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FRAGEN/018: Spuren eines Lebens - Stefan Müller-Doohm zur Habermas-Biographie (Einblicke - Uni Oldenburg)


Einblicke Nr. 59 - Ausgabe 2014
Das Forschungsmagazin - Carl von Ossietzky Universität Oldenburg

Spuren eines Lebens
Versuche, die Entwicklung eines Denkens zu rekonstruieren:
Der Soziologe Stefan Müller-Doohm hat eine Biographie über Jürgen Habermas geschrieben. Ein Interview

Von Manfred Richter


Richter: Herr Müller-Doohm, Sie beschäftigen sich seit Jahrzehnten mit Jürgen Habermas, haben nun die erste große Biographie über ihn vorgelegt. Können Sie sich noch an Ihre erste Begegnung mit Habermas erinnern?

Müller-Doohm: Der Name Jürgen Habermas ist mir erstmals bei einem Seminar an der Frankfurter Universität begegnet. Der Raum war - wie so oft - viel zu klein für die vielen Studierenden. Soziologie begann damals Modefach zu werden. Der Dozent, Manfred Teschner, empfahl uns gleich bei der ersten Sitzung die Lektüre der 1963 erschienenen Aufsatzsammlung "Theorie und Praxis" von Habermas. Und er ließ dezent anklingen: Es könne sein, dass der Autor von Heidelberg nach Frankfurt wechsele. Dieser Hinweis wurde mit lebhaftem Klopfen quittiert, was mich ermunterte, mir das Buch zu besorgen und akribisch durchzuarbeiten.


Richter: Tatsächlich wurde Habermas dann im Sommersemester 1964 als Nachfolger von Max Horkheimer berufen.

Müller-Doohm: Ja, der neue Ordinarius für Philosophie und Soziologie bot die Vorlesung "Geschichte der Soziologie" an. Das war meine erste Face-to-Face-Begegnung mit Habermas, der sich - anders als etwa Theodor W. Adorno - bei seiner Vorlesung weitgehend an seine schriftlich ausgearbeitete Vorlage hielt. Es bedurfte einer enormen Konzentration, um seinen dichten und komplexen Ausführungen zu folgen. Wie damals üblich, versuchten wir Studierenden mitzuschreiben - ein, wie meine noch vorhandenen Notizen bezeugen, vergebliches Unterfangen.


Richter: Verstehen Sie sich als Schüler von Jürgen Habermas?

Müller-Doohm: Wer das Glück hatte, Habermas als Hochschullehrer zu begegnen, und wer bereit war, sich seinen wissenschaftlichen Ansprüchen zu stellen, konnte gar nicht umhin, von ihm zu lernen. Die Lektüre seiner Bücher war für meine Generation und für mich in diesen Studienjahren - und natürlich auch später - eine Selbstverständlichkeit. Ob es berechtigt ist, mich als Habermas-Schüler zu bezeichnen, sei dahingestellt. Ich habe ja nicht in Frankfurt, sondern an der Universität Gießen bei der Soziologin Helge Pross mein Studium mit der Promotion abgeschlossen.


Richter: Sie unterscheiden zwischen Habermas als Wissenschaftler und als öffentlichem Intellektuellen. Wer von beiden steht Ihnen näher?

Müller-Doohm: Das kann man so nicht beantworten. Habermas hat in seinen zahlreichen öffentlichen Stellungnahmen und Interviews immer wieder betont, dass er Wert darauf lege, zwischen seiner Rolle als Wissenschaftler und als öffentlichem Intellektuellen zu trennen. Die Reflexionen des Philosophen und die Forschungen des Sozialwissenschaftlers sind etwas anderes als die Praxis des intransigenten Intellektuellen. Aber bei einem Sozialtheoretiker wie Habermas, dessen Ambitionen einer zeitgemäßen Theorie der Moderne gelten, gibt es Affinitäten zwischen den wissenschaftlichen Einsichten und der Zielrichtung der Interventionen des Intellektuellen, der beispielsweise die Europapolitik der deutschen Bundeskanzlerin attackiert oder der mit Joseph Ratzinger, dem ehemaligen Papst Benedikt XVI, diskutiert oder auf dem Höhepunkt der Finanzmarktkrise in Zeitungen die Demokratie gegen die Dynamik eines globalen Kapitalismus verteidigt.

Habermas ist insofern eine Ausnahme, als er bis heute bereit ist, den geschützten Raum der Wissenschaften zu verlassen, um sich in der politischen Öffentlichkeit Gehör zu verschaffen - eine Bereitschaft, die mich bis heute beeindruckt.


Richter: Hat die Arbeit an seiner Biographie Ihre Sicht auf Habermas verändert?

Müller-Doohm: Die von mir betriebene Biographieforschung unternimmt den Versuch, einerseits den Entwicklungsprozess der Denkweise von Habermas zu rekonstruieren und anderseits nachzuvollziehen, wie er den öffentlichen Meinungs- und Wissensbildungsprozess in der Bonner und Berliner Republik, ihre Mentalitätsgeschichte beeinflusst hat. Eine solche Forschung führt natürlich zu neuen, auch überraschenden Einsichten. Sie erlaubt herauszufinden, ob und wie die Denkentwicklung von Habermas, aber auch sein politisches Engagement von der Zeitgeschichte beeinflusst ist. So versteht man die Kritik des jungen Bonner Studenten Habermas von 1953 an den Verstrickungen Martin Heideggers ins "Dritte Reich", dessen Weigerung, dazu Stellung zu nehmen, erst dann richtig, wenn man sich in das restaurative Klima des Nachkriegsdeutschlands der Adenauer-Jahre hineinversetzt, als "kommunikatives Beschweigen" die vorherrschende Haltung war. Mir ist im Rahmen meiner mit anregenden Mitarbeitern durchgeführten Projekte zur Biographieforschung klar geworden, dass sich an den Spuren einer Lebensgeschichte wie der von Jürgen Habermas besonders gut studieren lässt, was die Pointe der soziologischen Betrachtungsweise ist: die Dialektik von Individuum und Gesellschaft.


Richter: Habermas ist 85 Jahre alt. Er gilt als repräsentativer Denker der alten Bundesrepublik. Sind seine theoretischen Ansätze noch zeitgemäß? Haben seine Zwischenrufe noch Gewicht?

Müller-Doohm: Habermas hat seine Gesellschaftstheorie bewusst als Projekt bezeichnet, das nicht irgendwann abgeschlossen ist, das vielmehr auf der Basis neuer historischer Erfahrungen und wissenschaftlicher Erkenntnisse fortzuführen ist. Er hat seine Konsensustheorie der Wahrheit auf dem Boden der Diskurstheorie mehrfach revidiert, seine Theorie der Moderne immer wieder ausdifferenziert und sie schließlich ergänzt um eine elaborierte Moral-Recht- und Demokratietheorie. Derzeit arbeitet er am Entwurf einer Religionsphilosophie. Kurzum: Es handelt sich bei den Projekten von Habermas um Work in Progress.

Nicht zuletzt die weltweite Resonanz, die diese philosophischen Konzepte gefunden haben, demonstriert die Aktualität der Schriften von Habermas. Aber Aktualität darf nicht mit Wahrheit für alle Zeiten verwechselt werden. Es gibt keine Gesellschaftstheorie, die in all ihren Aussagen Gültigkeit über die historische Zeit hinaus beanspruchen könnte. Das gilt gerade auch für Habermas, der die These vertritt, dass dem in Sprache verkörperten Wissen eine revisionäre Kraft eigen ist.


Prof. Dr. Stefan Müller-Doohm studierte in Frankfurt/M., Marburg und Gießen Soziologie, Politikwissenschaft und Psychologie. 1972 promovierte er an der Universität Gießen. 1974 folgte Müller-Doohm dem Ruf als Professor für Soziologie an der Universität Oldenburg. Dort ist der 2007 emeritierte Soziologe bis heute tätig. Er ist Leiter der Forschungsstelle Intellektuellensoziologie und Gründer der Adorno-Forschungsstelle.

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Quelle:
Einblicke Nr. 59, 29. Jahrgang, Seite 14-15
Herausgeber:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. April 2015

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