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FRAGEN/014: Julian Nida-Rümlein - "Uns bleiben die unlösbaren Probleme" (Spektrum der Wissenschaft)


Spektrum der Wissenschaft 3/11 - März 2011

"Uns bleiben die unlösbaren Probleme" - Interview mit Julian Nida-Rümlein

Der Münchener Philosoph Julian Nida-Rümelin über das Wesen der Philosophie, die Fortschritte der Ideen sowie die wiedergewonnene Relevanz der Disziplin für Wissenschaft und Gesellschaft.

Interview von Reinhard Breuer


Julian Nida-Rümlein ist Inhaber des Lehrstuhls für Philosophie und Politische Theorie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Er entstammt einer Künstlerfamilie, promovierte in München bei dem Wissenschaftstheoretiker Wolfgang Stegmüller und hielt Professuren in Tübingen, Göttingen und in München am Geschwister-Scholl-Institut. 2001 bis 2002 war er Kulturstaatsminister in der Regierung Schröder. Seit 2008 ist er Präsident der Deutschen Gesellschaft für Philosophie.


Spektrum der Wissenschaft: Herr Professor Nida-Rümelin, was für eine Wissenschaft ist Philosophie?

Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin: Dreierlei: Residual-, Integrations- und Orientierungswissenschaft. Aber der Reihe nach. Etwas ironisch gesprochen ist sie zuerst eine Residualwissenschaft. Residual - also das, was an Fragen übrig bleibt, die nicht in eigene Wissenschaften ausgewandert sind. Damit bleiben der Philosophie die unlösbaren Fragen.

Spektrum der Wissenschaft: Das klingt nach intellektueller Resteverwertung.

Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin: Man kann es auch positiver sehen. Es gibt Grundfragen, die sich nicht in das methodische Korsett einer Einzeldisziplin zwängen lassen. Also zum Beispiel die Frage nach praktischer oder theoretischer Vernunft: Was ist ein gutes Argument für etwas? Das kann kein Thema sein für eine Einzelwissenschaft, und deshalb bleibt sie der Philosophie erhalten. Dasselbe gilt für metaphysische und ontologische Fragen.

Spektrum der Wissenschaft: Beschäftigt sich die Philosophie immer mit denselben Fragen? Gibt es denn überhaupt Fortschritte in der Philosophie?

Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin: Sie sind Physiker. Ist Physik kein Fortschritt? Physik ist ein Kind der Philosophie. Dort, wo die Philosophie sehr erfolgreich ist, löst sich meistens eine Einzeldisziplin ab, etabliert sich und entwickelt diese Fragen in einem eigenen methodischen Rahmen.

Spektrum der Wissenschaft: Haben solche Bewegungen nicht umgekehrt die Philosophie aus großen Bereichen vor allem der Naturwissenschaft hinausgeworfen? Steckt die Philosophie also in einem Elfenbeinturm? Manche Physiker sagen ja: Die Philosophie, die wir brauchen, machen wir lieber selbst.

Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin: Die meisten bedeutenden Physiker des 19. und 20. Jahrhunderts wie Heisenberg oder Weizsäcker, Helmholtz oder Einstein haben zur Philosophie wichtige Beiträge geleistet. Und so sehe ich es als sehr erfreulich an, wenn sich Fragen, mit denen sich die Philosophie über Jahrhunderte beschäftigt hat, in einer Einzelwissenschaft sauber traktieren und möglicherweise mit neuen Theorien sogar lösen lassen. Es ist allerdings in der Regel eine Illusion zu meinen, dass damit die philosophischen Probleme erledigt sind. Denken Sie an die gegenwärtige Grundlagenkrise der Ökonomie, wo die alte Frage aufgeworfen wird: Was ist eigentlich Rationalität? Ökonomie ist eine Theorie, die auf einem bestimmten Rationalitätsmodell beruht, ganz zentral auf Basis der Spieltheorie ?

Spektrum der Wissenschaft: Das ist Mathematik. Was hat das mit Philosophie zu tun?

Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin: Die Mathematik ist da nur Hilfsmittel. Es geht darum, verschiedene Interaktionen zwischen den Menschen sauber zu charakterisieren - über so genannte Formate. Der Zweck dieser Übung ist nicht Mathematik an sich, sondern die Prognose darüber, wie Menschen sich verhalten. Interessant ist, dass sich ein Gutteil dieser Prognosen in der Realität als falsch herausstellt. Es sind die Prämissen und Postulate dahinter, die häufig, hier hat die experimentelle Spieltheorie viel beigetragen, im krassen Widerspruch stehen zu den empirischen Befunden. Da stellt sich die Frage: Sind die Leute irrational? Oder haben wir die falsche Rationalitätstheorie? So kommt wieder die Philosophie ins Spiel.

Spektrum der Wissenschaft: In der Laborforschung entsteht eher eine Aversion bei dem Gedanken: Wir machen hier mit unseren Experimenten die empirische Arbeit, und dann kommt ein Oberphilosoph als Lehrmeister und erklärt mir, was wir hier machen.

Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin: Das ist gerade nicht meine Auffassung. Ich war zum Beispiel über einige Jahre in Berlin Sprecher des interdisziplinären Humanprojekts. Wir haben versucht, die neueren Befunde etwa aus den Neurowissenschaften und der Soziobiologie danach abzuklopfen, ob sich unser Menschenbild fundamental verändern muss. Es gibt eine Reihe von Fachleuten, die genau das sagen: Unser Menschenbild ist völlig falsch, nicht mehr gestützt durch die Empirie. Und dabei habe ich übrigens gerade die Physiker als Bundesgenossen erlebt.

Spektrum der Wissenschaft: Wieso das?

Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin: Den Physikern ist, anders als anderen Forschern, offenbar klar, dass zum Beispiel der Kausalitätsbegriff nicht so einfach ist, wie man sich das in weniger theorieorientierten Naturwissenschaften vorstellt. Was ist eigentlich Kausalität? Dazu gibt es eine aktuelle Debatte in der Philosophie, zu der gerade die Physiker ihre Beiträge leisten.

Spektrum der Wissenschaft: Wollen Philosophen denn die besseren Fachleute auf einzelnen Gebieten sein?

Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin: Das habe ich ja nicht behauptet. Ich sagte, die Philosophie ist eine Residualwissenschaft, bei der bestimmte, querschnitthafte Fragen bleiben. Zweitens ist Philosophie in meinen Augen aber auch Integrationswissenschaft. Sie sollte dazu beitragen, die verschiedenen Befunde aus den Einzelwissenschaften zu einem kohärenten wissenschaftlichen Weltbild zusammenzuführen. Ich glaube nicht, dass die wissenschaftlichen Disziplinen jeweils ihr eigenes Weltbild haben können, sondern nur alle Gebiete zusammen eines.

Spektrum der Wissenschaft: Wie in Carl Friedrich von Weizsäckers »Die Einheit der Natur«?

Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin: Vielleicht nicht in der überzogenen Form, wonach sich alles aus einer einzigen Formel ableiten lässt. Wir sind ja im wissenschaftlichen Prozess meistens Realisten und daher der Meinung, dass wir unsere Theorien nicht bloß als Instrumente für Prognosen entwickeln, sondern damit beschreiben, was der Fall ist. Die Naturwissenschaftler interpretieren so ihr Tun. Und daher kann es nicht sein, dass sich die Welt, wie sie ist, von Theorie zu Theorie fundamental gegensätzlich darstellt - bis hin zur Inkompatibilität.

Spektrum der Wissenschaft: Sie sehen die Philosophie also nicht im Elfenbeinturm.

Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin: Manche Philosophen bewohnen den Elfenbeinturm, aber die Philosophie als Disziplin ist heute weniger darin als je zuvor.

Spektrum der Wissenschaft: Wo interagiert sie mit Wissenschaft oder Gesellschaft?

Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin: Etwa in der Philosophie der internationalen Beziehungen. Erstes Beispiel: Der Wirtschaftswissenschaftler Amartya Sen begann schon vor vielen Jahren in Princeton in den USA zusammen mit der Philosophin Martha Nussbaum, neue Kriterien für die Beurteilung des Entwicklungsstandes der weniger entwickelten Länder zu etablieren. Denn, so sagten die beiden, die ökonomischen Größen sind da allein nicht wirklich aussagekräftig.

Spektrum der Wissenschaft: Wohin führte das?

Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin: Diese Denkansätze sind heute so einflussreich geworden, dass ganze Forscherstäbe in Deutschland und Frankreich dabei sind, sie in konkrete Entwicklungsprogramme umzusetzen. Zweites Beispiel: Lange Jahre dominierte in den internationalen Beziehungen die so genannte realistische Schule: Jeder Staat optimiert sein nationales Interesse und nutzt die Spieltheorie, um seine Strategien zu analysieren und zu optimieren. Und auf einmal kommt jetzt wieder, fast durch die Hintertür, die ethische Dimension der internationalen Politik ins Spiel.

Spektrum der Wissenschaft: Das klingt ungewöhnlich.

Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin: Ist es auch. Denn plötzlich sind fast alle Akteure davon überzeugt, dass es Werte und Normen gibt, die unser außenpolitisches Handeln prägen und die Identität eines Staats ausmachen. Wie gehen wir mit Menschheitsaufgaben um wie Klimaentwicklung oder Ressourcenverbrauch? Rat suchend wenden sich politische Praktiker heute wieder an Philosophen. Um einen zu nennen: Thomas Pogge von der Yale University hat die Idee eines World Health Fund entwickelt. Pogge stellt sich einen zweiten Markt vor, der nicht durch Nachfrage gesteuert wird, sondern durch einen so genannten Impact: Welche Wirkung hat welches Medikament oder eine bestimmte Krankheit wie Malaria auf den »Gesundheitszustand« der Welt? Staaten und Stiftungen sollen den Fund ausstatten, um einen zweiten medizinischen Markt zu etablieren. Das ist schon ziemlich weit gediehen.

Spektrum der Wissenschaft: Ist das noch Philosophie? Das ist doch Politikberatung.

Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin: Erst muss theoretische Arbeit geleistet werden wie von Nussbaum und Sen. Daraus werden konkrete Kriterien für die Praxis entwickelt, für die sich viele Staaten interessieren. Das ist anders als noch vor Jahrzehnten, als sich Philosophen zu fein dafür waren, sich in die Niederungen der Praxis zu begeben.

Spektrum der Wissenschaft: Entwickeln sich philosophische Konzepte über die Zeit?

Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin: Auf jeden Fall. Ich habe einmal untersucht, auf welchen normativen Grundlagen Demokratie eigentlich beruht. Viele meinen ja, da gehe es lediglich um das Spiel der Interessen mit Lobbygruppen, Gewerkschaften oder Verbänden. Natürlich beruht sie auch darauf. Aber ich wollte deutlich machen, dass sie auf fundamentalen Werten und Normen fußt, die mit einem Wahrheitsanspruch vorgebracht werden. Was im Grundgesetz zur Würde des Menschen gesagt wird oder zu den Freiheitsrechten - das beansprucht Ewigkeitsgeltung. Kein Parlament kann das je aufheben.

Spektrum der Wissenschaft: Sind das nicht lediglich Meinungen?

Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin: Keineswegs. Die Grundlagen sind nur sinnvoll, wenn eine Demokratie auf einer normativen Ordnung beruht mit Werten, von denen die Menschen nicht nur meinen, dass sie sich danach verhalten sollten, sondern davon überzeugt sind, dass diese Werte auch gelten. Das nennt man in der Philosophie den ethischen Realismus. Ohne einen solchen Anspruch auf Wahrheit kann keine Demokratie funktionieren.

Spektrum der Wissenschaft: Sie sind Mitglied zahlreicher Gremien zur Bio- und Medizinethik. Ist Ethik eine zentrale Aufgabe der Philosophie? Wenn ja, setzt sich wohl trotz guter Ratschläge in der Gesetzgebung oft der schlechteste Kompromiss durch.

Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin: Es wäre gut, wenn das hohe Niveau, das es da in der philosophischen Debatte gibt, in den Ethik- und Medizinkommissionen eine größere Rolle spielen würde. Wir haben in Deutschland eine ungute Tradition, die diese ethische Kompetenz in erster Linie Theologen, Vertretern von Kirchen oder Umwelt- und Tierschutzverbänden zuweist. Ich habe mich 2001 dafür eingesetzt, dass der Nationale Ethikrat vorrangig mit Fachleuten besetzt wird, um eine sachliche Diskussion zu ermöglichen, also mit medizinischen Praktikern, Juristen und Philosophen.

Spektrum der Wissenschaft: Wie rational kann man mit Normen umgehen? Das sind ja letztlich willkürliche Setzungen.

Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin: Da bin ich ganz anderer Meinung. Unsere gesamte Rechtsordnung beruht auf fundamentalen Annahmen etwa zur Gleichheit von Individuen unabhängig von Stand, Rasse, Geschlecht. Würde man sagen, das können wir so oder auch ganz anders festlegen, dann führte das völlig in die Irre. So gilt das in der Moralphilosophie - ganz ähnlich wie in den Naturwissenschaften. Auch hier verlässt man sich darauf, dass man in der Regel seinen Sinnen trauen kann, dass Kollegen ähnlich beobachten können - alles Annahmen, die sich bewährt haben. Ganz ähnlich ist es in der Ethik, wir haben auch da sehr harte Fakten.

Spektrum der Wissenschaft: Muss man sich moralisch verhalten?

Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin: Wir haben alle bestimmte moralische Überzeugungen. Sie sind sicher mit mir einig, dass es falsch wäre, jemanden zu erschlagen, weil er den eigenen Interessen im Weg steht. Wir haben also harte Fakten in der Moralphilosophie, vergleichbar hart wie in den empirischen Disziplinen.

Spektrum der Wissenschaft: Muss das nicht religiös motiviert sein?

Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin: Keineswegs. Wir leben in einer Gesellschaft, die davon ausgeht, dass die verschiedenen Religionsgemeinschaften einen hinreichend großen überlappenden Bereich normativer und moralischer Überzeugen haben, so dass man human miteinander umgehen kann.

Spektrum der Wissenschaft: Was trägt die Philosophie zur Rechtsprechung bei?

Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin: Man darf ihre Rolle nicht unterschätzen. Ich war ja auch in politischen Ämtern. Damals wurde die Frage beraten, ob Tierschutz ins Grundgesetz aufgenommen werden soll. Es gab viele Stellungnahmen von unterschiedlichen Seiten. Seinerzeit hatte ich das Gefühl, dass es bei so einem ideologisch vorbelasteten Konflikt eher um eristische Dialoge ging, wie Plato das nannte, also darum, zu streiten und Recht zu behalten. Da können die philosophischen, distanzierteren Formen des Dialogs hilfreich sein.

Spektrum der Wissenschaft: Noch mal zur Ethik - verstehe ich Ethik richtig als Regeln für gutes Handeln?

Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin: Es gibt noch ein paar andere Fragen, aber das ist es im Kern. Die Philosophie kann die Rolle des Priesterstands früherer Zeiten jedoch nicht ersetzen. Mit so einem Anspruch würde sie sich übernehmen. Manche hätten das zwar gerne: Wenn es schon keine allseits anerkannten, religiös gestützten Autoritäten mehr gibt, die über gut und schlecht befinden, dann eben die Philosophie. Sie ist eben nicht nur Residual- und Integrationswissenschaft, sondern - und das ist ihre dritte Qualität - auch Orientierungswissenschaft.

Spektrum der Wissenschaft: Philosophische Beratung?

Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin: Ja, denn die Philosophie kann einen Beitrag leisten zur Handlungs-, aber auch zur Weltorientierung. Aber sie darf das nicht überziehen. Ich plädiere für einen Pragmatismus in dem Sinn, dass die philosophische Theoriebildung nicht losgelöst abläuft von der Alltagswelt und der Weise, wie wir uns verständigen. Es sollte also einen Zusammenhang geben, der durch eine philosophische Praxis gestiftet wird.

Spektrum der Wissenschaft: Was ist denn das Ziel menschlichen Handelns?

Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin: Viele Menschen suchen offenkundig Rat, der häufig von zweifelhafter Beratungsliteratur befriedigt wird, ob zur Esoterik oder zum Selbstmanagement. Das zeigt eigentlich, dass die Philosophie in den letzten Jahrhunderten einen Bereich leichtfertig aufgegeben hat, nämlich die philosophische Praxis.

Spektrum der Wissenschaft: Also wie wenn ich in eine Zahnarztpraxis gehe?

Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin: Ganz genau! Es gibt sogar eine Zeitschrift für philosophische Praxis, bei der ich mitwirke. Viele Psychologen sprechen eigentlich über Lebenskunst. Hier kann die Philosophie etwas leisten: Widersprüche aufdecken in Beurteilungen oder Werten, die Menschen haben, Kohärenz prüfen: Sind die Dinge durchdacht? Nach welchen Kriterien entscheidet jemand? Das ersetzt nicht Psychologen oder Berater, aber hier hat die Philosophie eine Zukunft auch in der Beratung.

Spektrum der Wissenschaft: Offenbar gibt es einen Bedarf an Populärphilosophie - etwa mit Jostein Gaarders »Sofies Welt« oder neuerdings Richard David Prechts »Wer bin ich - und wenn ja, wie viele?«.

Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin: Die moderne Philosophie hat sich zeitweise ganz zurückgezogen. Der französische Philosoph und Historiker Pierre Hadot (1922 - 2010) hat einmal gesagt, wir verstehen die gesamte antike und mittelalterliche Philosophie nicht, wenn wir sie nicht in erster Linie als Anleitung zum richtigen Leben lesen. Die moderne Philosophie hat ab Descartes einen Schnitt gemacht, mit den Mitteln der Mathematik More geometrico. Das war äußerst erfolgreich, es hat die moderne Naturwissenschaft in Gang gesetzt. Aber es wurde damit etwas weggeschnitten vom Körper der Philosophie. Zum Beispiel ihre Rolle im Dialog, etwa in der Medizinethik. Da hat die Philosophie auf Verschiedenes hingewiesen, und, wie ich, auch Kritik geerntet. Im Bereich Gentechnik etwa: Wie kann es sein, dass die Gesellschaft die Verhütung mit der Spirale zulässt, was die befruchtete Eizelle an der Einnistung hindert, was nichts anderes ist als eine Frühabtreibung, hunderttausendfach praktiziert. Und gleichzeitig darf bei uns niemand an solchen wenige Tage alten befruchteten Eizellen forschen. Diese Praktiken widersprechen sich.

Spektrum der Wissenschaft: Dieser Konflikt blieb ja seinerzeit ungeklärt und hat in schlechten Gesetzen gemündet.

Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin: So sehe ich das auch. Das war nicht hinreichend durchdacht und wurde erst später wieder mühselig verbessert. Da gab es einen zu großen Einfluss diverser Interessen- und Weltanschauungsgruppen.

Spektrum der Wissenschaft: Kommen wir zu den Neurowissenschaften. Hat die Philosophie vielleicht auch hier einen Zug verpasst? Und haben die, die als Neurophilosophen auftreten, auch genug Ahnung von ihrem Thema?

Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin: Ich glaube, das schätzen Sie falsch ein. Diejenigen, die hier forschen, kommen zum Teil aus den Neurowissenschaften oder führen selbst eigene Experimente durch. Das ist ein bisschen das Klischeebild der Philosophen, die abgehoben vor sich hinreden. Das mag es auch geben, ist aber heute längst nicht mehr typisch.

Spektrum der Wissenschaft: Aber warum gibt es zum Beispiel den Streit um Wolf Singer und Gerhard Roth mit ihrer Determinismusthese als Absage an den freien Willen?

Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin: Diesen Streit habe ich mit beiden sehr freundschaftlich geführt. Der betrifft ja nicht so sehr die Neurowissenschaft, sondern bestimmte philosophische Thesen. Polemisch gesagt, haben sich beide weit außerhalb der Grenzen ihres Fachs bewegt, als sie sagten: Unser Selbstbild, das auf Freiheit und Verantwortlichkeit beruht, ist auf Grund der neurowissenschaftlichen Befunde im Grunde eine Illusion.

Spektrum der Wissenschaft: Wenn auch eine hartnäckige ...

Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin: Ja, hartnäckig und sogar nützlich. Da darf der Philosoph schon mal fragen: Was für ein Begriff von Freiheit wird dem hier vorausgesetzt? Hier geht es um Grundlegendes: Ohne zuschreibbare Verantwortung und Schuld würde unser Strafrecht nicht funktionieren. Oft werde ich bei den Befunden auf die Experimente von Benjamin Libet von 1979 hingewiesen. Nun, die stützen dessen These aber mit Sicherheit nicht! Welche denn sonst? Und dann kommt doch relativ wenig von den Neuroforschern. Es war also vor allem ein Streit nicht zwischen Naturwissenschaft und Philosophie, sondern innerhalb der Philosophie.

Spektrum der Wissenschaft: Wie steht es also mit unserer Entscheidungsfreiheit?

Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin: Die Frage ist doch: Wie kann es sein, dass unsere Deliberationen, also unsere Gründe, etwas zu tun, dass diese kausal relevant sind in einer Welt, die als materielle Welt in der Physik, Chemie und den Neurowissenschaften beschrieben wird. Eine tief reichende Frage.

Spektrum der Wissenschaft: Unser Gespräch leitet die neue »Spektrum«-Serie »Die größten Rätsel der Philosophie« ein. Was sind die großen Fragen?

Die Strömung der Philosophie, der ich zugehöre, der Analytischen, war in ihren frühen Jahren etwas präpotent - nämlich der Meinung, dass die alten Fragen entweder Unsinn sind oder Scheinprobleme oder bereits gelöst. Dann stellte sich heraus, dass viele dieser vermeintlich entsorgten oder als unsinnig betrachteten Fragen quasi durch die Hintertür der Analytischen Philosophie in aktueller Form wieder auftreten.

Spektrum der Wissenschaft: Nämlich welche?

Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin: Hier ist eines, das mich selbst beschäftigt hat: Spätestens mit Wittgenstein schien vielen Philosophen das Problem der Introspektion gelöst zu sein. Es geht um die nach innen gerichtete Selbstbeobachtung, um die Analyse des eigenen Erlebens und Verhaltens, um Subjekt und Objekt und die Möglichkeit der Selbsttäuschung. Also schauen wir - so war seinerzeit die Antwort - einfach auf das Verhalten der Menschen, achten auf bestimmte Regularitäten, die sich beschreiben lassen, das genügt. Das Meinen, das Intendieren, die Probleme des deutschen Idealismus im 19. Jahrhundert: Alles erledigt. Unterdessen ist den allermeisten aber klar, so geht es auf keinen Fall. Wir haben eine Rückkehr von Debatten. Welche Rolle haben Vorstellungen? Der britische Philosoph Colin McGinn hat einmal gesagt: Ich dachte, ich brauche keine Bücher mehr zu schreiben. Doch dann kam er zum Thema Vorstellung. Und Colin schrieb das Buch »Das geistige Auge - Von der Macht der Vorstellungskraft«.

Spektrum der Wissenschaft: Was hat Sie daran interessiert?

Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin: Ich habe argumentiert, dass Bedeutungen ohne Absichten und Intentionen nicht verständlich sind.

Spektrum der Wissenschaft: Manche Probleme haben sich durchaus erledigt, so dass man auch von Fortschritt sprechen könnte.

Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin: Sicher. Aber die präpotente Geste, mit einer neuen Methode kann ich mal alles kurz abräumen, die ist obsolet. 1930 schreibt Moritz Schlick (1882 - 1936), einer der Mitbegründer des Wiener Kreises im Logischen Empirismus: Willensfreiheit sei eine Verwirrung des Geistes, es gehe doch um die Steuerung über Sanktionen. So etwas würde heute niemand mehr unterschreiben. Also gibt es schon einen philosophischen Erkenntnisfortschritt. Oft wird er dann erst in den neu entstandenen Einzeldisziplinen zu Ende gebracht, den Kindern der Philosophie der letzten 200 Jahre. Einige Fragen wurden auch innerhalb der Philosophie gelöst, aber es bleiben genügend andere.

Spektrum der Wissenschaft: Dann noch einmal die Frage von eben: Was sind für Sie die wichtigsten Fragen der Philosophie heute?

Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin: Zum einen die Frage: »Was ist eine Erkenntnis?« Was ist Erkenntnisfortschritt? Woher weiß ich, dass etwas der Fall ist? Die zweite Frage: »Was macht eine vernünftige menschliche Praxis aus?«

Spektrum der Wissenschaft: Geht es da um Gerechtigkeit, über die Sie ja selbst in Teil 10 unserer Serie (in der Printausgabe) schreiben werden. Ist das die Grundlage?

Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin: Ich würde das so sehen, im Gegensatz zu einigen anderen. Die oberste Tugend, meinten schon Platon, aber auch der amerikanische Philosoph John Rawls (1921 - 2002), ist Gerechtigkeit (Rawls publizierte 1971 das Buch »A Theory of Justice «). Gleichheit, Freiheit, Solidarität sind, so wie es die Französische Revolution propagierte, Aspekte der Gerechtigkeit. Die Kriterien einer vernünftigen politischen Praxis haben etwas mit Gerechtigkeit zu tun.

Spektrum der Wissenschaft: Das ist die Basis von Demokratie.

Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin: Ja, aber nicht nur. Denken Sie an Gerechtigkeit in der Familie. Kinder sind besonders empfindlich, wenn sie ungerecht behandelt werden. Da geht es nicht um Demokratie.

Spektrum der Wissenschaft: Hängt Gerechtigkeit mit Glück zusammen?

Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin: Schwierige Frage. Es gibt ja Glücksforschung, wo Glück, Zufriedenheit und Wohlstand empirisch untersucht werden. Glück erfährt ab einem gewissen Reichtum eine Sättigung, dagegen wächst die Zufriedenheit auch bei höherem Wohlstand noch. Die Beziehung zur Gerechtigkeit sehe ich so: Damit eine gesellschaftliche Verteilung von Lebenschancen gerecht ist, müsste ihr jede Person, wenn sie hinreichend unparteiisch urteilt, idealiter zustimmen können.

Spektrum der Wissenschaft: Das klingt extrem.

Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin: Ja, ist es auch. Was legen die Befürworter zu Grunde? Egozentriker werden nur an ihren eigenen Vorteil denken. Aber andere werden auch auf Dritte Rücksicht nehmen. Solche Menschen sehen, dass das, was ich für richtig halte, auch davon abhängt, wie es anderen geht.

Spektrum der Wissenschaft: Ist nicht der Utilitarist der größte Glücksvermehrer, weil er die Gesamtmenge des Glücks aller Beteiligten maximiert?

Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin: Der Utilitarismus macht die moralische Beurteilung von den empirischen Randbedingungen abhängig. Er sagt: Richtig ist das, was die Nutzensumme maximiert. Nur, was ist das? Im Einzelfall müssten individuelle Rechte verletzt werden.

Spektrum der Wissenschaft: Wie ist die Rolle der Philosophie in der Zukunft? Ist sie aus der Falle der Selbsthistorisierung entkommen?

Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin: Die Philosophie hat sich in den letzten Jahrzehnten deutlich verändert. Die historische Forschung, die Beschäftigung mit klassischen Texten ist dabei völlig legitim. Aber der Trend in Richtung systematische Fragen hat massiv zugenommen, nicht mehr nur in der Analytischen Philosophie - sondern auch im Hegelianismus, im Kantianismus der Gegenwart, in der Phänomenologie.

Spektrum der Wissenschaft: Das systematische Denken hat sich also durchgesetzt.

Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin: Ja, dadurch ist die Relevanz für andere Disziplinen sowie für eine intellektuell interessierte Öffentlichkeit größer geworden. Die Philosophie versteht sich nicht mehr nur als eine besondere Disziplin, die über den anderen steht. Es gibt leider auch eine problematische Entwicklung, etwa beim Umbau der deutschen Universitäten in Richtung Berufsverwertbares. Das setzt die Geisteswissenschaften generell und die Philosophie im Besonderen unter Druck. Hier sinken die Einschreibezahlen.

Spektrum der Wissenschaft: Wieso?

Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin: Wenn einem 18-Jährigen vermittelt wird, achte bei deiner Fachwahl in erster Linie auf die berufliche Verwendbarkeit, dann werden die wenigsten sagen, jetzt studiere ich Philosophie. Das ist eine gefährliche Botschaft, da man sich künftig in seinem Berufsleben ohnehin mehrfach umorientieren muss.


&copy2011 Reinhard Breuer, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg


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Quelle:
Spektrum der Wissenschaft 3/11 - März 2011, Seite 57 - 61
Herausgeber: Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. April 2011