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ETHIK/025: Weltarmut und die Pflichten der Reichen - neue Position in der philosophischen Debatte (RUBIN)


RUBIN - Wissenschaftsmagazin, Winter 2011
Ruhr-Universität Bochum

Pflichten stark machen

Weltarmut und die Pflichten der Reichen: Eine neue Position in der philosophischen Debatte

von Corinna Mieth


Vor den Bildern aus Burundi, Eritrea oder Somalia kann im Medienzeitalter kaum jemand die Augen verschließen. Sie sprechen in diesen Tagen wieder besonders das Gefühl des Mitleids in uns an - und damit die Bereitschaft zu spenden. Die reichen Industrienationen treten als Wohltäter auf. Wir sind verpflichtet, den von gravierender Armut Betroffenen viel stärker zu helfen, setzen Peter Singer und Thomas Pogge dagegen und eröffneten damit eine philosophische Debatte. Die Bochumer Philosophin Corinna Mieth stellt dem eine neue Position gegenüber: Verantwortungszusammenhänge aufdecken und Pflichten stark machen.


Vieldiskutierter Ausgangspunkt in der philosophischen Debatte ist Peter Singers Szenario: Ein Mann durchquert auf dem Weg zur Arbeit einen Park und sieht dort, wie ein kleines Kind in einen Zierteich fällt und zu ertrinken droht. Muss der Mann dem Kind helfen, es vor dem Ertrinken retten? Fast jeder antwortet auf diese Frage mit Nachdruck "ja". Peter Singer geht hier von einer intuitiv einleuchtenden, starken Hilfspflicht aus und kommt zu dem Analogieschluss: Wenn es streng moralisch geboten ist, das Kind zu retten, dann ist es auch streng moralisch geboten, denen zu helfen, die von gravierender, lebensbedrohlicher Armut betroffen sind. In beiden Fällen seien die Pflichten gleich groß, jemandem zu helfen, der vom Tode bedroht ist. In beiden Fällen lassen wir, wenn wir nicht helfen, Menschen sterben, die wir hätten retten können. Diese Schlussfolgerung erscheint kontraintuitiv: Denn die meisten fühlen sich verpflichtet, das Kind zu retten, sehen aber ihre moralischen Pflichten gegenüber den von Armut Betroffenen nicht im gleichen Ausmaß ein.

So begreifen sich die Bürgerinnen und Bürger der "reichen" Staaten gegenüber den Armen eher als Wohltäter. Sie sehen ihre Steuer-Abgaben für die Entwicklungshilfe und ihre Spendenleistungen, die sie zusätzlich etwa in Katastrophenfällen erbringen, als Leistungen an, die über das Geforderte hinaus gehen (Supererogation). Es ist moralisch gut und verdienstlich, wenn man diese Leistungen erbringt, es stellt aber keinen moralischen Fehler oder eine Verletzung anderer dar, wenn man sie unterlässt. Die Armen, so denken die meisten Menschen, haben keinen Anspruch auf Hilfe. Oder sie billigen den Armen einen Anspruch zu, fühlen sich aber nicht verpflichtet zu helfen. Sie erfüllen diesen Anspruch nach der Schwere ihrer emotionalen Betroffenheit oder erst ganz am Ende einer Reihe von Aufgaben, die sie spontan für gewichtiger halten.

Singer hält es dagegen für notwendig, unsere Intuitionen in diesem Punkt zu revidieren und aufgrund des Analogiearguments einzusehen, dass unsere Pflichten gegenüber den Armen viel weitreichender sind, als wir gemeinhin vermuten. Aus seiner Position folgt, dass wir, so lange anderen lebensnotwendige Güter fehlen, alles abgeben müssen, was wir im Überfluss haben. Doch von der Umsetzbarkeit dieser Forderung ist Singer selbst nicht überzeugt, so dass er vorschlägt, man solle doch wenigstens den zumutbareren Betrag von zehn Prozent des Einkommens abgeben.

Wie stark sind Hilfspflichten gegenüber anderen tatsächlich? In einem Forschungsprojekt sind wir dieser Frage nachgegangen und fanden zunächst zwei Gegenthesen zu Singers Position.

Erste Gegenthese: Alle Hilfeleistungen sowie Handlungen, durch die wir aktiv die Situation anderer verbessern (sog. positive Pflichten), sind bei genauer Betrachtung nur schwach oder sogar supererogatorisch: Man begeht kein Unrecht, wenn man sie nicht erfüllt. Es gibt keine starken positiven Pflichten.

Wenn schon im Fall des in den Teich gefallenen Kindes keine starke positive Pflicht vorliegt, dann ist auch die Analogiethese hinfällig. Während das deutsche Rechtssystem, wie in den meisten europäischen Ländern, unterlassene Hilfeleistung als Straftatbestand begreift, ist dies in England, in fast allen Bundesstaaten der USA und in Australien nicht der Fall. In einer langen philosophischen Tradition steht die Ansicht, dass Pflichten, anderen zu helfen (positive Pflichten), weniger stark bindend, also normativ schwächer sind, als die Pflicht, andere nicht zu schädigen (sog. negative Pflichten). In der Kantischen Tradition wird beispielsweise unterschieden zwischen Rechtspflichten, auf deren Erfüllung andere einen Anspruch haben, und Tugendpflichten, bei denen dies nicht der Fall ist. Kantianer müssten dann sagen, das in den Teich gefallene Kind hat keinen Anspruch auf Hilfe. Wer es rettet, erweist ihm eine Wohltätigkeit, aber wer das nicht tut, dem kann kein Fehler vorgeworfen werden.

"Speise den der vor Hunger stirbt. Tust du es nicht, so hast du ihn getötet."
Ambrosius von Mailand (339-397)  

Während die eine Seite der philosophischen Tradition, die positive Pflichten generell für schwach hält, im Fall des ertrinkenden Kindes unseren moralischen Intuitionen widerstrebt, ist auch die andere Seite, die es für geboten hält, allen Bedürftigen gleichermaßen helfen zu müssen, kontraintuitiv. Einige starke positive Pflichten sind dennoch in vielen Rechtssystemen anerkannt: Eltern, Ärzte, Bademeister, Feuerwehrmänner, Bodyguards oder Polizisten sind stark verpflichtet, denen zu helfen, deren Leben bedroht ist, selbst wenn ihr eigenes dabei auf dem Spiel steht oder gravierende Einschränkungen hingenommen werden müssen. Die Pflichten hängen hier stark vom vorherigen Verhalten ab: Eltern haben ihre Kinder freiwillig in die Welt gesetzt und müssen diese nun versorgen. Ärzte, Bodyguards oder Feuerwehrmänner sind zuvor freiwillig vertragliche Verpflichtungen eingegangen, anderen zu helfen. Diese Pflichten werden auch von ultraliberalen Theoretikern als starke Pflichten akzeptiert, obwohl sie damit verbunden sind, etwas aktiv für andere zu tun (positive Pflicht). Problematisch sind aus liberaler Sicht nur die vom vorherigen Verhalten unabhängigen positiven Pflichten: der Mann, der in keiner persönlichen Beziehung zu dem Kind steht, das er retten soll, oder "die Reichen", die in keiner besonderen Beziehung stehen zu den Armen in der Welt.

Pflichten sind immer mit Kosten verbunden, die aus liberaler Sicht so gering wie möglich ausfallen sollten: Wir können kontrollieren, welche Verpflichtungen und Verträge wir freiwillig eingehen, aus denen dann Leistungen von uns erwartet werden. Doch man kann genau so wenig dafür, als Zeuge eines Unfalls jetzt die "Last" der Hilfe tragen zu müssen, wie als Reicher ausgerechnet jetzt die Mittel zu haben, den Armen helfen zu können.

Gleichwohl scheint es kontraintuitiv zu sein, im Fall des in den Teich gefallenen Kindes keine starke Hilfspflicht anzunehmen. Das Argument für eine starke Hilfspflicht beruht hier entsprechend dem deutschen Rechtssystem auf der vorliegenden einfachen Rettungssituation: Einerseits steht Leben auf dem Spiel, andererseits ist die Hilfe leicht zu erbringen - der Mann macht sich lediglich die Kleider nass, wird dann aber sein Leben wie bisher weiter führen können. Wenn wir diesem Argument zustimmen, geben wir dann nicht auch Singer recht hinsichtlich der anderen Seite der philosophischen Tradition? Besteht dann nicht eine genau so starke Pflicht, allen anderen vom Tode bedrohten zu helfen, indem wir etwa auf Luxusgüter verzichten?

Zweite Gegenthese: Der Fall des verunglückten Kindes ist nicht vergleichbar mit dem Armutsfall. Die Kriterien für starke Pflichten unterscheiden sich in beiden Fällen.

Im Hinblick auf den Grad der Notlage sind beide Fälle als durchaus gleichwertig anzusehen, denn in beiden stehen Leben auf dem Spiel. Doch in mindestens drei moralisch relevanten Faktoren unterscheiden sich die beiden Fälle voneinander.

Im ersten Fall kann die Hilfe direkt von einer Person geleistet werden, der man eine unterlassene Hilfeleistung auch eindeutig zurechnen könnte. Hinsichtlich der Weltarmut ist Hilfe zumeist nur indirekt über Organisationen möglich und kann nicht direkt von Mensch zu Menschen geleistet werden. Damit ist nicht klar, wer für wen zuständig ist, und auch unterlassene Hilfeleistungen sind nicht eindeutig zurechenbar.

Zudem unterscheiden sich beide Fälle im Hinblick auf die Zumutbarkeit der Hilfe. Die Rettung des in den Teich gefallenen Kindes ist einmalig, dauert nur eine kurze Zeitspanne und hat lediglich nasse oder schmutzige Kleider zur Folge; angesichts der Weltarmut stünde weitaus mehr auf dem Spiel. Viele moralphilosophische Positionen sind entsprechend anspruchsvoll und plädieren für die Umverteilung grundlegender Güter, die die einen im Überfluss haben und die den anderen fehlen. Schon die Kirchenväter sprechen davon, dass das, was einer im Überfluss besitzt, den Armen gehöre - ebenso vom Unrecht durch Unterlassen: Gibt man dem, den man retten könnte, nichts ab, so hat man ihn getötet.

Schließlich ist die Aussicht auf Erfolg in beiden Fällen unterschiedlich. Nach der Rettung des Kindes aus dem Teich ist ein status quo ante schnell wieder hergestellt: Das Kind wird von seinen Eltern betreut, bekommt schulische Bildung und hat eine gute Lebensperspektive. In der Armenhilfe ist dies häufig nicht der Fall: Nach einer Hungersnot kann die nächste drohen, vermeidbare Krankheiten können zum Tod führen. Armut verlangt offensichtlich nach institutionellen Lösungen.

"Daher ist der Überfluß, den einige haben, auf Grund des Naturrechts dem Unterhalt der Armen geschuldet.
Thomas von Aquin (1224-1274)  

Viele Naturkatastrophen und Hungersnöte wären durch eine andere Politik vermeidbar, der status quo an sich ist das Problem. Der Lebensstandard muss auf ein Niveau gebracht werden, auf dem grundlegende Menschenrechte auf Nahrung, Kleidung, Unterkunft, aber auch politische Teilhabe und körperliche Unversehrtheit erfüllt sind. Dies zu gewährleisten, sind einzelne Individuen überfordert, und es ist fraglich, ob kurzfristige Hilfsaktionen langfristig zum Erfolg beitragen. Schon lange wird darüber diskutiert, ob etwa Entwicklungshilfe so effizient ist, wie erhofft.

Wir schlagen vor, starke Hilfspflichten an vier Kriterien festzumachen: Sie müssen an eine gravierende Notlage gebunden sein (Singers Position), daneben muss eine unabweisbare situative Zuständigkeit vorliegen, die Hilfspflicht muss dem Helfenden zumutbar sein und es muss eine plausible Aussicht auf Erfolg bestehen.

Thomas Pogge legt eine andere Begründung für starke Pflichten gegenüber den Armen vor (Info 2). Er geht davon aus, dass Hilfspflichten tatsächlich nur schwache Pflichten sind, dass wir - die Bürgerinnen und Bürger der reichen Staaten - gegenüber den Armen aber gar keine Hilfspflichten, sondern sehr viel stärkere Pflichten der Gerechtigkeit haben. Selbst Ultraliberale gehen davon aus, dass sich aus der Schädigung anderer (Verletzung negativer Pflichten) gegenüber den Geschädigten kompensatorische Verpflichtungen ergeben. Auf Grundlage dieser Idee versucht Pogge folgende Beweisführung: Auch wenn es keine vom vorherigen Verhalten unabhängigen positiven Pflichten gäbe, würde die Bevölkerung der reichen und mächtigen Demokratien ihre negativen Pflichten verletzen, indem sie die Armen vermeidbar schädigt. Denn zu der ungerechten Weltwirtschaftsordnung tragen alle Bürgerinnen und Bürger bei und profitieren von ihr.

Der Hintergrund: Viele arme Staaten sind reich an Rohstoffen und arm an demokratischen Strukturen. Doch die Bevölkerung kann von den Ressourcen ihres Landes nicht profitieren (sog. "Ressourcenfluch"). Man kann dies als ein rein innerstaatliches Problem ansehen. Demokratisierung müsste auf eine gerechtere Verteilung von Ressourcen hinwirken. Doch für Pogge sind die reichen und mächtigen Länder für diese Missstände verantwortlich, die im demokratischen Regierungsauftrag ihrer Bevölkerungen die Weltwirtschaft kontrollieren. Denn wir werden der von Art. 28 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte geforderten Pflicht nicht gerecht, eine Ordnung zu ermöglichen, die allen anderen Menschenrechte gewährleistet. Indem unsere Regierungen zulassen, dass unsere Wirtschaft billige Rohstoffe von unrechtmäßig an die Macht geputschten Diktatoren erwirbt, unterstützen sie deren Politik und enthalten der Bevölkerung dieser Länder den Nutzen der eigenen Rohstoffe vor. Damit tragen unsere Regierungen in diesen Ländern wissentlich und vermeidbar zur Verletzung der Menschenrechte bei. Nach Pogge könnten Diktaturen durch eine andere Politik gezwungen werden, die Menschenrechte ihrer Bevölkerung zu gewährleisten. Indem wir das Fehlverhalten unserer Regierungen durch demokratische Wahlen legitimieren, tragen wir als Bürger zu dieser ungerechten Weltwirtschaftsordnung bei und profitieren von ihr. Damit verletzen wir die Menschenrechte der Armen. Wir haben somit keine Hilfspflicht ihnen gegenüber, sondern, als Mitverursacher des Problems, eine normativ stärkere Kompensationspflicht.

Allerdings stellen sich die Rechtsverletzungen, die Pogge den Bürgern der reichen Staaten vorwirft, nicht widerspruchsfrei dar. Die Argumente des Mitwirkens, des Verursachens und des Profitierens sind in ihrer Anwendung auf die einzelnen Individuen empirisch zu schwach, als dass sich eindeutige Verschuldungs- und Kompensationsverpflichtungen ergäben. Dies liegt vor allem daran, dass die Bevölkerung der reichen Staaten in ihrer Lebenswelt nicht darum herum kommt, von Produkten zu profitieren, die in menschenrechtlich zweifelhafter Weise hergestellt oder erworben wurden. Auch können sich die Bürgerinnen und Bürger dieser Verstrickung in eine ungerechte Weltwirtschaftsordnung nicht entziehen. Pogges Versuch, auf der Basis negativer Pflichten eine starke Kompensationsverpflichtung abzuleiten, ist ein starker Appell an die Mitverantwortung der Bürger. Dieser Versuch, starke Pflichten nachzuweisen, scheitert aber genauso an der Unüberschaubarkeit der empirischen Zusammenhänge wie der Versuch Singers, starke Hilfspflichten gegenüber allen Bedürftigen ausmachen zu wollen.

"Dem Hungrigen gehört das Brot, das du zurückhälst; dem Nackten, das Kleid, das du im Schranke verwahrst; dem Barfüßigen der Schuh, der bei dir verfault; dem Bedürftigen das Silber, das du vergraben hast.
Basilius von Caesarea (330-379)  

Starke individuelle Pflichten können nur dort bestehen, wo klare Zusammenhänge erkennbar sind, unabhängig davon, ob es sich um Hilfs- oder Gerechtigkeitspflichten handelt. In einer immer weiter sich vernetzenden Welt bedarf das der empirischen Information. Menschen, die etwa bei NGOs arbeiten oder sich unabhängig davon organisieren, können solche Informationen bereitstellen und Strukturen schaffen, die wieder andere dazu bewegen, ihre Konsumentenpflichten ernster zu nehmen. Wird man von anderen auf Firmen aufmerksam gemacht, die ihre Produkte durch Kinderarbeit produzieren, setzt das viel stärker unter moralischen Druck, diese nicht mehr zu kaufen, als das selbst herausfinden zu müssen (s. Info 1). Social change ist weniger eine Sache des Erkennens starker Pflichten als des moralischen Selbstverständnisses, sich über die Pflicht hinaus zu engagieren oder denen zu folgen, die dies tun: Wenn wir die Möglichkeit der Wahl haben, uns moralisch richtig oder falsch zu verhalten, sind wir stärker gefragt. Die ambivalente Weltwirtschaftslage bedarf neben der moralischen Betrachtung einer damit verknüpften empirischen Analyse: Welche individuelle, zumutbare Verhaltensänderung kann erfolgreich sein? Wie können wir die Lage der Menschenrechte, eingeschlossen die Sozialrechte, in anderen Ländern konkret verbessern? Je mehr wir darüber wissen und je mehr jenseits der starken individuellen Nothilfepflichten daran geforscht wird, desto mehr hat dieses Projekt Aussicht auf Erfolg - und desto stärker werden die konkreten Hilfs- und Reformpflichten.



Prof. Dr. Corinna Mieth, Praktische Philosophie, Philosophisches Institut I, Politische Philosophie und Rechtsphilosophie, Fakultät für Philosophie und Erziehungswissenschaft


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Verantwortungszusammenhänge aufdecken - Pflichten stark machen

Das Praxisbeispiel: Ein Finanzdienstleistungsunternehmen sponserte in Österreich und der Schweiz 200 000 Fußbälle für die Fußballeuropameisterschaft 2008. Dass die Bälle durch Kinderarbeit produziert wurden, brachte das Nachrichtenmagazin "10 vor 10" des Schweizer Fernsehens ans Licht. Dem Magazin lagen entsprechende Dokumente aus der Produktionsfirma vor. Es wird angenommen, dass die Information über einen "Whistleblower" an eine NGO und schließlich an das Fernsehen weitergeben wurde.
Verantwortungszusammenhänge: Das Finanzdienstleistungsunternehmen hat sich selbst - auch öffentlich - dazu bekannt, Produkte nicht durch Kinderarbeit herstellen zu lassen. Daraus entsteht die Pflicht, dafür zu sorgen, dass auch Dritte auf Kinderarbeit verzichten, an die das Unternehmen entsprechende Produktionen überträgt. Für den Finanzdienstleister liegt eine starke Pflicht vor, die alle seine Produkte betrifft.
Diese Pflicht wurde offensichtlich verletzt. Der Whistleblower hat diese Pflichtverletzung zum Anlass genommen, die Information nach außen weiterzugeben. Ob er selbst eine starke Pflicht dazu hatte, hängt davon ab, was für ihn auf dem Spiel stand. Das Nachrichtenmagazin hat eine starke Pflicht, diese Information zu verbreiten und die Öffentlichkeit über das Fehlverhalten aufzuklären. Für die Kunden besteht eine starke Pflicht, den Finanzdienstleister zu wechseln, wenn die Bank ihre Praxis nicht ändert und vergangene Schäden nicht kompensiert.
Besonderheiten der Forschung: Die philosophische Ethik entwirft Kriterien für starke Pflichten, die aber von empirischen Faktoren wie den Produktions- und Konsumtionsvorgängen, dem verfügbaren Wissen um diese Vorgänge sowie den rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen abhängen können. Daher ist das Zusammenspiel verschiedener Disziplinen gefragt: Empirische und normative Disziplinen und Perspektiven müssen verschränkt werden. Im neuen Research-Master-Studiengang "Ethics, Economics, Law and Politics" an der Ruhr-Universität wird dies unter Federführung der Ethik erstmals in Deutschland versucht.
Auch die sog. Bereichsethiken Konsumenten-, Wirtschafts- und Unternehmensethik sind auf die Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen angewiesen, um die Rahmenbedingungen für das Entstehen und Aufzeigen individueller und kollektiver Pflichten zu schaffen. Dabei geht es ebenso um Zusammenhänge, die auf Menschenrechtsverletzungen hinauslaufen, wie um neue Zusammenhänge, aus denen starke Pflichten entstehen können. Starke Pflichten liegen vor, wenn die Kriterien der Bedürftigkeit, der Bestimmtheit, der Zumutbarkeit und der Aussicht auf Erfolg gegeben sind, unabhängig davon, ob es sich um positive oder negative Pflichten handelt.

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Mehr zum Thema

Mieth, Corinna, Positive Pflichten. Zum Verhältnis von Hilfe und Gerechtigkeit in Bezug auf das Weltarmutsproblem.
Berlin: De Gruyter, im Druck
Pogge, Thomas, Weltarmut und Menschenrechte. Kosmopolitische Verantwortung und Reformen.
Berlin: De Gruyter, 2011
Singer, Peter: Hunger, Wohlstand und Moral. In: Bleisch, Barbara / Schaber, Peter (Hrsg.): Weltarmut und Ethik.
Paderborn: Mentis, 2007

Den Artikel mit Bildern finden Sie im Internet im PDF-Format unter:
http://www.ruhr-uni-bochum.de/rubin/rubin-winter-2011/pdf/beitrag03.pdf


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Quelle:
RUBIN - Wissenschaftsmagazin, Winter 2011, S. 26 - 35
Herausgeber: Rektorat der Ruhr-Universität Bochum
in Verbindung mit der Stabsstelle Strategische PR
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Dezember 2011