Schattenblick →INFOPOOL →GEISTESWISSENSCHAFTEN → PHILOSOPHIE

FRAGEN/015: Strahl in einer Stadt aus Sand - Gespräch mit Prof. Dr. Johann Kreuzer (Uni Oldenburg)


Einblicke Nr. 55 - Frühjahr 2012
Forschungsmagazin der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg

Strahl in einer Stadt aus Sand

Von Matthias Echterhagen



Jeder hat sie angesammelt: Utopien und Glückserfahrungen, ob in der Kindheit oder als Erwachsener. Doch welche Rolle spielen Utopien in unserem Alltag heute - werden wir uns ihrer noch bewusst? Und was ist ihr philosophischer Sinn? Der Oldenburger Bloch-Experte Johann Kreuzer über ein Konzept, das in der Wirklichkeit verankert ist - und zugleich weit über sie hinausgeht.


Einblicke: Herr Kreuzer, spielt das Utopische in unserer Gegenwart noch eine Rolle?

Kreuzer: Aber ja - wenn es uns gelingt, die alltäglichen Verdrängungsleistungen zu verringern. Davon gibt es natürlich nicht wenige. Das hat auch mit der technischen Entwicklung zu tun. Seit der Digitalisierung sind Informationswege von physischen Faktoren abgekoppelt. Das ist so - dagegen anzureden wäre bloße Maschinenstürmerei. Nehmen Sie die Smartphones. Es gibt für den Informationsfluss kein Außen mehr. Der Benutzer ist Teil des Informationsflusses geworden. Jederzeitige Abrufbarkeit - Fungibilität - wird allgegenwärtig.

Einblicke: Die neuen elektronischen Medien als Utopie-Blocker?

Kreuzer: Nein, so ist es natürlich nicht. Und wenn jemand ein Smartphone bewusst einsetzt, erleichtert das vieles. Daran ist nichts Schlechtes. Wir müssen uns aber anschauen, was das jederzeitige Zurverfügungstehen, die permanente Erreichbarkeit durch diese gewiss innovative Technologie bedeuten. Es ist, als komme eine Entwicklung zum Abschluss, die mit der Manufaktur-Periode ihren Ausgang nahm. "Der ideale Arbeiter in einem Webstuhl", hat Diderot einmal spitz formuliert, "ist der Mensch, der bis zu den Verdauungsvorgängen mit dem Webstuhl eine Einheit geworden ist."

Einblicke: Inwiefern?

Kreuzer: Man wird zu einem Reiz-Relais. Es ist ein Null-Eins- Reagieren - das nennt Walter Benjamin in einem Text den reflektorischen Charakter, der nicht mehr zur Erfahrungsbildung kommt und damit auch nicht mehr zu Geschichten, die man erzählen kann. Es gibt nur noch fortwährendes Reagieren-Müssen - und keine Reflexion oder gar griechische Phronesis, Besinnung also. Die wird verdrängt durch bloße Reflexe auf Bildreize. Eine Allpräsenz von Bildern, von Icons, die letztlich bildfeindlich ist. Man soll ja nichts wirklich anschauen. Man soll reagieren. Das verändert unseren Bewusstseinsapparat natürlich.

Einblicke: Und verdeckt auch das Utopische in unserem Alltag?

Kreuzer: Nun gibt es verschiedene Vorstellungen von Utopien. Die entscheidende Vorstellung hat Bloch in die Diskussion des 20. Jahrhunderts eingebracht. Utopie ist nicht etwas, so der Philosoph, was der Wirklichkeit in irgendeiner Weise hinzukommt. Das gibt es natürlich auch: etwa in Form technischer Utopien. Jene Verkehrsutopien der 1960er Jahre zum Beispiel, bei deren Anblick es einem heute kalt über den Rücken läuft. Nein, was Bloch meinte, war dies entscheidende Moment: Es geht etwas mit mir um. Ich merke, dass ich unzufrieden bin. Ich möchte auf etwas Anderes hin. Und ich merke, dass das nicht bloß mein - mehr oder minder zufälliges - Wollen und Entwerfen ist oder bloßes wishful thinking.

Einblicke: Sondern?

Kreuzer: Dass es da einen Grund gibt, eine Motivation, die einen mit dem, was man vorfindet, unbefriedigt sein lässt. Utopie heißt in diesem Sinne nicht, etwas hinzuzuerfinden. Utopie, das heißt vielmehr, ein Etwas als Gewissheit zu haben, das noch nicht realisiert ist - aber handlungsentscheidend. Ein Etwas als Erfahrungsdatum. Eben dies hat Bloch mit einer guten Formel umschrieben: dem "Dunkel des gelebten Augenblicks".

Einblicke: Geben Sie uns ein Beispiel?

Kreuzer: Jeder kennt diese Augenblicke in der Kindheit. Man könnte sie Glückserfahrungen nennen. Ich erinnere mich, wie ich als Kind einmal eine Stadt aus Sand gebaut hatte. Beim Spielen darin reflektierte dann plötzlich ein Stück Glas den Lichtstrahl der Sonne. Dieses Reflektieren hatte eine Überzeugungskraft, es war so etwas wie Sinnevidenz. Von solchen Erfüllungserlebnissen sammeln wir viele in unserem Leben an. Und ahnen dabei, dass der Großteil unseres Lebens den Verheißungen dieser erfüllten Augenblicke nicht entspricht. Diese Ahnung hat mit dem "Dunkel des gelebten Augenblicks" zu tun. Der kommt unserem Erfahren nicht hinzu. Der sitzt vielmehr im Zentrum unseres Erfahrens.

Einblicke: Es handelt sich also um etwas ganz und gar Alltägliches?

Kreuzer: So wie das "Jetzt", das jetzt schon vorbei ist. Dunkel steht also nicht für etwas Geheimnisvolles oder etwas bloß zu Erwartendes. Der Sinn der Utopie richtet sich viel entscheidender auf das, was im Gegenwärtigen möglich ist - darauf, und das ist etwas, was sich von Bloch her als Arbeitsprogramm fortschreibt, was "noch nicht" ist. Das geht im Augenblick vorüber - das ist der Strahl, der sozusagen mit einem Schlag die Stadt aus Sand sinnerfüllt werden ließ.

Einblicke: In der Gegenwart möglich und ihr eingeschrieben, aber noch nicht erfüllt: Kant, Hegel und Augustinus hatten erheblichen Einfluss auf das Blochsche Utopieverständnis. Was genau haben sie Bloch mitgegeben?

Kreuzer: Von Augustinus stammt ein schneidender Satz: "Wer in der Hoffnung glückselig ist, ist es noch nicht." Was wir als Hoffnung - mit dem Lichtstrahl auf den Sandbänken menschlicher Praxis - erinnert haben, von dem wissen wir natürlich, dass es "nicht ist". Und darin besteht gerade sein Sinn: als Negation des Vorfindlichen. Es ist ein Maßstab, mit dem und an dem wir das geschichtlich Vorfindliche messen. Kant hat so etwas regulativen Vernunftgebrauch genannt.

Einblicke: Was sich mit dem altgriechischen utopia deckt: dem "Nicht-Ort", dem Nicht-Verortbaren.

Kreuzer: Und genau hier - um unseren kleinen Betriebsausflug in die Philosophie zu ergänzen - schließen in je verschiedener Weise Bloch wie Adorno an Hegel an: an dessen Auffassung des Sinns bestimmter Negation. Was ist im "Nicht" enthalten? Der "Vorschein" dessen, was noch nicht ist: dafür steht Blochs Enzyklopädie des Hoffnungssinns von Utopie. Oder das strikte Bilderverbot, das in der Benennung der Katastrophen die Spiegelschrift von deren Gegenteil sieht: das führt Adorno durch. Und er zeigt in der "Negativen Dialektik": die Negation des Lichtstrahls ist eben als negierte Sinnevidenz nicht verschwunden - sondern gerade als Negation weiter präsent: eben als das Ungenügende, das wir am Vorfindlichen haben.

Einblicke: Bleibt etwas von solchen "Lichtstrahl-Erfahrungen" in uns zurück - oder bleichen sie einfach langsam aus?

Kreuzer: Wir wissen, dass das, was wir als Alltagsgeschehen wahrnehmen, dem Lichtstrahl nicht entspricht. Aber wir haben den Maßstab, der unser Alltagswissen mit der erinnerten Sinnevidenz verspannen lässt. Und dadurch erbt sich das fort. Und es kommt natürlich auch darauf an, wie bewusst wir mit solchen besonderen Erfahrungen umgehen.

Einblicke: Für Bloch findet sich das Noch-Nicht gerade in der Kunst wieder, als Vorschein des Möglichen. Welche Rolle spielt die Kunst, sich das, was Sie als Maßstab bezeichnet haben, bewusst zu halten?

Kreuzer: Unterscheiden wir hier zwischen "Realität" und "Wirklichkeit". Es gibt Realität, die vorhanden ist und die man empirisch bestimmen kann. Das hat noch nicht viel mit Kunst zu tun. Wirklichkeit hingegen ist das Achten auf die Kräfte, die da wirken. Wenn ich ein Musikstück höre und mich frage: Was gefällt mir da, was berührt mich? Das sind dann nicht die Sinusschwingungen der Tonkurve. Was einen da - immer mit Bloch zu reden - in das Dunkel des gelebten Augenblicks führt, ist in gewisser Weise nichts. Denn ich kann dieses Erfahren als Objekt nicht dingfest machen, um der dabei gemachten Erfahrung habhaft zuwerden.

Einblicke: Warum ist es für mich dennoch wirklicher als die Realität?

Kreuzer: Weil ich darin bemerke, was mein Erleben strukturiert, was die Bedingungen der Möglichkeit sind, die uns zu Erfahrungen kommen lassen. Es geht um Ermöglichung. Und hier kommt die Kunst ins Spiel. Kunst hat mit dem zu tun, was die Bedingungen der Wirklichkeit von Erfahrung begreiflich werden lässt. Adorno hat das mit einer sehr prägnanten Formel umschrieben: "Worauf die Sehnsucht an den Kunstwerken geht - die Wirklichkeit dessen, was nicht ist -, das verwandelt sich ihr in Erinnerung." Das ist ein zentraler Satz seiner "Ästhetischen Theorie". Und einer, der für die Gegenwart, für die Selbstreflexion gesellschaftlicher Erfahrung, nicht nur aktuell, sondern unverzichtbar ist.

Einblicke: Was sind die Perspektiven der Oldenburger Forschungen zu Adorno und Bloch?

Kreuzer: Es gibt hier die kritische Masse für einen Forschungsschwerpunkt zu den intellektuellen Debatten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Aktivitäten um das Karl-Jaspers-Haus, das Hannah Arendt-Zentrum, die Adorno-Forschungsstelle: das ist eine breite Forschungsbasis für die intellektuelle Topographie der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Das zu bündeln, ist die gemeinsame Perspektive - etwas sehr konkret Mögliches.


ZUR PERSON
Prof. Dr. Johann Kreuzer, Hochschullehrer für Philosophie an der Universität Oldenburg, forscht zur Geschichte der Philosophie - neben Hölderlin und Augustinus bilden Hegel und Adorno Schwerpunkte - und leitet die Oldenburger Adorno-Forschungsstelle. Er ist Mitherausgeber eines Adorno-Handbuchs und Ausgewählter Schriften von Ernst Bloch. Seit 2010 ist Kreuzer Mitglied des siebenköpfigen Vorstands der internationalen Hölderlin-Gesellschaft.

*

Quelle:
Einblicke Nr. 55, 27. Jahrgang, Frühjahr 2012, Seite 20-25
Herausgeber:
Präsidium der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
Ammerländer Heerstraße 114-118, 26129 Oldenburg
Telefon 0441/798-5446, Fax 0441/798-5545
E-Mail: presse@uni-oldenburg.de
www.uni-oldenburg.de/presse/einblicke/

Einblicke erscheint zweimal im Jahr und kostet 2,50 Euro


veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Juli 2012