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BERICHT/071: Der organlose Körper (ROSA)


ROSA:36 - Die Zeitschrift für Geschlechterforschung - Februar 2008

Der organlose Körper

Von Viktoria Popova


In ihrem Werk Tausend Plateaus überwinden die Philosophen Gilles Deleuze und Felix Guattari die traditionelle Dichotomie zwischen Körper und Geist und erfinden den "organlosen Körper". Geht man solche Wege, erfährt man, dass beim Hinterfragen der Organisation des Denkens immer auch jene des Körpers in Frage gestellt wird.


Mindestens seit Nietzsche streben Künstlerinnen, Dichterinnen und Denkerinnen "die Umwertung aller Werte", die Überwindung der Metaphysik und der damit gegebenen "natürlichen" Hierarchisierung einer dualen Weltordnung an.

Prangert man bipolare Realitäts- oder Wahrheitssetzungen an, stellen sich gewichtige Fragen. Wie soll Identität jenseits der Spaltung von Körper und Geist, Innen und Aussen gedacht werden? Wie können "fremd" und "eigen" in Beziehung treten, ohne im mystischen Einen, in der Synthese, die wieder die Transzendenz auf den Plan riefe, aufgelöst zu werden? Deleuze und Guattari entwerfen ein entsubjektiviertes "Individuum", das einzig in seiner Heterogenität, d. h. in dynamischer Verbindung mit seiner Umwelt, leben kann. Dessen Denken beginnt in seinem Körper und umgekehrt. Doch weder Denken noch Körper sind bloss "sein eigen".


Wucherndes Nomadentum

Deleuze und Guattari versuchen in ihren Schriften unter anderem, die Psychoanalyse (v.a. Lacan'scher Art) perspektivisch zu verschieben. Sie problematisieren ihr inhärentes Unvermögen, die duale Ordnung zu überschreiten. Indem sie nämlich einen Mangel als Urereignis (Trauma, ödipale Verirrung, etc.) behauptet, bleibt das Individuum, das sich darauf einlässt, in einer Zirkularität gefangen bis schliesslich die Herrschaft "des Vaters" bzw. des "Über-Ichs" (an)erkannt und fortgeführt wird. Damit wird aber gerade das subversive politische Moment psychischer "Verschiebungen", die sich gegen das (Gesellschafts-)System richten, um Denk- und Lebensräume zu schaffen, entkräftet. Dem Bewusstwerden soll das einsichtige Einfügen des Individuums in die patriarchale (ödipale) Ordnung und deren Bejahung folgen - derart wird in der Psychoanalyse aus dem Individuum ein Subjekt.

Es ist dieser Begriff des Subjekts, der in der Postmoderne entlarvt und angefochten wird. An seine Stelle lassen Deleuze und Guattari jenen des "Schizos" treten. Das plurale Ich, welche die Psychoanalyse um jeden Preis zusammenzuhalten versuchte, soll nun "zerstreut" werden. Anstatt das Individuum in Reflexion aufzulösen und es dem "Über-Ich" unterzuordnen, bekommt das "Unterbewusste" seinen Körper wieder. "Deterritorialisierung" und "Molekularisierung" sind die Begriffe für die ereignishafte Dynamik des entsprechenden heterogenen, "nomadischen" Werdens.


Rhizom und Meute

Das nomadische Werden muss immer anderswo ansetzen können. Seine Lebensdynamik ist die "molekulare" Dynamik seiner "Mannigfaltigkeiten". Letztere sollen keiner regulativen Identität überantwortet werden. Das Individuum soll nicht mehr - im wiederholten Rückgriff auf ein Urereignis - Trauma und Schock unendlich reproduzieren müssen. Dem Urereignis wird eine Absage erteilt. Es gibt keinen Ursprung, somit auch keinen Anfang, kein Ende, kein Ankommen und kein Ziel mehr. Um "Richtung" zu gewinnen, gilt es molekular zu werden, Nachbarschaften zu schliessen und "Fluchtlinien" (des Wunsches) zu ziehen. Deleuze und Guattari sprechen auch von "Luft wurzeln" und entwickeln im Vorwort zu Tausend Plateaus das kartographische Konzept des "Rhizoms" als Gegenmodell zur üblichen (streng hierarchischen) Baumstruktur, auf der alle binären Ordnungen (z.B. die traditionelle Philosophie) gründen. Das Rhizom ist die Metapher für das "schizoide Nomadentum", das "Gefüge-Werden", das "Maschine-Machen", die Durchdringung dynamischer "Konsistenzebenen" - Ebenen der Vermischung von "Geschwindigkeiten" und "Intensitäten".

Im 1. Kapitel von Tausend Plateaus setzen Deleuze und Guattari der kapitalistischen Organisation der (homogenen) "Masse" die "Meute" (das Rudel von Mannigfaltigkeiten) entgegen. Und zwar ist jede/r eine Meute: "Identität im Plural" (je nach Nachbarschaften "intensiv").(1) "Man muss alles gleichzeitig berücksichtigen - dass eine Gesellschafts-Maschine oder eine organisierte Masse ein molekulares Unbewusstes haben (...), dass jedes Individuum, das von einer Masse ergriffen wird, selber ein Meuten-Unbewusstes hat, das nicht zwangsläufig den Meuten der Masse ähnelt, zu der es gehört; (...) Was bedeutet es, jemanden zu lieben? Es bedeutet immer, ihn aus einer Masse herauszugreifen, ihn aus einer vielleicht nur begrenzten Gruppe herauszunehmen; und dann muss man seine Meuten suchen, die Mannigfaltigkeiten, die er in sich trägt und die vielleicht ganz anderer Art als meine sind. Sie an meine anschliessen, sie in meine eindringen lassen, und in seine eindringen. (...) Jede Liebe ist ein Akt der Entpersonalisierung auf dem organlosen Körper, der gebildet werden soll." (S. 54f.)


Der organlose Körper

Frau-, Tier-, Meute-, Maschine-Werden sind verschiedene Begriffe für das "Molekular-Werden" (vs. "molar").(2) Es geht hierbei um die Möglichkeit einer dem dynamischen Differenz-Begriff entsprechenden positiven "De- und Reterritorialisierung" (z.B. geschlechtliche Pluralität und Geschlechtslosigkeit, Kategorie und deren Subversion zugleich).

Der Mensch ist hier weder a priori noch a posteriori ein oder der Gegensatz z.B. zu Tier, sondern "macht Maschine", verbindet sich mit ihm als seiner Nachbarschaft und wird "intensiv". Der Mensch wird in seinen Mannigfaltigkeiten Tier, das Tier Mensch.

Um molekular werden und sich mit Nachbarschaften verbinden zu können, muss der Körper "organlos" werden. Es gilt, die Organe zugunsten einer "Ordnung" der Intensitäten von ihren Funktionen (von der kulturellen Trimmung) zu befreien. Der organlose Körper ist ein Ereignis des Werdens, ein dynamischer "Höhepunkt", eine Schwelle der ständigen Umfunktionierung der Organe je nach Nachbarschaften. Der Kniff ist das dynamische Moment des Ereignisses - Entgrenzung, in der neue Räume erschlossen werden, jedoch nicht individuell, also subjektiv, sondern in der Begegnung: Hier lässt sich das Individuum auf sich selbst ein, indem es sich von seiner eigenen, durch das Benachbarte geweckten (und damit also genauso eigenen wie fremden) Heterogenität, "mitreissen" lässt.

Eine neue Beziehungsökonomie ist eine der politischen Fluchtlinien dieses Denkens. So ist jeder Umsetzungsversuch eine gefährliche Gratwanderung, denn der angestrebte "organlose Körper" ist nicht gleich zu setzen mit dem entleerten Körper, der seine Organe abtötet - während dies die Richtung ist, in welche das System drängt.(3) Das Moment der Begegnung mit dem Anderen ist unabdingbar für die Dynamik der Reterritorialisierung als Deterritorialisierung.


Ansteckung

Wie zu erwarten ist, wird, um der Befreiung der Organe willen, der Fortpflanzung als primärer Funktion des Körpers eine Absage erteilt.(4) Vermehrung geschieht durch Ansteckung (im weitesten Sinn) - Begegnung ist Ansteckung und Aktualisierung der (eigenen) Vielheiten. Nur in (dieser doppelten) Bewegung lebt der organlose Körper. Das rhizomatisch wuchernde Werden kennt kein Alter und keine entsprechende Hierarchie. Aus allen Nachbarschaften werden Fluchtlinien gezogen und deshalb wirken familiäre (ödipale) u. ä. Verhältnisse weder von vorn herein dominant, noch müssen sie überhaupt hingenommen werden. Identität im Plural lässt sich auf alle Begegnungen als zweiseitige Vorgänge, also auf Ereignisse, die immer solche des Anders-Werdens sind, ein.

Dieser rhizomatischen Pluralität entsprechen, wie die Vermischung der Stimmen der zwei Autoren, die vielen Beschreibungen synästhetischer Erfahrungen in Tausend Plateaus - ein "Denken mit" KünstlerInnen wie André Gide, William S. Burroughs oder Virginia Woolf.


Anmerkungen

(1) "Wir haben den Anti-Ödipus zu zweit geschrieben, und da jeder von uns mehrere war, macht das schon eine ganze Menge aus." (Tausend Plateaus, 1. Satz der Einleitung Rhizom).

(2) Frau-Werden gehört ganz besonders zu den Arten des Werdens. Deleuze und Guattari sehen im kulturellen Prozess die ersten Restriktionen vom Mädchen getragen, dem im "Du bist jetzt eine Frau." sein eigenes Werden, das eigentliche (Frau-)Werden, verwehrt wird. In der Folge, mit "Sei ein Mann!" wird auch das Werden des Jungen angehalten und in die Polaritäten gezwängt.

(3) Als meist misslingenden Deterritorialisierungsversuch nennen Deleuze und Guattari, neben dem sadomasochistischen Körper, den "Drogen-Körper", welcher in der Destruktion endet, anstatt im Ereignis des Werdens (obwohl er gleichermassen politisch ist).

(4) Denn körperliche Fortpflanzung ist immer eine Fortpflanzung der dualen Ordnung.

(5) Diese Fussnote gibt es gar nicht. Doch hier möchte ich nach drei Jahren meine Redaktionstätigkeit beenden, indem ich mich bei euch, die ihr diesen ROSA-Raum eröffnet habt und aufrecht erhaltet, bedanke.


Literatur

Deleuze, Gilles, Guattari, Fölix, Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie II, Berlin 1992.


Viktoria Popova, Autorin

...die sich mit- und hinfortreissen liess, Luftwurzeln schlagend - man verzeihe ihr all Narrenspiel: "Die Phantasie in meinem Sinn / Ist diesmal gar zu herrisch / Fürwahr, wenn ich das alles bin, / So bin ich heute närrisch." (Goethe, Walpurgisnachtstraum).
viktoria.popova@gmail.com


Zeichnung

Sarah Burger, Master of Art in Public Sphere, studiert Philosophie an der Universität Zürich.
bergsinnig@gmx.net


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Quelle:
ROSA:36 - Zeitschrift für Geschlechterforschung
Ausgabe Februar 2008, S. 18 - 20
Redaktionsanschrift:
Rämistrasse 62, 8001 Zürich, Schweiz
E-Mail: rosa.gender@gmail.com
Internet: www.rosa.uzh.ch

Ein Einzelheft kostet 5 SFr,
das Rosa-Jahresabonnement 15 SFr / 11 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Juni 2009