anamnetischen Solidarität mit den Toten, zur Grundlegung einer fundamentalen Theologie als theologische Handlungstheorie gelangte. Metz hingegen sucht die Konfrontation mit der als tauschrelational und marktförmig bezichtigten kommunikativen Vernunft, der er die anamnetische Vernunft entgegenstellt.

Als ich Habermas einen zu seinem 60. Geburtstag herausgegebenen Diskussionsband über "Habermas und die Theologie" (Düsseldorf 1989) überreiche, erklärte er, die Beiträge zeigten, dass es Zeit sei, an diese Fragen heranzugehen. Zwei Jahre später setzt er sich dann in seinem Aufsatz "Transzendenz von innen, Transzendenz ins Diesseits" (in: Habermas, Texte und Kontexte, Frankfurt 1991, 127-156) ausdrücklich mit theologischen Rezipienten und Kritikern auseinander.

Dies geschieht entlang des Transzendenzbegriffs, den er als Fluchtpunkt eines unendlichen Verständigungs- und Kommunikationsprozesses versteht, welcher die Beschränkungen der historischen Zeit und des sozialen Raumes von innen heraus öffnet und transzendiert. Durch die von Peukert und Metz vorgebrachte "skrupulöse Frage nach der Rettung der vernichteten Opfer" würden wir uns "der Grenzen jeder ins Diesseits gerichteten Transzendenz von innen bewusst; aber sie vermag nicht, uns der Gegenbewegung einer ausgleichenden Transzendenz aus dem Jenseits zu vergewissern."

Der Streit um die Reichweite der kommunikativen Vernunft zog sich weiter über Habermas' Beitrag zum Münsteraner Abschiedssymposium für Metz, in dem er mit seinem Vortrag "Israel und Athen oder: Wem gehört die anamnetische Vernunft?" (in: Metz u.a., Diagnosen zur Zeit, Düsseldorf 1994, 51-64) den Stier bei den Hörnern packt, bis hin zu Metz' "Memoria passionis" (Freiburg 2006), worin ihn letzterer freundschaftlich fragt, ob die letzte Intention menschlicher Sprache die Verständigung sei oder der Schrei.

Ein höchst bemerkenswertes Ereignis, das nicht nur in der kirchlichen Öffentlichkeit für Aufmerksamkeit und Aufsehen sorgte, war ein Zusammentreffen des Frankfurter Philosophen mit dem damaligen Vorsitzenden der Römischen Glaubenskongregation im Januar des Jahres 2004. Mit Kardinal Joseph Ratzinger traf sich Habermas in der Katholischen Akademie in Bayern zu einem Diskurs über "vorpolitische moralische Grundlagen eines freiheitlichen Staates" (vgl. Habermas und Ratzinger, Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion, Freiburg 2005).

Der Austausch mit dem mittlerweile höchsten Repräsentanten der katholischen Kirche war zunächst einmal in inhaltlicher Hinsicht beachtlich. Habermas hielt hier fest, dass in den heiligen Schriften und religiösen Überlieferungen "Intuitionen von Verfehlung und Erlösung, vom rettenden Ausgang aus einem als heillos erfahrenen Leben" artikuliert, ausbuchstabiert und wach gehalten werden, welche die Lernbereitschaft der Philosophie einfordern.

In religiösen Gemeinden und Gemeinschaften seien, sofern sie dem Dogmatismus widerstehen und Gewissenszwang vermeiden, Ausdrucksmöglichkeiten und Sensibilitäten für verfehltes Leben und deformierte Lebenszusammenhänge intakt geblieben. Diese gehören in den öffentlichen Diskurs. Gegenüber allen Ansprüchen auf religiöses Interpretationsmonopol sei allerdings mit dem Fortbestehen eines Dissenses zwischen Gläubigen und Nicht-Gläubigen zu rechnen, der im Rahmen einer liberalen politischen Kultur und eines demokratischen Staates kommunikativ und diskursiv ausgetragen werden müsse.

Am Ende des Gesprächs konstatiert Ratzinger jedenfalls, für die interessierte Öffentlichkeit überraschend: "Hinsichtlich der praktischen Konsequenzen finde ich mich in weitgehender Übereinstimmung mit dem, was Jürgen Habermas über eine postsäkulare Gesellschaft, über die Lernbereitschaft und die Selbstbegrenzung nach beiden Seiten hin ausgeführt hat."

Was den Münchener Diskurs im Nachhinein so brisant macht, betrifft die Frage, ob sich Habermas darin nicht als unfreiwilliger Wahlhelfer Ratzingers betätigt haben könnte. Bot er dem als rigorosen Glaubenswächter geltenden Chef der vormaligen "Heiligen Inquisition" doch die Gelegenheit, sich im subkutanen Vorwahlkampf um die Nachfolge des todkranken Johannes Paul II. als dialogisch offenen Religionsintellektuellen von europäischem Format zu präsentieren.


Sensibilität für Versagtes und Vorenthaltenes

Immerhin tut Papst Benedikt XVI. etwas, was der Theologe Ratzinger nie getan hat: er zitiert Habermas. Ausführlich geschah dies im Abschnitt "Dialog der Vernunft" in der Rede des Papstes bei seiner "Begegnung mit führenden Vertretern des Politischen und Öffentlichen Lebens sowie dem Diplomatischen Corps" im September 2007 in der Wiener Hofburg. Ferner wies Benedikt im Text seiner geplanten, wegen Protesten von Professoren und Studierenden aber nicht gehaltenen Vorlesung zur Eröffnung des akademischen Jahres an der römischen Universität "La Sapienza" vom Januar 2008 auf Habermas hin.

Dieser drücke einen weitgehenden Konsens des heutigen Denkens aus, wenn er sage, die Legitimität einer Verfassung als Voraussetzung der Legalität gehe aus zwei Quellen hervor: aus der gleichmäßigen politischen Beteiligung aller Bürger und aus der vernünftigen Form, in der die politischen Auseinandersetzungen ausgetragen werden. Zu dieser "vernünftigen Form" gehöre laut Habermas ein "wahrheitssensibles Argumentationsverfahren". Benedikt XVI. wörtlich: "Ich finde es bedeutsam, dass Habermas von der Sensibilität für die Wahrheit als notwendigem Element im politischen Argumentationsprozess spricht und so den Begriff der Wahrheit wieder in die philosophische und in die politische Debatte einführt."

In der Einleitung seines Bandes "Zwischen Naturalismus und Religion" (Frankfurt 2005) fasst Habermas für ihn wichtige Ressourcen und Potenziale von Religion zusammen: "Religiöse Überlieferungen leisten bis heute die Artikulation eines Bewusstseins von dem, was fehlt. Sie halten eine Sensibilität für Versagtes wach. Sie bewahren die Dimensionen unseres gesellschaftlichen und persönlichen Zusammenlebens, in denen noch die Fortschritte der kulturellen und gesellschaftlichen Rationalisierung abgründige Zerstörungen angerichtet haben, vor dem Vergessen. Warum sollten sie nicht immer noch verschlüsselte semantische Potenziale enthalten, die, wenn sie in begründende Rede verwandelt und ihres profanen Wahrheitsgehaltes entbunden werden, eine inspirierende Kraft entfalten können?"

Religion verfügt offenbar über eine Sprache, welche zum Ausdruck zu bringen vermag, was einerseits noch fehlt, weil es noch nicht realisiert beziehungsweise was fehlt, weil es verschwunden, verdrängt oder verloren ist. Mit dem Bewusstsein für das Unabgegoltene, Unrealisierte oder Unversöhnte verbindet sich eine Sensibilität für das Vorenthaltene. Religion hält Intuitionen für verweigertes Recht, verwehrte Solidarität sowie vorenthaltene Lebensmöglichkeiten wach. Religiöse Überlieferungen bewahren elementare Erfahrungen und Perspektiven des persönlichen Lebens und gesellschaftlichen Zusammenlebens, welche durch "entgleisende" Modernisierungs- und Rationalisierungsprozesse bedroht sind, vor dem Vergessen und Verschwinden.

Religiöse Überzeugungen beinhalten Habermas zufolge zugleich ein die gegebenen gesellschaftlichen und diskursiven Verhältnisse überschreitendes Moment, das sowohl in ihrem Transzendenzbezug als auch in der Verheißung individuellen Heils sowie kollektiver Befreiung beziehungsweise Erlösung zum Ausdruck kommt. Religiöse Sprache artikuliert Erfahrungen, die sich seiner Auffassung nach in ihrem "opaken Kern" der diskursiven Übersetzung verweigern oder entziehen. Die semantischen Potenziale der Erinnerung, des Protests und der Hoffnung müssen ihm zufolge soweit wie möglich übersetzt und damit diskursiv entbunden werden, um zu einer inspirierenden gesellschaftlichen Kraft zu werden.

In einer Vorlesung, die Habermas 2007 an der Hochschule für Philosophie der Jesuiten in München gehalten hat, kommt er erneut auf ein gerade auch bei profanen Gemütern zu weckendes und wach zu haltendes "Bewusstsein von dem, was fehlt" zu sprechen (vgl. Michael Reder und Josef Schmidt [Hg.], Ein Bewusstsein von dem, was fehlt. Eine Diskussion mit Jürgen Habermas, Frankfurt 2008). Er unterstreicht den notwendigen Dialog zwischen säkularer Vernunft und religiösem Glauben, welche er in einem wechselseitigen Lernprozess sieht.

Mit Bezug auf die Regensburger Rede Benedikts XVI., worin der Papst die metaphysische Vernunft "unerwartet modernitätskritisch" in Anspruch genommen habe, stellt der Denker der kommunikativen Vernunft pointiert heraus: "Fides quaerens intellectum - so begrüssenswert die Suche nach der Vernünftigkeit des Glaubens ist, so wenig hilfreich scheint es mir zu sein, jene drei Enthellenisierungsschübe, die zum modernen Selbstverständnis der säkularen Vernunft beigetragen haben, aus der Genealogie der 'gemeinsamen Vernunft' von Gläubigen, Ungläubigen und Andersgläubigen auszublenden."


Visionen gelingenden Lebens in Lebensformen verkörpert

Der Frankfurter Philosoph interessiert sich offensichtlich für den Beitrag, den Religionsgemeinschaften als zivilgesellschaftliche Akteure in der Öffentlichkeit erbringen. Religionen kommen bei ihm inzwischen als Formen dichter ethischer Vergemeinschaftung in den Blick, in denen Visionen gelingenden Lebens in Lebensformen verkörpert und antizipiert werden, in denen soziale Energien der Bindung, der Solidarität und der Kritik freigesetzt werden, die insofern wichtige gesellschaftliche Ressourcen darstellen. Dabei verhalte sich das nachmetaphysische Denken zur Religion "lernbereit und agnostisch zugleich".

Zu meinen gerade auch aus dem Gespräch und der Auseinandersetzung mit seiner Theorie heraus entstandenen Überlegungen zu einer kommunikativen Religionstheologie (vgl. Gottesverständigung. Eine kommunikative Religionstheologie, Freiburg 2007) erhielt ich von Habermas ein eindrückliches Schreiben. Er habe aus meinem Buch "nicht nur eine Menge religionssoziologischer Details gelernt, sondern die ganze Komplexität der Aussage, dass Religion kein Weltbild, sondern ein way of life ist, begriffen. Außerdem begegnet mir in Ihrer Religionstheologie eine Form der selbstreflexiven Vergewisserung der christlichen Theologie im Rahmen der Religionsgeschichte und des Universums der Weltreligionen, die für die Klärung möglicher interreligiöser Verständigung auch aus meiner Sicht hilfreich ist (...) In der multikulturellen Weltgesellschaft kann es keine Verständigung über gemeinsame Normen und das richtige Verständnis einer kosmopolitischen Rechtsordnung geben ohne einen interreligiösen Diskurs zwischen Weltreligionen, die (...) das Reflexionsniveau Ihrer Religionstheologie erreicht haben müssten." Es folgen in dem Schreiben differenzierte Anfragen zum Geltungsanspruch von Glaubensaussagen, zum Ort der Theologie in der Universität und zum Verhältnis von kommunikativer Vernunft und Religion.

Habermas bleibt bei aller respektvollen Annäherung an Religion ein auf Abstand bedachter Beobachter, der sich gegen Vereinnahmung wehrt. Er bleibt ein scharfsinniger Diagnostiker der postsäkularen Gesellschaft, der gegen religiös-fundamentalistische Selbstabkapselung ebenso dezidiert Stellung bezieht wie gegen säkularistisch-bornierte Selbstgewissheit. Er bleibt ein verständigungsorientierter Anwalt der öffentlichen Vernunft, der sich dafür stark macht, dass die Religion in die gesellschaftliche und politische Öffentlichkeit gehört, dass sie darin ihre Beiträge einzubringen und im Diskurs zu prüfen, zu präzisieren und nötigenfalls zu korrigieren hat. Er bleibt ein nachmetaphysischer Denker, der der Theologie hilft, sich ihres eigenen Vernunftpotenzials ohne metaphysische Aufblähung einerseits und postmoderne Schwächung andererseits zu vergewissern.

Er bleibt ein zugleich lernbereiter und herausfordernder Gesprächspartner, der in seinem der Wahrheit und Gerechtigkeit, der Solidarität und Gleichheit verpflichteten Denken unberechtigte Macht- und unbegründete Geltungsansprüche einschließlich religiöser, kirchlicher und theologischer kritisiert und gleichzeitig zur wechselseitigen Verständigung über begründete und gerechtfertigte Geltungsansprüche aufruft.

Im Vorgriff auf den bevorstehenden achtzigsten Geburtstag von Habermas ist jüngst ein Interviewband erschienen, in dem sowohl alte Weggefährten wie Alexander Kluge als auch neue Verehrer wie Wolfgang Schäuble zu Wort kommen (vgl. Michael Funken [Hg.], Über Habermas. Gespräche mit Zeitgenossen, Darmstadt 2008). Der gleichfalls vertretene evangelische Bischof Wolfgang Huber mokiert sich darüber, dass Habermas bisher den Dialog mit dem Katholizismus bevorzuge, eben mit Kardinal Ratzinger debattiert habe, aber nicht mit ihm. Was Habermas gegen kirchliche Umgarnung hat, bringt das abschließende Gespräch des Herausgebers mit dem Jubilar gleich in der Überschrift auf den Punkt: "Ich bin alt, aber nicht fromm geworden."



*


Edmund Arens (geb. 1953) ist Professor für Fundamentaltheologie an der Theologischen Fakultät der Universität Luzern. Seit 2006 leitet er die Arbeitsgemeinschaft der katholischen Dogmatiker und Fundamentaltheologen des deutschen Sprachraums. Veröffentlichungen zum Thema: Gottesverständigung. Eine kommunikative Religionstheologie, Freiburg-Basel-Wien 2007; zusammen mit Helmut Hoping (Hg.): Wieviel Theologie verträgt die Öffentlichkeit? (QD 183), Freiburg-Basel-Wien 2000.


*


Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
63. Jahrgang, Heft 2, Februar 2009, S. 79-83
Anschrift der Redaktion:
Hermann-Herder-Straße 4, 79104 Freiburg i.Br.
Telefon: 0761/27 17-388
Telefax: 0761/27 17-488
E-Mail: herderkorrespondenz@herder.de
www.herder-korrespondenz.de

Die "Herder Korrespondenz" erscheint monatlich.
Heftpreis im Abonnement 10,40 Euro.
Das Einzelheft kostet 12,00 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Mai 2009