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FRAGEN/007: Ethik, wagen wir dieses Wort (research*eu)


research*eu Sonderausgabe - Oktober 2008
Magazin des Europäischen Forschungsraums

Ethik, wagen wir dieses Wort

Interview von Christine Rugemer mit Jean-Baptiste Jeangène Vilmer


Jean-Baptiste Jeangène Vilmer, 29, Doktorand der Philosophie und Politikwissenschaften, Master of Laws an der McGill University (Kanada), derzeit Gastforscher haften, Master of Laws an der McGill University (Kanada), derzeit Gastforscher an der Yale University (USA), unterrichtete Studenten der Tiermedizin in Montreal in Tierethik. Diese Arbeit mündete in ein Buch zu diesem Thema (1). Der erste Teil beschäftigt sich mit philosophischen Aspekten, der zweite zeigt das Leid, das empfindsame Lebewesen bei bestimmten Praktiken erfahren. Es geht um Tiere, um deren Wohlergehen und Rechte, um die wir uns angeblich kümmern.


Der Begriff Tierethik ist ein relativ unbekannter Ausdruck. Umfasst er gleichzeitig die geläufigeren Begriffe "Recht" und "Wohlergehen" oder geht er darüber hinaus?

Die Begriffe "Recht" und "Wohlergehen" sind gleichzeitig zu vage und zu eng gefasst. Man spricht von den "Rechten der Tiere", ohne zu wissen, ob es sich um gesetzlich festgelegte oder nur moralische Rechte handelt. Außerdem wird dabei oftmals vorausgesetzt, dass die Tierschützer diese Begriffe verwenden, was völlig falsch ist. Manche verteidigen eine "Rechtstheorie", andere umgehen lieber diese belastete und zweideutige Terminologie. Was das "Wohlergehen" angeht, so enthält dieser Begriff nichts, was uns veranlassen könnte, Tiere zu respektieren. Es ist nur ein Zustand, dessen Definition übrigens ebenfalls zweideutig ist - und vor allem sehr subjektiv. Wie ich in diesem Buch erkläre, "ist die Wissenschaft über das Tierwohl eine unabhängige Disziplin, bei der nicht gefragt wird, ob der Mensch versuchen soll, für das Wohlergehen der Tiere zu sorgen oder warum, sondern nur wie".

Wenn man über Ethik spricht, denkt man an "Philosophie".

Tierethik ist ein Zweig der angewandten Ethik, die selbst ein Zweig der Ethik oder Moralphilosophie ist. Tierethik wird definiert als "das Studium der moralischen Verantwortung der Menschen gegenüber den (einzelnen) Tieren" und umfasst als Disziplin alle Fragen über den moralischen Status der Tiere, das heißt darüber, was von unserem Verhalten ihnen gegenüber "gut" oder "schlecht" ist und warum.

Die Tierethik umfasst also die Begriffe von Recht und Wohlergehen, auf die sich einige ihrer Akteure stützen. Diese Akteure sind ihrerseits uneinig, denn die Verteidiger der Rechtstheorien (Deontologen), die meist auch Abolitionisten sind - das heißt sie möchten jegliche Art der Nutzung von Tieren abschaffen -, stellen sich frontal gegen jene, die es bei einer Verbesserung des Tierwohls belassen möchten (Welfaristen). Die Welfaristen stellen also die Nutzung von Tieren nicht in Frage, was nicht ausschließt, dass sie einzelne Praktiken abschaffen möchten und nicht alle allein aus dem Grund, dass dabei Tiere benutzt werden.

Ihre Hauptmotivation, wie auch die der Deontologen, scheint die Idee des Leidens zu sein. Aber wenn man sich Gedanken zum Leiden von Lebewesen macht und dabei Menschen und nicht-menschliche Wesen vergleicht, stößt man auf Unterschiede.

Selbstverständlich geht es nicht darum, Tiere wie Menschen zu behandeln oder umgekehrt, wie man manchmal hört. Es geht darum, wie Peter Singer meint, eine gleichberechtigte Beachtung unterschiedlicher Interessen und unterschiedlicher Fähigkeiten zu erreichen, was auch eine unterschiedliche Behandlung bedingt.

Tiere, zumindest einige (lassen wir die Grenzfälle einmal beiseite), haben wie Menschen die Fähigkeit zu leiden. Diese Gemeinsamkeit bedeutet nicht, dass das jeweilige Leiden - auch nicht innerhalb der einzelnen Gruppen - gleichgesetzt werden kann. Es lassen sich zwei wesentliche Unterschiede festhalten. Zum einen ermöglicht dem Menschen das eigene Bewusstsein, sich Leiden vorzustellen, und diese Vorstellung kann selbst Ursache von Leiden sein, was die Last erhöht: Der zum Tode Verurteilte leidet, weil er weiß, dass er in sechs Monaten stirbt, die Kuh weiß es nicht. Die Unwissenheit der Tiere andererseits kann ebenfalls Ursache von Leiden sein, denn das Wildtier beispielsweise kann anders als der Mensch nicht zwischen dem Versuch, es zu fangen, und dem Versuch, es zu töten, unterscheiden. Was nun aber die Tierethik über diese Unterschiede hinaus interessiert, ist, was Menschen und Tieren gemeinsam ist und vor allem was diese, beiden Arten eigene Leidensfähigkeit für den Menschen im Hinblick auf die Tiere bedeutet.

Denken Sie, dass Europa (vor allem über gemeinschaftliche Richtlinien) eine Vorreiterrolle spielt oder wenigstens auf dem richtigen Weg ist, was die Achtung und den Schutz tierischen Lebens betrifft?

Ich meine, man sollte zwischen "Achtung" und "Schutz" tierischen Lebens unterscheiden. Was den Schutz angeht, liegt Europa eindeutig an der Spitze: Zahlreiche Praktiken, die in Nordamerika weit verbreitet sind und absolut nicht in Frage gestellt werden, sind in Europa seit Langem verboten, und die Europäische Kommission scheint auf diesem Gebiet sehr ehrgeizig zu sein, vor allem was Zucht- und Legebatterien angeht. Aber ist das wirklich "Achtung" gegenüber dem Tier? Oder eher indirekt gegenüber dem Menschen wegen des Bildes, das er von sich selbst zeichnen möchte, für die öffentliche Gesundheit, die Qualität seiner Umwelt? Paradoxerweise scheint mir, dass man in manchen Völkern dem Tier mehr Respekt entgegenbringt, obwohl es rechtlich gesprochen weniger geschützt wird. Ich denke an jene, die in und mit der Natur leben, ohne sie dominieren zu wollen und jene, vor allem im Orient, deren religiöses System nicht auf der Vergötterung des Menschen aufbaut.

In welchen Bereichen sehen Sie Missbrauch, für den eine schnelle Änderung der Gesetzgebung angebracht wäre?

Ich sehe keine einzige Situation, die nicht verbessert werden könnte. Der Frage der industriellen Tierproduktion kommt höchste Priorität zu. Europa ist noch weit von den angekündigten Zielen entfernt, vor allem im Hinblick auf die Käfige von Legehennen, die Boxen von Kälbern und die Ställe von Sauen. Es gäbe auch noch einiges zum Stierkampf, zur Entenstopfleber, zu Zoos und Zirkussen und zur Entwicklung von Alternativen zu Tierversuchen zu sagen.

Man darf auch die Zusammenhänge zwischen Tierschutz und Außenpolitik nicht unterschätzen. Wenn Europa mit einer Stimme spricht (und hier liegt das Problem), kann es großen Einfluss auf internationale Problemstellungen ausüben, wie etwa die Robbenjagd oder den Walfang und grundsätzlich auf den internationalen Handel mit Tierprodukten, der bestimmte Arten gefährdet oder durch den zu verurteilende Praktiken weiter ausgeübt werden.

Wir müssen uns auch im Klaren sein, dass, wenn dies nicht in Europa geschieht, die Chancen gering sind, dass es wo anders jemand tut und dass die ganze Welt, vor allem die Akteure der Tierethik in Nordamerika, genauestens verfolgt, was hier unternommen wird.

Sie haben ein Buch geschrieben, dessen erster Teil sich mit der Theorie beschäftigt und der zweite Tatsachen beschreibt, wobei beide jedoch nicht wirklich miteinander in Beziehung gesetzt werden. Hat diese Entscheidung einen pädagogischen Hintergrund?

Ja, und zwar aus drei Gründen. Zunächst erscheint mir dies die klarste und systematischste Art zu sein, die gesamte Disziplin vorzustellen. Und dann hätte die Verbindung der beiden Teile, ohne jedoch jedes Mal die ganze Palette der Positionen zu wiederholen, dem Leser eine bestimmte These - nämlich meine - nahegebracht. Ich wollte, dass sie präsent ist, aber auf eine diskrete Art. Indem ich keine direkte Verbindung herstelle, lasse ich dem Leser die Wahl der Theorie, die er für die Erklärung der Praxis verwenden möchte. Schließlich ist es auch ein sokratischer Standpunkt, die eigene Entdeckung zu fördern. Das Buch kommt nicht mit fertigen Antworten daher, sondern mit Werkzeugen, die es jedem ermöglichen, sich nach eigenen Vorlieben auf dem Gebiet der Tierethik zu orientieren.

In diesem zweiten Teil stellen Sie eine Reihe sehr unterschiedlicher Praktiken vor - Stierkampf, das Stopfen von Gänsen, industrielle Tierproduktion -, von denen eine grausamer ist als die andere. Gibt es einen gemeinsamen Punkt bei diesen unterschiedlichen Arten der Nutzung von Tieren? Ist hier eine Versachlichung des Tieres zu erkennen, die Demonstration der menschlichen Macht oder sollte man sich vor Verallgemeinerungen hüten?

Der gemeinsame Nenner ist in der Tat eine gewisse Versachlichung des Tieres, die, auch wenn sich die rechtliche Lage (nur in manchen Ländern) derzeit ändert, in der öffentlichen Meinung immer noch die Regel ist. Obwohl manchmal der Eindruck entsteht, genau das Gegenteil sei der Fall, wenn die Exzesse manischer Haustierliebhaber, die "Haustier" mit "Familientier" verwechseln, zu beweisen scheinen, dass wir nicht mehr das Tier-Ding vor uns haben, sondern dass das Tier bereits zum Subjekt geworden ist. Dieses Verhalten betrachte ich im Gegenteil als die sicherste Bestätigung für die Versachlichung der Tiere, die immer als Ersatz, als Dekoration oder zur Wertschöpfung herhalten müssen.

Was neben der Versachlichung des Tieres all diesen Problemen gemeinsam ist, ist tatsächlich das Bedürfnis des Menschen, sich selbst (schließlich steht er ja nur sich selbst gegenüber) seine Macht und Überlegenheit zu beweisen. Und seinen tiefgreifenden Egoismus, denn es bereitet ihm Probleme den Interessen anderer Arten als seiner eigenen Wert beizumessen - dies gilt sogar innerhalb seiner eigenen Art gegenüber denen, die nicht denselben sozialen, ethnischen, religiösen oder geografischen Hintergrund haben wie er.

Interview geführt von Christine Rugemer


Anmerkung
(1) Jean-Baptiste Jeangène Vilmer, Ethique Animale, Paris, PUF, 2008.


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Quelle:
research*eu Sonderausgabe - Oktober 2008, Seite 36 - 37
Magazin des Europäischen Forschungsraums
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research*eu erscheint zehn Mal im Jahr und wird auch
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. April 2009