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FORSCHUNG/014: Willensfreiheit - nichts als eine Illusion? (forsch - Uni Bonn)


forsch 3/2010 - Juli 2010
Bonner Universitäts-Nachrichten

Willensfreiheit - nichts als eine Illusion?
Eine uralte Debatte erhält durch die Hirnforschung neues Futter

Von Frank Luerweg


Tee oder Kaffee? Fußball spielen oder Fußball schauen? Lügen oder die Wahrheit sagen? Rund um die Uhr treffen wir Entscheidungen wie diese. Doch warum entscheiden wir uns so, wie wir uns entscheiden? Anders gefragt: Ist unser Wille frei?


Im Oktober 1992 erschien im Journal of Neurology, Neurosurgery & Psychiatry eine Studie, die geeignet schien, den Glauben an die Willensfreiheit zu erschüttern. Der US-Forscher Mark Hallett hatte zusammen mit Kollegen ein einfaches Experiment durchgeführt. Die insgesamt vier Teilnehmer sollten auf ein Klicksignal hin wahlweise ihren rechten oder ihren linken Zeigefinger bewegen. Gleichzeitig mit dem Klick stimulierten die Forscher das Gehirn ihrer Probanden mit einem starken Magnetfeld.

Ergebnis: Wurde die linke Hirnhälfte angeregt, zuckten die Versuchspersonen in bis zu 80 Prozent der Fälle mit dem rechten Zeigefinger. Bei rechtsseitiger Stimulation zuckten sie meist mit links. Verblüffenderweise waren die Probanden jedoch der festen Meinung, sie hätten frei entschieden, welchen Finger sie bewegen wollten. Diese Beobachtung schien eine These zu bestätigen, die der Philosoph Arthur Schopenhauer bereits 150 Jahre zuvor formuliert hatte: "Der Mensch kann tun, was er will, er kann aber nicht wollen, was er will." Mal angenommen, dass das stimmt: Wo bleibt da die Willensfreiheit?

"Halletts Ergebnisse sind in dieser Hinsicht tatsächlich beunruhigend", sagt Dr. Jacob Rosenthal vom Institut für Philosophie der Uni Bonn. "Sie zeigen, dass uns die Ursachen für unser Handeln nicht immer bewusst sind und dass unsere Entscheidungen auch dann Ursachen haben können, wenn wir diese gar nicht sehen." Für noch aussagekräftiger als Halletts Experiment (bei dem es ja nur um die Bewegung eines Fingers ging) hält er in diesem Zusammenhang Berichte über "posthypnotische Befehle". Dabei trägt der Hypnotiseur seinem Gegenüber auf, nach Erwachen aus der Trance bestimmte Handlungen auszuführen. Der Betroffene kräht dann beispielsweise nach jedem Händeklatschen wie ein Hahn. Ihm selbst scheint diese Reaktion völlig normal; er kann sogar Gründe dafür angeben.


Die Welt als Uhrwerk

In der Regel werden wir nicht durch Magnetfelder oder posthypnotische Befehle gesteuert. Wie sieht es im Normalfall aus - ist unser Wille frei? "Dieses Thema beschäftigt die Menschheit schon seit Jahrtausenden", sagt Rosenthal. Er beobachtet mit Interesse, wie Erkenntnisse der Neurowissenschaften die Debatte um die Willensfreiheit beeinflussen. "Grundsätzlich neue Argumente hat die Hirnforschung bislang nicht geliefert", meint er. Im Kern der Diskussion steht seit jeher die Frage, ob alles in der Welt durch die Naturgesetze und die Vergangenheit vorbestimmt (also determiniert) ist. Determinismus bedeutet: Könnten wir die Uhr um einen Tag zurück drehen, würde alles wieder ganz genauso verlaufen.

Nicht erst seit Newton die Grundgesetze der Mechanik formuliert hatte, setzte sich mehr und mehr die Meinung durch, die Welt sei nichts anderes als ein kompliziertes Uhrwerk: Aus ihrem Zustand in der Gegenwart ergebe sich durch Anwendung der Naturgesetze unzweifelhaft ihr Zustand in der Zukunft. Diese Sichtweise ist heute umstritten, und zwar unter anderem aufgrund der so genannten Quantenunschärfe. Durch sie kommt eine Zufallskomponente ins Spiel: Wenn man die Welt klonen könnte, würden sich die beiden Zwillinge allein aufgrund der Quantenunschärfe nach und nach auseinander entwickeln.

Determiniert zu sein heißt in einem gewissen Sinne, keine Handlungsalternativen zu haben. In einer determinierten Welt steht heute schon unabänderlich fest, ob ich am 12.4.2023 die Deutsche-Bank-Filiale am Kaiserplatz ausräumen werde oder nicht. Das bedeutet aber nicht, dass ich unter "Zwang" handle. Auch im Determinismus folge ich meinem eigenen Willen. Allerdings ist das, was ich will, durch den Lauf der Welt unabänderlich vorbestimmt. Sind Determinismus und Willensfreiheit also zwangsläufig unvereinbar oder inkompatibel? "Viele Philosophen sehen das so", erklärt Jacob Rosenthal. "Sie sind Inkompatibilisten."


Der Zufall und der freie Wille

Das Lager der Inkompatibilisten teilt sich in Libertarier und Freiheitsskeptiker. Für Libertarier ist die Sache klar: Wir leben in einer indeterminierten Welt, und unser Willen ist frei. Die Skeptiker sehen das anders: Auch wenn die Welt nicht vorbestimmt ist - etwa aufgrund der bereits erwähnten Quantenunschärfe -, gibt es keinen freien Willen. Der Zufall rettet da nichts: Freier Wille ist mehr, als dass wir uns in derselben Situation zufällig auch mal anders entscheiden können. Eine freie Entscheidung basiert auf der Abwägung von Gründen.

Für Kompatibilisten dagegen steht die Idee, die Welt sei vorbestimmt, nicht im Widerspruch zur Willensfreiheit. Für sie sind Entscheidungen immer dann frei, wenn sie mit den Überzeugungen des Handelnden im Einklang stehen und aus rationalen Gründen erfolgen. In einer determinierten Welt können Sie also vielleicht gar nicht anders, als diesen Artikel zu lesen. Solange Sie ihn aber lesen wollen und dafür auch gute Gründe haben, haben Sie sich dennoch frei dazu entschieden.

Auch spontane Handlungen sind nicht per se unfrei. Zumindest nicht, solange man sie begründen kann - und sei es auch nur im Nachhinein -, und solange diese Gründe wirklich zutreffen (also keine reinen Rationalisierungen sind). Nun aber mal angenommen, Sie kommen morgens ins Büro und brühen sich erst einmal einen Kaffee. Dafür können Sie auch gute Gründe angeben: Etwa dass Sie noch müde sind und den Koffeinschub brauchen, um auf Arbeitstemperatur zu kommen. Unbewusst rührt Ihr Kaffeedurst aber daher, dass die Kollegen im Nachbarbüro gerade eine frische Kanne aufgesetzt haben. Ohne den Duft der frisch gemahlenen Bohnen wären Sie erst gar nicht auf die Idee gekommen.

Wie frei sind Entscheidungen, für die wir zwar Gründe angeben können, die wir aber unbewusst aus völlig anderen Motiven getroffen haben? "Diese Frage ist ebenfalls nicht neu", sagt Rosenthal. "Die Neurowissenschaften haben in den letzten Jahrzehnten jedoch einige zusätzliche Argumente zur Macht des Unbewussten ins Spiel gebracht."


Die Macht des Unbewussten

Eine der Schlüsselfiguren in diesem Zusammenhang ist der amerikanische Neurobiologe Benjamin Libet. In einer 1983 veröffentlichten Studie bat er Versuchspersonen, in einem beliebigen Moment ihre Hand zu bewegen. Die Probanden sollten sich den Zeigerstand einer Uhr merken, sobald sie die Entscheidung zur Bewegung getroffen hatten. Währenddessen zeichnete Libet ihre Hirnströme auf. Das Ergebnis überraschte ihn: Schon 0,3 Sekunden, bevor den Teilnehmern ihre Entscheidung bewusst wurde, zeigte sich in ihren Hirnströmen ein so genanntes "Bereitschaftspotenzial". Libet konnte also die Handbewegungen voraussagen, bevor seine Probanden selbst wussten, dass sie sich bewegen wollten.

Manche Wissenschaftler folgern daraus, der freie Wille sei nichts als eine Illusion: Wir handeln, und danach gaukelt uns das Gehirn vor, uns frei entschieden zu haben. Überspitzt ausgedrückt: Wir tun nicht, was wir wollen, sondern wir wollen, was wir tun. Doch ist das wirklich so? "Wenn die Neurowissenschaften zeigen könnten, dass unsere Handlungen stets aus uns verborgenen Ursachen erfolgen und wir uns die Gründe erst nachträglich zurechtlegen, dann wäre unsere Freiheit in der Tat extrem fragwürdig", sagt Rosenthal. "Einen so weit reichenden Schluss allein aus der kurzen Verzögerung zwischen Entscheidung und Bewusstsein im Libet-Experiment zu ziehen, halte ich aber für völlig überzogen." Nach Ansicht vieler Kritiker fehlt dem Experiment zudem noch eine weitere entscheidende Komponente: Die Hand zu bewegen oder nicht, ist keine Entscheidung, bei der Gründe überhaupt eine Rolle spielen.

Wie ist es aber nun mit dem Kaffee? Da gibt es einen einfachen Test: Eine Handlung erfolgte aus freien Stücken, wenn ich mich durch Argumente von ihr hätte abhalten lassen können. Wenn ich mich also durch den Duft der frisch gemahlenen Bohnen nicht hätte verführen lassen, hätte mir der Arzt vom Kaffeekonsum abgeraten, dann war meine Entscheidung frei. Wer aber etwa unter einem Waschzwang leidet, ist nach dieser Definition nicht frei: Selbst wenn er einsieht, dass das ständige Waschen seine Haut zerstört, kann er nicht damit aufhören.


Was wird aus der Verantwortung?

Die Frage nach der Willensfreiheit ist alles andere als akademisch. So basiert unser Rechtssystem auf der Annahme, dass wir uns aus freien Stücken richtig oder falsch verhalten können. Wir sind also für unsere Taten moralisch verantwortlich. Eine Annahme, die etwa der deutsche Neurobiologe Gerhard Roth (auch als Folgerung aus dem Libet-Experiment und ähnlichen Studien) ausdrücklich verneint: "Das bewusste, denkende und wollende Ich ist nicht im moralischen Sinne verantwortlich für dasjenige, was das Gehirn tut, auch wenn dieses Gehirn 'perfiderweise' dem Ich die entsprechende Illusion verleiht."

"Wer Willensfreiheit für eine Illusion hält, möchte jedoch nicht automatisch unsere Rechtsprechung abschaffen", betont Dr. Jacob Rosenthal. "Er wird aber Strafe beispielsweise als Abschreckung oder Maßnahme zur Resozialisierung betrachten, nicht etwa als Sühne. Man kann schließlich nur für etwas sühnen, für das man auch verantwortlich ist."


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Quelle:
forsch - Bonner Universitäts-Nachrichten Nr. 3, Juli 2010, Seite 10-11
Herausgeber:
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forsch erscheint viermal pro Jahr


veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Juli 2010