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FRAGEN/010: Ein Gespräch mit dem Philosophen Jean Greisch (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion - 11/2009

"Mit den Augen der Anderen"
Ein Gespräch mit dem Philosophen Jean Greisch über Glaube und Intellektualität

Die Fragen stellte Stefan Orth


Der Luxemburger Philosoph und Theologe Jean Greisch ist seit kurzem Inhaber der Berliner Guardini-Professur. Wir sprachen mit ihm darüber, wo die Beziehungen zwischen Vernunft und Glaube heute stehen und inwieweit es überhaupt eine spezifisch katholische Intellektualität geben kann.

HK: Herr Professor Greisch, nachdem die Postmoderne, die besonders in Frankreich wirkmächtig war, als Mode vorbei zu sein scheint: Wo steht momentan das Verhältnis von Glaube und Vernunft aus philosophischer Sicht?

GREISCH: Ob man sich inzwischen von der Postmoderne abgewendet hat, und ob man sie als eine Modeerscheinung abtun kann, wie man das in den siebziger Jahren mit dem Strukturalismus getan hat, will ich nicht beurteilen. Die Problemstellung in Frankreich jedenfalls ist eine andere als in Deutschland, weil sich seit Mitte der neunziger Jahre tatsächlich sehr viel getan hat. Dies betrifft insbesondere die Diskussionen über die so genannte "theologische Wende der Phänomenologie". In Frankreich gab es die traditionelle Frontstellung von Glauben und Wissen, die der Gegenüberstellung von Glaube und Vernunft gewichen ist.


HK: Welche Denker haben für diese Verlagerung der Diskussion besondere wichtige Anstöße gegeben?

GREISCH: Emmanuel Levinas etwa hat in seinen Schriften immer wieder betont, dass auch der Talmud und die Art und Weise wie im Rahmen der talmudischen Tradition gedacht und gefragt wird, nicht das Gegenteil aller Vernünftigkeit ist. Auch dies sei vielmehr eine Art und Weise, die Vernunft ins Werk zu setzen. Der Begriff der Vernunft ist einerseits vielfältiger geworden. An der Wand des Foyers der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin, die gerade ihr 200-jähriges Jubiläum begeht, liest man einen provozierenden Satz Schleiermachers, der nichts von seiner Aktualität eingebüsst hat: Soll der Knoten der Geschichte so aufgehen - die Wissenschaft mit dem Unglauben und die Religion mit der Barbarei? Es wäre ein fataler Irrtum, wenn man den Begriff der Vernunft allein auf die "wissenschaftliche" Frage: "Was kann ich wissen?" beziehen wollte. Die Fragen: "Was soll ich tun?" oder "Was darf ich hoffen?" sind ebenso vernünftig und unausweichlich wie die erste, aber eben in einem anderen Sinn. In der heutigen Diskussion ist auch der Glaubensbegriff vielschichtiger geworden, weil mehrere Komponenten ins Spiel kommen: etwa Überzeugung, Zeugnis, Vertrauen und viele andere mehr.


HK: Es gab in der Philosophie zuletzt auf breiterer Front ein stärkeres Interesse an religiösen Phänomenen. Hält diese Entwicklung an?

GREISCH: Hent de Vries spricht sogar von einer "religiösen Wende" der Philosophie. Für die intellektuelle Szene in Frankreich trifft das sicher zu. Es drückt sich in Veröffentlichungen aus, die man sich in den siebziger Jahren noch nicht hätte vorstellen können. Das gilt etwa für die zahlreichen Schriften von Catherine Chalier. Sie kommt von Levinas her, hat inzwischen aber auch ein eigenständiges Denken entwickelt, in dem die "Spiritualität" und die Anstrengung des Begriffs, die jedes ernsthafte Denken erfordert, eine neuartige Verbindung miteinander eingehen. Im Hintergrund dieser Publikationen steht auch eine Idee, die unter anderem vom späten Michel Foucault stark gemacht wurde: Philosophie besteht nicht nur aus Begriffskonstruktionen oder Theoriebildungen, sondern sie kann auch ein Lebensstil sein. Interessant ist auch der Versuch, bestimmte Fragen, die den alten Begriff der natürlichen Religion betreffen, wieder zu erneuern.


HK: Für einige ist dieser Begriff seit mehr als zwei Jahrhunderten mit guten Gründen verabschiedet. Besteht nicht das große Problem darin, dass er auf der einen Seite die Unterscheidung zwischen Philosophie und Theologie und auf der anderen Seite die Vielfalt der konkreten religiösen Traditionen nicht ernst genug nimmt?

GREISCH: Es gibt Philosophen wie Richard Swinburne in Oxford, die felsenfest davon überzeugt sind, dass die klassischen Fragen der so genannten natürlichen Theologie immer noch auf der Tagesordnung stehen und nach neuen Antworten verlangen. Ich selbst bin eher daran interessiert, mit den begrifflichen Mitteln der Philosophie das religiöse Phänomen in der Komplexität seiner Erscheinungsformen zu verstehen: in den Strukturen dieser Erfahrung und des Bewusstseins von ihr, den darauf aufbauenden Gemeinschaftsformen und die jeweilige geschichtliche Entwicklung. Aber man sollte vorsichtig sein und die Thematik der natürlichen Religion nicht vorschnell einer vorkritischen, vorkantischen Phase der Geistesgeschichte zuordnen.


"Jedes Zeitalter hat den Gottesbegriff und die Gottesfrage, die ihm zukommen"

HK: Was heißt das für die Gottesfrage als Thema der Philosophie, das im Verlauf der Geschichte eine so prominente Rolle gespielt hat und erst in jüngster Zeit wieder mehr Aufmerksamkeit findet?

GREISCH: In diesem Punkt bin ich nie mit Paul Ricoeur einig gewesen. Besonders in seinen letzten Jahren hat er sich zu einem philosophischen Agnostizismus hinsichtlich der Gottesfrage bekannt. Wahrscheinlich verbietet mir mein katholisches Erbe, diesen Agnostizismus zu teilen. Es wäre bedauerlich, wenn man Gott nur den Theologen überlassen wollte. Die Philosophen kommen - auf die eine oder andere Weise - nicht an der Gottesfrage vorbei, die immer noch eine zentrale Frage der Philosophie ist, auch wenn sie sich im Verlauf der Geschichte stark gewandelt hat.


HK: Und welche Wandlungen waren in der abendländischen
Geistesgeschichte die entscheidenden?

GREISCH: Eberhard Jüngel hat die Differenzen bei der Beschäftigung mit der Gottesfrage etwa folgendermaßen bestimmt. Von Thomas von Aquin bis Descartes sind die klassischen Gottesbeweise ausgearbeitet worden. In dieser Epoche steht die Frage nach der Existenz Gottes im Vordergrund. Seit der beginnenden Neuzeit bis zum Deutschen Idealismus rücken die Frage nach dem Wesen Gottes und insbesondere die Frage nach der Kompatibilität der einzelnen Gottesattribute immer stärker in den Vordergrund. Damit verbindet sich auch das Problem der Theodizee, der Rechtfertigung des Gottesbegriffs angesichts der Existenz des Bösen in der Welt. Jedes Zeitalter hat - glücklicherweise - nicht den Gott, den es verdient, aber doch den Gottesbegriff und die Gottesfrage, die ihm zukommen.


HK: Inwiefern ist das Thema weiterhin von besonderer Bedeutung auch für die Philosophie?

GREISCH: All dies sind Fragen, die weder endgültig gelöst, noch obsolet geworden sind. Niemand sollte es sich verbieten lassen, sich auch heute noch mit diesen Fragen zu beschäftigen. Meiner Überzeugung nach ist jetzt ein Zeitalter angebrochen, in dem die Fragen "Wo ist Gott?", oder mit Nietzsche gesprochen: "Wohin ist Gott?", und die Frage "Wer ist Gott eigentlich?" immer akuter werden. Diese Art und Weise, an die Gottesfrage heranzugehen, hängt innerlich mit der Art und Weise zusammen, wie man an das Problem des Menschen herangeht. Nicht umsonst lautet die erste Frage an den Menschen in der Bibel: "Adam, wo bist du?". "Ich bin mir selbst zur Frage geworden: wer bin ich eigentlich?": Dies waren schon Grundfragen bei Augustinus, die heute besonders akut geworden sind.


HK: Nicht wenige Philosophen weichen der Gottesfrage aus, indem sie bei den religiösen Erfahrungen der Menschen ansetzen. Wie lässt sich menschliche Religiosität heute philosophisch definieren?

GREISCH: Das ist schwierig, weil "Religiosität" ein Begriff mit sehr verschwommenen Rändern ist. Das "Religiöse" ist etwas sehr, sehr Diffuses, das den modernen Menschen desto mehr anspricht, als es unverbindlich bleibt. Im Grunde geht es da um etwas "Atmosphärisches". Jedoch: Wenn einer Religiosität mit Romain Rolland als "ozeanisches Gefühl" versteht, kann man mit Sigmund Freud darauf sagen, dass diese Art der Religiosität starke Ähnlichkeiten mit der Verliebtheit des Jugendlichen hat. Diese Unbestimmtheit des Begriffs der Religiosität sollte man zur Kenntnis nehmen und sich eher mit dem Begriff der Religion beschäftigen.


HK: Welche Funktionen können umgekehrt die konkreten religiösen Traditionen, wie es sie weltweit gibt, für den Menschen, insbesondere für die Entwicklung seines Selbstbildes haben?

GREISCH: Traditionen, die wirklich lebendig und nicht einfach Schneckengehäuse sind, in die man sich zurückziehen kann, sobald die Umwelt einem auf den Leib rückt, helfen uns, sich im Leben zu orientieren. Man sollte allerdings nicht nur auf die Inhalte der einzelnen Traditionen achten, sondern auch auf das Geschehen des Überlieferns selbst. Catherine Chalier hat letztes Jahr ein sehr schönes Buch über dieses Thema veröffentlicht: "Transmettre: de génération en génération". Mich hat an diesem Buch gefesselt, dass jedes Kapitel einem bestimmten Aspekt des Überlieferns gewidmet ist. Überlieferung kann heißen: Informieren, Wissen vermitteln, aber auch: Erzählen, Bezeugen und Bekennen. Man muss das ganze Spektrum dieser Akte betrachten, damit man der Gefahr entgeht, sich nur auf den reinen Wissensaspekt zu beschränken.


"Der Glaube ist ein Wagnis"

HK: Auf der anderen Seite gibt es zumindest in weiten Teilen Europas auch eine große Gruppe von Menschen, die angesichts der Verheißungen der Religionen bekennen, dass ihnen gar nichts fehle. Ist das nicht ein Skandalon für den Religionsphilosophen?

GREISCH: Diese Frage beschäftigt mich schon lange. Ludwig Wittgenstein hat einmal gesagt, dass er sich angesichts der Berichte über die Auferstehung Jesu wundert, dass es neben den Verfechtern und den Zweiflern im Neuen Testament niemanden gibt, der eine unentschiedene Position vertritt. Heute leben wir in einer Welt, in der derjenigen, die sagen: vielleicht ja, vielleicht nein, und dann schließlich die Frage auf sich beruhen lassen, immer zahlreicher werden. Vermeiden wir es, jene ungläubigen Thomasse abschätzig zu behandeln und sie mit dem Schlagwort Indifferentismus auf die Seite zu schieben. Immerhin erinnern sie uns daran, dass der Glaube nicht in einer elementaren Bedürfnisbefriedigung besteht, ohne die der Mensch zugrunde ginge. Religion lässt sich nicht darauf reduzieren. Für alle Gläubigen ist es heilsam, wenn jemand sie daran erinnert, dass es gerade nicht um religiöse Bedürfnisse in einem engen Sinne gehen kann. Gerade hier wäre der Unterschied zwischen Bedürfnis und Begehren einzuführen.


HK: Inwiefern hilft diese Unterscheidung weiter?

GREISCH: Es geht darum, dass der Glaube ein Wagnis ist, auf das man sich einlassen kann - oder auch nicht. Das ist gegen eine kurzbeinige Apologetik gerichtet, die meint, man könne jemandem den Glauben auferlegen, wie man etwa Gymnastik zur Pflichtübung macht. Schließlich handelt es sich ja auch hier um das Geheimnis der menschlichen Freiheit! Natürlich ist es für den Philosophen einfacher als für den Theologen, sich in dieser Grauzone zu bewegen und mit Spinoza weder zu jammern noch zu jubeln, sondern zu verstehen versuchen. Der Theologe verdächtigt den Indifferentisten zu schnell, eine Art anonymer Götzendiener zu sein.


HK: Kann die Philosophie denn auch Ressourcen bereitstellen, um im Streit religiöser Überzeugungen zu schlichten? Welche Kriterien könnten angesichts dieser Herausforderung hilfreich sein?

GREISCH: Die Rolle des Philosophen ist sicher nicht die eines überparteilichen Schiedsrichters, der selbst nicht am Streit beteiligt ist und sich mit der lässigen Einladung begnügen könnte, jeder solle eben auf seine eigene Fasson selig werden. Auf alle Fälle kann die Schlichtung nicht in der Behauptung bestehen, alle Religionen hätten - trotz unterschiedlicher Gottesvorstellungen - im Grunde genommen dasselbe Verhältnis zum Absoluten. Die Situation ist viel komplizierter. Natürlich kann man unter Berufung auf Lessings Ringparabel sagen, dass die Religionsphilosophie zur Aufgabe hat, die Toleranz unter den Religionen zu fördern. Aber für diese Toleranz muss man einen gewissen Preis bezahlen, über den man sich im Klaren sein sollte. Ricoeur hat gegenüber Hans Küng und seinem Projekt Weltethos in einer Fernsehdiskussion einmal darauf hingewiesen, dass alle Gläubigen sich zuerst darüber bewusst werden müssen, dass aufgrund seines Absolutheitsanspruchs jeder Glaube Potenziale der Gewalttätigkeit enthält, mit denen man sich auseinandersetzen muss, bevor man sich mit dem Anderen verständigen kann. Die unterste Ebene des mutmaßlichen gemeinsamen Nenners reicht nicht aus, um uns über das Wesentliche zu verständigen.


HK: Vor kurzem wurde in Paris eine katholische Akademie gegründet, angesiedelt am Collège des Bernardins, wo der Papst im vergangenen Jahr gesprochen hat. Was waren die Beweggründe für diese neue Initiative, an der auch katholische Philosophen maßgeblich beteiligt sind?

GREISCH: Die von Philippe Capelle in die Wege geleitete Gründung einer katholischen Akademie ist ein Novum in der intellektuellen Szene Frankreichs. Man darf zu Recht darauf gespannt sein, wie und wo diese Akademie aktiv werden wird. Im Wesentlichen geht es darum, den katholischen Intellektuellen eine öffentliche Sichtbarkeit zu verschaffen, die in den letzten 30 Jahren verloren gegangen war. Es gab bis Ende der sechziger Jahre die Institution der so genannten Semaines des intellectuelles catholiques, ein jährliches Treffen mit großer Ausstrahlung, an das man unter neuen Umständen anzuknüpfen versucht.


HK: In der katholischen Tageszeitung La Croix wurde darauf hingewiesen, dass die katholischen Akademien deutscher Bistümer Vorbild für die Neugründung in Paris gewesen seien. Zwischen den in Paris angesiedelten Akademien und der Bildungsarbeit der kirchlichen Akademien hierzulande bestehen aber doch beträchtliche Unterschiede ...

GREISCH: Tatsächlich muss man sich bewusst sein, dass der Begriff der Akademie in Frankreich eine ganz eigene Bedeutung hat. Die Académie française beispielsweise ist ein Eliteclub, die jüngst etwa den katholischen Philosophen Jean-Luc Marion aufgenommen und damit zu einem der so genannten "Unsterblichen" ernannt hat. Ich hoffe jedoch nicht, dass Akademien wie diese ein Vorbild für die katholische Akademie sein werden. In der katholischen Kirche gibt es bereits Auszeichnungen, Orden und Medaillen genug. Wir brauchen keinen neuen Eliteklub. Eine Einrichtung katholischer Intellektueller, die sich selbst für ihre Leistungen auszeichnen, wäre ein Unding. Interessanter ist da in der Tat das Modell der deutschen katholischen Akademien - ich denke etwa an die Katholische Akademie in Mainz, die ich aus vielen Begegnungen kenne und hochschätze. Ich würde mir wünschen, dass etwas Ähnliches in Frankreich eingerichtet werden könnte, um einen ähnlichen Bildungsauftrag wahrzunehmen. Aber man muss natürlich realistisch sehen, dass die katholische Kirche in Frankreich weder über die finanziellen, noch über die personellen Mittel verfügt, die einen vergleichbaren Akademiebetrieb erlauben.


"Auch der katholische Intellektuelle muss zunächst ein Intellektueller sein"

HK: Wie wurde denn die neue Akademie bisher in der französischen Öffentlichkeit aufgenommen?

GREISCH: Man muss durchaus damit rechnen, dass Vertreter einer hartgesottenen Laizität diese Akademie sofort als Stein des Anstoßes betrachten. Weiterhin gibt es in Frankreich die Tendenz, sich bedroht zu fühlen, sobald eine Religion öffentlich in Erscheinung tritt und sich nicht auf die reine Privatsphäre beschränkt. In der Öffentlichkeit hat man die Gründung der Akademie eigentlich noch gar nicht zur Kenntnis genommen.


HK: Katholischen Intellektuellen soll ein Forum gegeben werden, so lautet der Auftrag. Gibt es aber überhaupt so etwas wie eine spezifisch katholische Intellektualität?

GREISCH: Ich tue mich mit dem Begriff des katholischen Intellektuellen ähnlich schwer wie mit dem der christlichen Philosophie. Natürlich gibt es christliche Philosophen, wie Rembrandt ein christlicher Maler war und Bach ein christlicher Komponist. Das hieß aber eben nicht, dass der christliche Glaube oder gar eine religiöse Institution Rembrandt vorgeschrieben hätte, was und wie er zu malen, oder Bach, was und wie er zu komponieren hatte. Als schöpferische Menschen haben sie sich mit Fragen und Themen auseinandergesetzt, die sie als Gläubige beschäftigten. Das Katholische kann nicht darin bestehen, dass der Intellektuelle wie früher in der kommunistischen Partei bestimmte Positionen auf den Begriff bringt - so wie Jean-Paul Sartre davon überzeugt war, dass die Philosophen alles sagen dürfen, solange dies nicht die kämpfende Arbeiterschaft entmutigt. Auch der katholische Intellektuelle muss zunächst ein Intellektueller sein, was keineswegs bedeutet, dass er sich in einen Elfenbeinturm einschließen sollte.


HK: Aber was zeichnet dann einen intellektuell wachen Glauben aus?

GREISCH: Man muss sich auf das Wagnis unbequemer Fragen, auf die es eben noch keine Antworten gibt, wirklich einlassen. Für jemanden, der vom Intellektuellen erwartet, dass dieser ihm fertige Antworten vorlegt, mag das frustrierend sein. Martin Heidegger sagte in seiner Abschiedsvorlesung in Freiburg mit Recht: "Das Bedenklichste in dieser unserer bedenklichen Zeit ist, dass wir immer noch nicht denken." Das gilt auch für den katholischen Intellektuellen. Es wäre sehr einfach, die ungelegenen Fragen unter den Tisch zu kehren. Diese Tendenz, über bestimmte Fragen am besten nicht zu sprechen, gibt es natürlich; aber der Intellektuelle kann sich eine solche Scheuklappenmentalität nicht leisten. Dominique Dubarle, einer meiner Lehrer, hat immer wieder den Vergleich gezogen zwischen der mystischen Erfahrung der dunkeln Nacht des Geistes, wie sie Johannes vom Kreuz beschreibt, und dem Bemühen des gläubigen Intellektuellen, sich im Bereich von Denkerfahrungen zurechtzufinden, die keinerlei prästabile Harmonie mit seinem ererbten Glauben aufweisen.


HK: Ist es in der säkularisierten Gesellschaft schwieriger geworden, sich als Intellektueller zu seiner religiösen Herkunft oder gar seinem Glauben zu bekennen und diese damit öffentlich zu machen?

GREISCH: Sicher. Ricoeur beispielsweise hat sehr darunter gelitten, dass man ihm mehrmals in Interviews gefragt hat, ob er noch ein echter Philosoph sei, wo er sich doch auch als Gläubiger zu erkennen gebe. Er hat darauf immer geantwortet, dass niemand je Sartre gefragt habe, wie er seinen Unglauben mit seiner Philosophie in Einklang bringen könne. Diese Ungerechtigkeit gibt es tatsächlich. Auf der anderen Seite ist die säkularisierte Gesellschaft nicht in der Lage, über all das zu bestimmen, was für das Selbstverständnis eines Menschen von entscheidender Bedeutung ist. Die Kommunitaristen übersetzen Descartes' "Ich denke, also bin ich" gerne fälschlicherweise mit einem: "Ich bin ein Zugehöriger, also bin ich!" Ich bin jedoch mehr als die Summe meiner Zugehörigkeiten. Deshalb ist es wichtig, sich angesichts der eigenen Glaubensgemeinschaft und deren Traditionen die Freiheit zu nehmen, Fragen zu stellen, die manchmal als störend empfunden werden können. In der säkularisierten offenen Gesellschaft ist das auch einfacher möglich geworden.


HK: Intellektuelles Leben spielt sich in erster Linie in Großstädten ab. Hat das Leben in Metropolen wie Paris oder Berlin einen Einfluss auf das Denken?

GREISCH: Man kann natürlich auch ein guter Intellektueller in einer Hütte in Todtnauberg auf dem Stübenwasen sein. Das Leben in einer Großstadt, in der die Begegnung mit Andersdenkenden, Andersgläubigen und Ungläubigen unausweichlich ist, zwingt jedoch stärker dazu, sich selbst auch mit den Augen der Anderen zu betrachten. Insofern ist die Großstadt ein geistiger Raum, in dem wir experimentieren können, was wir als Weltbürger im Sinne von Kant sind. Großstädte sind Laboratorien, in denen wir am eigenen Leib erfahren, dass die Andersheit konstitutiv für die Selbstheit ist. Wir sind "Mitspieler im großen Spiel des Lebens" die dieses Spiel nicht als unbeteiligte Zuschauer von außen betrachten und analysieren können. Wir können aber auch nicht beanspruchen, dass wir allein die Spielregeln dieses großen Spiels festzulegen haben. In der Großstadt gibt es keine religiöse Sonderwelt, in die man sich einkapseln und von der Außenwelt abschotten kann. Entsprechend gering ist auch die Gefahr, sich selbst für den Nabel der Welt zu halten.


HK: Was kann vor diesem Hintergrund "Katholische Weltanschauung" heißen, die erklärtermaßen zu den Themen Ihrer neuen Professur gehören? Bei aller Problematik des Begriffs: Inwiefern haben sich die Herausforderungen einer katholischen Weltanschauung nicht erledigt?

GREISCH: Der Titel des Lehrstuhls ist tatsächlich ein eher schwieriges Erbe. Der Glaube wurde in der Moderne oft genug entweder als eine Form der Ideologie oder eine Form der Utopie betrachtet. Man muss sich mit beiden Gefahren kritisch auseinandersetzen um das eigentlich Christliche an der christlichen Weltanschauung in den Blick zu bekommen. Genau so hat Romano Guardini diesen Begriff verstanden: als Fähigkeit, die Welt mit den Augen Christi zu betrachten. Das ist ein offener, ein ungeschützter Blick, der sich nicht mit ideologischen Scheuklappen verträgt. Es ist aber auch kein unverbindlicher Blick, der bloß mit theoretischen Möglichkeiten spielt. Wer wird wohl von sich behaupten können, dass ihm dieser Blick bereits gelungen ist? Es handelt sich hierbei um eine nie ganz zu bewältigende Lebensaufgabe, in der der Blick auf die Welt, die Lebensbewältigung und das Gottvertrauen sich ständig miteinander verkreuzen, - gerade weil wir es uns nicht leisten können, die Welt aus der kühlen Distanz des unbeteiligten Beobachters zu betrachten. Angesichts einer immer komplexeren Lebenswelt, die Heidegger in Selbstwelt, Mitwelt und Umwelt, unterteilte, wächst das Bedürfnis nach Orientierung, aber auch die Verantwortung. Beispielsweise die Umweltprobleme waren zur Zeit von Guardini noch nicht im Horizont. Sie gehören aber heute unbedingt dazu.


"Entscheidend ist die lebendige und ungeschützte Begegnung mit Anderen"

HK: Welche Breitenwirkung kann man überhaupt mit der intellektuellen Durchdringung der christlichen Botschaft erzielen? Gab es unter der Mehrzahl der Gläubigen nicht immer schon ein Desinteresse daran? Hier und da dürfte der Begriff Intellektueller in erster Linie ein Schimpfwort sein...

GREISCH: Möglicherweise ist das Ausdruck einer typisch katholischen Pathologie. Intellektuelle sind Leute, die sich mit Fragen beschäftigen, denen man, weil sie einem scheinbar das Leben nur schwerer machen, besser einfach aus dem Weg gehen sollte. Manche Katholiken empfinden sie daher als eine Belästigung oder eine Bedrohung, weil man überzeugt ist, bereits über alle nötigen Antworten zu verfügen. In jüdischen Gemeinschaften gibt es dieses grundsätzliche Misstrauen nicht. Fragen, für die es keine unmittelbaren Antworten gibt, werden dort eher als etwas Anregendes empfunden, weil sie "studiert" werden müssen.


HK: Sowohl Johannes Paul II., unter anderem mit seiner Enzyklika "Fides et ratio", als auch Benedikt XVI., in dessen Kurzporträt der Hinweis auf das Gespräch mit Jürgen Habermas selten fehlt, haben sich sehr für Neubestimmungen im Verhältnis von Glaube und Vernunft engagiert. Mit Erfolg?

GREISCH: Enzykliken wie "Fides et ratio" von Johannes Paul II., der ja selbst der phänomenologischen Philosophie entstammt, gibt es nur einmal pro Jahrhundert. Die Enzyklika, in der es zuvor um das Verhältnis von Philosophie und Theologie gegangen ist, war 1907 "Pascendi": die Enzyklika gegen die Antimodernisten. Der Antimodernismus hat gerade in Frankreich tiefe Wunden geschlagen, die bis heute nicht alle verheilt sind. Wenn man die beiden Dokumente vergleicht, merkt man, wie sehr sich die Fragestellung verlagert hat. Im Übrigen begrüße ich, dass die Enzyklika für eine Metaphysik plädiert. Ich gehöre nicht zu den postmodernen Philosophen, die der Metaphysik einen Totenschein ausstellen wollen. Für mich ist die Besinnung auf die Strukturen der Transzendenz, die im menschlichen In-der-Welt-sein selbst enthalten sind, eine sehr wichtige Aufgabe.


HK: Manche Denker haben auf der anderen Seite ein gespaltenes Verhältnis zum vergleichsweise autoritären Leitungsstil dieser Päpste ...

GREISCH: Ich muss eingestehen, dass dieses Spannungsverhältnis mir selbst manchmal zu schaffen macht. Insbesondere die Art und Weise, wie die traditionalistischen Bischöfe wieder in die Kirche eingegliedert wurden und wie dieser Konflikt gehandhabt wurde, hat bei mir ein bleibendes Unbehagen ausgelöst, das ich noch nicht recht verwunden habe. Aber ich bin überzeugt, dass auf die Dauer die programmatischen Worte der Konstitution Gaudium et spes des Zweiten Vatikanischen Konzils sich nicht in "Betrübnis und Hoffnungslosigkeit" verkehren werden.


HK: Wie kann der Katholizismus aus seiner "'antimodernistischen' Sonderkultur" (Franz-Xaver Kaufmann) herauskommen, in der er teilweise noch, teilweise wieder gefangen zu sein scheint?

GREISCH: Es gibt beunruhigende Anzeichen dafür, dass diese Sonderkultur sich zur Zeit regeneriert. Ich sehe diese Erscheinungen allerdings nicht als geschichtsträchtig an. Wir haben inzwischen eine lange Erfahrung damit, dass man sich zwar für eine Zeit in einer geschützten Burg verstecken kann. Aber wir wissen auch, dass die Karawanen der Menschheit vorbeiziehen und sich vom Stimmengemurmel im Inneren nicht beirren lassen. Die Verhältnisse werden sich mit der Zeit klären.


HK: Was ist angesichts dieser Situation zu tun?

GREISCH: Was wir brauchen, sind Zeugen des Glaubens, auf der intellektuellen wie auch auf der praktischen Ebene, die gerade dort im Einsatz sind, wo es keine Festungen gibt und nicht geben kann. Entscheidend ist die lebendige und ungeschützte Begegnung mit Anderen. Ich spreche nicht von akademischen Sonderzirkeln und internationalen Tagungen. Es geht auch um den Einsatz und die Fürsorge für die Anderen. Gerade in dieser Hinsicht bedürfen wir des überzeugenden Zeugnisses von Männern und Frauen, an denen die katholische Kirche glücklicherweise nicht arm ist. Auf jeden Fall sollten wir den Vers von Paul Celan sehr ernst nehmen: Niemand zeugt für den Zeugen.


Jean Greisch (geb. 1942) ist seit Oktober 2009 für zwei Jahre Inhaber der Guardini-Professur in Berlin. Er studierte Philosophie und Theologie in Luxembourg, Innsbruck und Paris und wurde 1985 zum Doktor der Philosophie promoviert. 1990 Habilitation an der Universität Straßburg. Er war von 1985 bis 1994 Dekan der Fakultät des Institut Catholique in Paris, wo er den Lehrstuhl für Ontologie und Metaphysik innehatte. Greisch ist Mitglied des Institut International de Philosophie und des "Comité Editorial Paul Ricoeur", das dessen literarischen Nachlass verwaltet.


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
63. Jahrgang, Heft 11, November 2009, S. 556-561
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Januar 2010