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DILJA/071: Südafrika - Statthalterstaat des Imperiums - Teil 10 (SB)


Statthalter westlicher Hegemonialmächte auf dem schwarzen Kontinent - Südafrika vor, während und nach der Apartheid


Teil 10: Die Tragödie der "Verhandlungslösung" von 1990 - Der ANC-geführte Apartheidwiderstand läßt sich vereinnahmen zugunsten einer Restrukturierung Südafrikas als westlicher Statthalterstaat

In vielen, formal entkolonialisierten Staaten Afrikas, die allesamt mit dem Erbe jahrhundertelanger Fremdherrschaft zu kämpfen hatten, was eine Rückbesinnung auf tradierte Kulturen und Lebensweisen nahezu unmöglich machte angesichts der zumeist katastrophalen Lebensverhältnisse, kamen in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts nicht selten rigide Militärregime an die Macht. Da solche Militärherrscher aus naheliegenden Gründen am allerbesten Verhältnisse sichern konnten, die aus Sicht der westlichen Mächte als "stabil" und deshalb in ihrem Interesse liegend bewertet wurden, konnten sich die neuen Despoten Afrikas der offenen oder klammheimlichen Akzeptanz des Westens sicher sein. In den 1960er und 70er Jahren hatte sich deshalb die Redensart eingebürgert, die "Demokratie" sei nicht die geeignete Regierungsform für die Länder der sogenannten Dritten Welt. Den Menschen in den zuvor vom Westen kolonialisierten Regionen wurde somit die Option einer solchen, von den ehemaligen Kolonialherrschern selbstverständlich als höherwertig bezeichneten Gesellschaftsentwicklung per se abgesprochen, frei nach dem Motto: Auf einen groben Klotz, sprich den unterentwickelten, noch recht barbarischen Menschen, gehöre eben auch ein grober Keil, sprich ein notfalls auch folterndes Militärregime.

US-Präsident James Carter muß geglaubt haben, durch eine solche Vorgehensweise insbesondere in den noch jungen afrikanischen Staaten den Kampf der Systeme zwischen Ost und West, zwischen Kommunismus und Kapitalismus, womöglich zu verlieren. Er initiierte einen Strategiewechsel, um der ganz groben, das heißt militärischen Form der Herrschaftssicherung eine Taktik hinzuzufügen, mit der die "Hirne und Herzen" der Menschen miteingebunden werden sollten, um auf diese Weise den tatsächlichen wie potentiellen Unabhängigkeitsbestrebungen und Befreiungskriegen schon im Vorwege den Boden zu entziehen. Carter setzte nach seinem Amtsantritt der Doktrin seiner Amtsvorgänger und westlichen Partner, daß Demokratie für die Dritte Welt nicht geeignet sei, einen Kontrapunkt entgegen. Im Januar 1977 machte er die Behauptung, Demokratie und Menschenrechte seien der beste Schutz vor dem Kommunismus, zur neuen Leitlinie der US-Außenpolitik.

Damit trug er nicht eben zur Stabilisierung der Apartheidregierung Südafrikas bei, die nach der blutigen Niederschlagung der Schüler-Proteste in Soweto im Jahr zuvor auch international mehr denn je in die Kritik geraten war. Gemessen an Menschenrechten und demokratischen Kernforderungen wie beispielsweise einem allgemeinen und gleichen Wahlrecht für alle hätte Südafrika ad hoc zum Ziel US-amerikanischer Demokratisierungs-Bestrebungen werden müssen. Das hat auch Carter selbstverständlich so nicht gemeint, doch seine Worte hätten im damaligen internationalen Kontext in diesem Sinne aufgefaßt und in konkrete Forderungen an das Apartheidregime übergeführt werden können. Carters Amtsnachfolger, Ronald Reagan und George Bush Senior, räumten mit diesem potentiellen Mißverständnis auf und stellten klar, daß das mit den USA wie auch der gesamten westlichen Welt verbündete Südafrika zu Zeiten des Kalten Krieges, wie der seinerzeit wütende Kampf zwischen der kapitalistischen und der sozialistischen Staatenwelt genannt wurde, vor Demokratieforderungen geschützt werden müsse.

In Südafrika selbst war allerdings längst eine Generation herangewachsen, die gegenüber der Idee, mit dem Apartheidregime in Verhandlungen treten zu wollen, um eine Verbesserung der Lage der entrechteten und durch ein äußerst repressives System in extremer Weise erniedrigten Menschen zu erreichen, aufgrund schlechtester Erfahrungen immun geworden war. Unruhen, Proteste und Streiks, aber auch Angriffe bewaffneter Widerstandsorganisationen hatten in den 1980er Jahren landesweit und in zunehmender Intensität eine Stärke erreicht, die das Regime in ernste Bedrängnis brachte. 1984 versuchte deshalb die Regierung von Ministerpräsident Pieter Willem Botha von der Nationalpartei (NP), der seit 1978 dieses Amt bekleidet hatte, durch eine neue Verfassung die Lage zu entspannen. Nach dem Prinzip des Teilens und Herrschens ermöglichte die neue Verfassung den "Coloureds", wie Mischlinge genannt wurden, sowie Südafrikanern asiatischer Herkunft eine begrenzte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, während die schwarze Bevölkerungsmehrheit weiterhin strengsten Apartheidgesetzen unterworfen blieb. Dieses Verfassungswerk vermochte zur Befriedung der Lage nichts Nennenswertes beizutragen. Botha selbst allerdings konnte sich nun zum Staatspräsidenten wählen lassen.

Zwei Jahre später, 1986, stellte sich die Lage für Pretoria als so beängstigend dar, daß der Ausnahmezustand für ganz Südafrika erklärt wurde. Die EU kam nun nicht umhin, Sanktionen gegen Südafrika zu verhängen; andernfalls hätten die westlichen Frontstaaten, die die Welt unter dem Banner von Demokratie und Menschenrechten, Freiheit und Marktwirtschaft - selbstverständlich im ureigensten Interesse - zu vereinnahmen suchten, jegliche Glaubwürdigkeit verspielt. Mit anderen Worten: Das Ende des Apartheidregimes in Südafrika war längst überfällig, untermauerte doch seine bloße Existenz die stille Kumpanei des Westens mit einem System, das dessen zu Hegemonialzwecken beanspruchte Werte von Demokratie und Freiheit aufs ärgste strapazierte und bloßstellte.

Das tatsächliche Ende der Apartheid läßt sich unterdessen nicht allein durch die gesellschaftliche Entwicklung in Südafrika, sprich die unwiederbringlich verlorengegangene Bereitschaft der schwarzen Bevölkerungsmehrheit, sich ungeachtet der militärischen Überlegenheit noch länger der Herrschaft der Weißen zu unterwerfen, erklären. An dieser hatte es schon weitaus länger gemangelt, dennoch konnte Pretoria sich bis Ende der 1980er Jahre über Wasser halten. Selbst von Apartheidgegnern wird nicht selten die Auffassung vertreten, der Fall der Berliner (!) Mauer - am 9. November 1989 öffnete die DDR scheinbar unter dem Druck ausreisewilliger Bürger erstmals seine Grenzen - sei ein Signal für Veränderungen im südlichen Afrika gewesen. Diese Annahme ist eigentlich ein schlechter Witz, unterstellt sie doch einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen der deutschen Teilung bzw. Zweistaatlichkeit jener Zeit und den Verhältnissen im Apartheid-Südafrika.

Gleichwohl ist eine gewisse zeitliche Parallelität der Ereignisse in der DDR und der Sowjetunion sowie in Südafrika nicht von der Hand zu weisen. 1989 fiel in der DDR - im Bilde gesprochen - nicht nur die Mauer. Im gleichen Jahr wurde in Südafrika eine Weichenstellung vollzogen, die das Ende der Apartheid einläutete. 1990 wurde die DDR endgültig der Bundesrepublik einverleibt. Doch nicht nur die DDR löste sich als sozialistischer Staat in Luft auf, auch die Sowjetunion verschwand von der Bildfläche. Am 12.6.1990 erklärte sich Rußland für unabhängig; 1991 konstituierte sich die Russische Föderation als Präsidialrepublik. In Südafrika wurde Nelson Mandela nach ersten, noch im Gefängnis geführten Geheimverhandlungen am 11. Februar 1990 entlassen, der 1960 verbotene ANC wurde wieder zugelassen. Die Erklärung Mandelas, auf den bewaffneten Kampf verzichten zu wollen, wurde in der westlichen Welt als die wohl wesentlichste Voraussetzung für die ab Mai offiziell geführten Verhandlungen zwischen dem Regime und dem ANC über eine Beendigung der Apartheid angesehen. Im Juni 1990 wurde in Südafrika der 1986 verhängte Ausnahmezustand wieder aufgehoben. Nach und nach hob die Regierung de Klerk die Apartheidgesetze auf, und ab Dezember 1991 wurden Verhandlungen über eine Übergangsregierung sowie eine neue, nicht rassistische Verfassung geführt.

Da bekanntermaßen die sozialistischen Staaten den ANC in Südafrika, aber auch viele andere Befreiungsbewegungen im südlichen und auch im übrigen Afrika unterstützt hatten, wurde vielfach mit einer gewissen Verwunderung zur Kenntnis genommen, daß erst das Ende der realsozialistischen Staaten zur Beendigung der Apartheid geführt zu haben schien, obwohl damit jegliche zuvor gewährte Unterstützung wegfiel. Dieses vermeintliche Rätsel läßt sich schnell aufklären - allerdings nur unter der Voraussetzung, die bis heute allgemein akzeptierten Erklärungsmodelle für das Phänomen "Apartheid" in Frage zu stellen. Apartheid bedeutet vom Wort her nichts anderes als Rassentrennung, und es ist ganz gewiß nicht zu bezweifeln, daß in Südafrika seit 1948 scharfe Rassentrennungsgesetze herrschten, durch die quasi ein (demokratischer) Staat der Weißen parallel zu einem rigiden, die Schwarzen beherrschenden Unterdrückungsapparat legalisiert wurde.

Dieser Apparat läßt sich jedoch keineswegs zufriedenstellend analysieren mit der Annahme eines hautfarbebedingten Hasses oder weißer Über- und schwarzer Unterlegenheitsgefühle, mag es sie auch noch so sehr gegeben haben. Das Regime selbst hatte schon in den 1970er Jahren erklärt, eine Bastion im weltweiten Kampf gegen den Kommunismus zu sein, was im Westen wie eine faule Ausrede abgetan wurde. Dabei lag auf der Hand, daß eine zuverlässige, kapitalistische Regierung, die fest in der Phalanx der Kalten Krieger den ihr im südlichen Afrika zugewiesenen Auftrag ausführen würde, eine aus Weißen gebildete sein müsse. Dies bedeutet jedoch nicht, daß es tatsächlich um die Hautfarbe, sprich die Herrschaft Weißer über Schwarze gegangen wäre. Dies hatte sich in Südafrika so ergeben, weil die führende kapitalistische Welt aus den ehemaligen Kolonialmächten hervorgegangen war und sich deshalb der spezifischen historischen Situation Südafrikas bestens zu bedienen wußte.

Das Regime konnte noch so sehr wüten und mit größter Grausamkeit gegen seine politischen Gegner vorgehen - solange dies in der westlichen Welt unter "Rassismus" subsumiert wurde, konnte der, wenn man so will, klassenkämpferische und eigentlich ausschlaggebende Kontext vollkommen ausgeblendet werden. Die Generation junger Schwarzer, die in der Zeit der Soweto-Aufstände ihr politisches Leben angefangen hatte, verstand sich mit großer Mehrheit nicht nur als Apartheidgegner, sondern zugleich auch als Sozialisten oder Kommunisten. Kommunisten hatten nicht nur großen Einfluß auf den ANC oder umgekehrt - die meisten Aktivisten machten einfach keinen Unterschied zwischen Demokratie und Kommunismus. Wäre in den 1970er Jahren den Südafrikanern ein allgemeines und gleiches Wahlrecht gewährt worden, wäre aller Voraussicht nach nicht nur eine "schwarze", sondern auch eine linke Regierung gewählt worden.

Aus westlicher Sicht hätte die eigentliche Katastrophe in der Entstehung einer demokratisch legitimierten Regierung bestanden, die nach den überaus schlechten Erfahrungen, die im Land mit den westlichen Staaten bis dahin gemacht worden waren, einen sozialistischen Weg eingeschlagen und sich den Warschauer-Pakt-Staaten oder der Bewegung der Blockfreien angeschlossen hätte. Und da von Südafrika, dem mit Abstand am weitesten industrialisierten und wirtschaftlich entwickelten Staat im südlichen Afrika, eine Signal- und Sogwirkung ausgegangen wäre, hätte dies weitere, für den Westen vollkommen unerwünschte und inakzeptable Folgen nach sich ziehen können. Aus diesen oder ähnlichen Überlegungen heraus mögen westliche Strategen zu dem Ergebnis gekommen sein, das im Grunde schon seit geraumer Zeit nicht mehr tragfähige Apartheidregime noch so lange am Leben zu erhalten, bis sich das Ende des Sowjetunion unwiderruflich abzuzeichnen begann.

Des weiteren mußte sichergestellt werden, daß nach dem Ende des Apartheidregimes kein politisches Machtvakuum in Südafrika entstehen könnte, das eine echte Linksentwicklung des Landes ermöglicht hätte. Nicht nur der zeitliche Ablauf, auch der politische im Land selbst bedurfte deshalb - aus Sicht der westlichen Partner Südafrikas sowie der einheimischen Eliten, die das Land bis dahin kontrolliert hatten - einer sorgfältig vorbereiteten Feinabstimmung. Dieser Einsicht verschloß sich nicht einmal die seit Jahrzehnten regierende Nationalpartei, die seit 1948 sämtliche Premierminister (D. F. Malan von 1948 bis 1954, J. G. Strijdom von 1954 bis 1958, H. F. Verword von 1958 bis 1966, B. J. Vorster von 1966 bis 1978 und P. W. Botha von 1978 bis 1984) gestellt und somit maßgeblich die Politik der Apartheid betrieben und durchgesetzt hatte. Nach der Verfassungsreform von 1984 wechselte Botha ins Amt des Staatspräsidenten, von dem er - gezwungenermaßen - 1989 zugunsten Frederik Willem de Klerks zurücktrat. De Klerk wiederum blieb bis 1994 im Amt. In seine Amtszeit fiel die Abwicklung der Apartheid, die mit der Etablierung einer, wenn man so will, weißgewaschenen Nachapartheid-Regierung unter Führung des ANC einherging.

Man muß sich die Vorgänge von 1989 genauer vor Augen führen, um zu begreifen, daß dies - wenn überhaupt - nur ein äußerst schaler Sieg des Apartheidwiderstandes war. Pieter Willem Botha und mit ihm die Apartheidregierung wurden keineswegs von einer (zwangsläufig) außerparlamentarischen (schwarzen) Opposition gestürzt. Das Apartheidregime wurde überhaupt nicht gestürzt, es trat den geordneten Rückzug an. Südafrika hatte seit Jahrzehnten durchaus eine demokratische Tradition (unter den Weißen) gepflegt, und so regierte die NP keineswegs in einem Einparteienstaat. Der 1989 eingeleitete Wechsel wurde keineswegs von einer der anderen weißen Parteien erzwungen. Im Gegenteil, die oppositionelle Konservative Partei stellte sich zu dem neuen Kurs quer und setzte dem von de Klerk vorangetriebenen Abbau des Apartheidregimes mehr und mehr Widerstand entgegen.

Und so wurde Botha durch eine Kabinettsrevolte gestürzt. Innerhalb der Nationalpartei muß sich gegen den von ihm beibehaltenen Kurs rigoroser Apartheidpolitik eine moderatere Position durchgesetzt haben. Vermutlich unter Berücksichtigung auch der internationalen Lage waren die Kabinettsmitglieder um de Klerk zu der Schlußfolgerung gelangt, einen politischen Wechsel vorzunehmen oder genaugenommen nur vorzutäuschen, um einen tatsächlichen Sturz der alten Ordnung zu verhindern. Die Apartheid, verstanden als Rassentrennungspolitik, mußte weichen, um in dieser im nationalen wie auch internationalen Bezugsrahmen veränderten Lage Südafrika als politisches, wirtschaftliches und militärisches Standbein westlicher Einflußnahme zu stabilisieren. Daß die ausnahmslos von Weißen gebildete Elite des Landes dabei einige Federn würde lassen müssen, muß NP-Politikern vom Schlage de Klerks klar gewesen sein, während Botha sich nicht nur gegenüber dem ANC, sondern der nun gebotenen Linie westlicher Hegemonialpolitik als Sturkopf erwies.

Frederik de Klerk und Nelson Mandela gelten als die Ziehväter der Verhandlungslösung von 1990, wofür beide 1993 den Friedensnobelpreis erhielten. Sie haben, so die noch heute gängige Ansicht in Südafrika wie auch der westlichen Welt, damals einen Rassenkrieg, der womöglich Millionen Menschenleben gekostet hätte, verhindert und sich in besonderem Maße um eine "friedliche" Beendigung der Apartheid verdient gemacht. Die Frage, was passiert wäre, wäre es 1990 nicht zu dieser Verhandlungslösung gekommen, ist ihrer Natur nach spekulativ und kann es auch nur sein. Die Annahme allerdings, es wäre zu einem Krieg der Rassen, sprich der rund fünf Millionen Weißen gegen eine Mehrheit von Menschen mit schwarzer Hautfarbe, die rund 80 Prozent der Bevölkerung Südafrikas ausmachten, gekommen, ist jedoch nicht minder spekulativ. Ihr haftet zudem der Verdacht an, daß sie seinerzeit gezielt verbreitet und in den Stand einer quasi-historischen Wahrheit erhoben wurde, um einen Begründungszusammenhang zu schaffen, der die Entscheidung des ANC, sich die Bedingungen seines "Sieges" von de Klerk und den beteiligten westlichen Unterhändlern diktieren zu lassen, plausibel zu machen.

Diese hat es nämlich sehr wohl gegeben. So reiste US-Außenminister James Baker im März 1990 nach Südafrika, um den kurz zuvor nach 27 Haftjahren entlassenen ANC-Vorsitzenden Nelson Mandela zu besuchen. Zwei Monate später, im Mai, begannen die offiziellen Gespräche zwischen dem ANC und der Regierung. Hat Mandela solange gebraucht, um den ANC "auf Kurs" zu bringen? Haben de Klerk und die übrigen Kabinettsmitglieder, die im Jahr zuvor Botha zum Rücktritt gezwungen hatten, solange gebraucht, um auf ihrer Seite bestehende Widerstände auf ein bestimmtes Niveau zu bringen? Die Annahme, durch Verhandlungen dieser oder ähnlicher Art sei ein ansonsten drohendes Blutvergießen zwischen weißen und schwarzen Menschen gerade noch verhindert worden, mag stichhaltig erscheinen, ist es jedoch nicht. Es hätte einen ganz einfachen Weg gegeben, der mit Sicherheit keine weiteren Todesopfer verlangt hätte - nämlich die bedingungslose politische Kapitulation des Apartheidregimes.

Staatspräsident de Klerk hätte mitsamt der gesamten Regierung zurücktreten und die Bereitschaft bekunden können, für die Verbrechen der Apartheid die politische und juristische Verantwortung zu übernehmen. Mit einem solchen Schritt wäre dem ANC wie auch dem gesamten Apartheidwiderstand signalisiert worden, daß der Befreiungskampf nicht weiter geführt werden müsse, weil sich das Apartheidregime bedingungslos geschlagen gegeben hätte. Auf diese Weise hätten die Weißen Südafrikas, so sie nicht darauf bestanden hätten, als Angehörige einer bislang privilegierten Elite ihre Vormachtstellung zu behaupten, eine für beide Seiten begehbare Ausgangsposition für weitere Verhandlungen geschaffen. Sowohl der ANC als auch alle übrigen relevanten Organisationen der Antiapartheidbewegung hatten stets deutlich gemacht, daß sie zu Verhandlungen über eine Beendigung der Apartheid und eine anschließende Neuregelung der gesellschaftlichen Verhältnisse bereit seien und dabei keineswegs Menschen einer bestimmten Hautfarbe - in diesem Falle Weiße - ausschließen oder gar des Landes verweisen wollten.

Ein solches Szenario ist allerdings vollkommen fiktiv und hat nicht die geringsten Berührungspunkte zu dem tatsächlichen Geschehen. Es soll hier lediglich plausibel machen, daß die Annahme, in Südafrika hätte ein Krieg der Rassen bevorgestanden, wenn der ANC nicht eingelenkt und den bewaffneten Kampf aufgegeben hätte, nicht minder spekulativ ist. Die Lorbeeren, die von westlicher Seite aus über Nelson Mandela ausgeschüttet wurden, lassen unterdessen vermuten, daß er, ob im Gespräch mit US-Außenminister Baker und/oder der Regierung Südafrikas, für den ANC und in der Folge auch für den gesamten schwarzen Widerstand eine "Lösung" ausgehandelt hatte, die dem Land eine sehr schwere Bürde auferlegte. Die Chance, das ohnehin bevorstehende Ende der Apartheid zu einer politischen Grundsatzfrage zu nutzen und die Bevölkerung Südafrikas unabhängig von der Hautfarbe oder sonstigen Unterscheidungskriterien per Referendum über die Frage entscheiden zu lassen, ob sie auch in Zukunft in einem kapitalistisch-marktwirtschaftlich organisierten System leben oder den Versuch einer sozialistischen Entwicklung wie beispielsweise in Kuba wagen will, wurde im Ansatz vertan.

Auf welchen Wegen auch immer dies eingefädelt und durchgesetzt worden sein mag - das Ergebnis bleibt dasselbe: Diese Frage wurde gar nicht erst auf die Tagesordnung in jener turbulenten Zeit gesetzt. Ein solches Referendum wäre ein Gebot demokratischer Prinzipien gewesen; zumal nach mehrhundertjähriger Kolonialgeschichte die Bevölkerungsmehrheit Südafrikas nicht nur von den Wahlen ausgeschlossen worden war, sondern ebensowenig jemals die Chance erhalten hatte zu entscheiden, in welchem Gesellschaftsmodell sie leben möchte. Und noch weniger wurde die Frage aufgeworfen, wie es um eine Rückbesinnung auf eigene Kulturen und Lebensweisen bestellt sein könnte, die unter dem gewaltsamen Joch der Kolonialherren und ihrer Apartheid-Nachfahren in ihrer freien Entfaltung massivst behindert worden waren.

Unter diesen Bedingungen wurde in Südafrika von de Klerk und zum allgemeinen Wohlgefallen der westlichen Welt das Apartheidregime abgewickelt. Nach und nach wurden die Apartheidgesetze abgeschafft, was schon im Jahre 1991 die "Afrikaaner Weederstandsbeweging" auf den Plan rief; eine militante Organisation der weißen Elite, die gegen die Regierungspolitik der Annäherung und Aufhebung der Rassentrennung opponierte. Die EU honorierte das Einlenken de Klerks und hob die 1986 gegen Südafrika verhängten Wirtschaftssanktionen 1991 wieder auf. Im Dezember desselben Jahres konstitutierte sich ein "Konvent für ein Demokratisches Südafrika" (CODESA), um in Verhandlungen über eine Übergangsregierung und eine neue, demokratische Verfassung zu treten. An ihm nahmen Vertreter aller Parteien, Gewerkschaften, (schwarzen) Befreiungsorganisationen und traditionelle Stammesverbände ebenso teil wie Repräsentanten der südafrikanischen Regierung sowie der für unabhängig erklärten Homelands Transkei, BophuthaTswana, Venda und Ciskei.

Daß es sich bei diesen Vorbereitungen um Maßnahmen handelte, eine dem bisherigen Regime und vermutlich auch seinen ausländischen Partnern genehme, "demokratische Lösung" durchzusetzen, läßt sich schon aus der Tatsache ableiten, daß am 17. März 1992 ein Referendum abgehalten wurde. Es war, obwohl die Apartheid eigentlich schon als beendet galt, ein ausschließlich den weißen Südafrikanern vorbehaltenes Referendum, in dem diese um ihre Zustimmung für eine Fortsetzung des Reformprozesses gefragt wurden. Man könnte sagen, daß weiße Südafrika stimmte darüber ab, ob es die von de Klerk eingeschlagene Richtung beibehalten oder zur Politik Bothas zurückkehren wolle. 68,7 Prozent der weißen Wahlberechtigten gaben de Klerk ihre Zustimmung.

Eineinhalb Jahre später, im November 1993, wurden die Verfassungsgespräche für beendet erklärt. Erste Parlamentswahlen wurden im April 1994 abgehalten. Aus ihnen ging der ANC mit 62,7 Prozent der Stimmen als stärkste politische Kraft hervor, gefolgt von der Nationalpartei (NP - 20,4 Prozent) und der Inkatha (IFP - 10,5 Prozent). Diese drei Parteien bildeten eine "Regierung der Nationalen Einheit". Am 9. Mai 1994 wählte das neue Parlament Nelson Mandela zum Staatspräsidenten, Thabo Mbeki, ebenfalls vom ANC, zum Ersten Vizepräsidenten, was dem Amt des Ministerpräsidenten entsprach, und Frederik Willem de Klerk (NP) zum Zweiten Vizepräsidenten. De Klerk wurde somit zu einer Galionsfigur eines für Südafrika beispiellosen Befriedungsmanövers, bei dem plötzlich so getan wurde, als stünden sich schwarz und weiß auf gleicher Augenhöhe gegenüber, um ihr Kriegsbeil zu begraben. Die nackte Tatsache, daß das Land eine jahrhundertealte Kolonialgeschichte Weißer gegen Schwarze ebenso aufzuarbeiten hatte wie ein verbrecherisches Apartheidregime als Fortsetzung eben dieses Unterdrückungsverhältnisses, wurde auf diese Weise in eine Beliebigkeit getrieben, die einen tatsächlichen Neubeginn verhinderte.

In der westlichen Welt wurde mit einigem Erstaunen zur Kenntnis genommen, daß Nelson Mandela, der wie kein anderer als Symbol des schwarzen Befreiungskampfes angesehen wurde, nach 27 Jahren Haft so konsequent zur "Versöhnung" bereit war. Die Vermutung, er sei in dem Hochverratsprozeß von 1964 mitsamt der übrigen Führungsriege des ANC entgegen der damaligen Hinrichtungspraxis nicht zum Tode, sondern zu lebenslangen Strafen verurteilt worden, um eines fernen Tages mit seiner Hilfe den schwarzen Widerstand brechen zu können, liegt eigentlich nahe. Schließlich gehört es zu den in den USA entwickelten und von der westlichen Führungsmacht auch exportierten Maßnahmen der Aufstandsbekämpfung, politische Führer durch Isolationshaft solange "weichzukochen", bis sie bereit sind, ihrem Kampf öffentlich abzuschwören. Bei Nelson Mandela fiel seine Erklärung, den bewaffneten Widerstand zu beenden, 1990 mit seiner Haftentlassung zusammen.

Nelson Mandela alias "Madiba" (Vater), wie er respekt- und liebevoll genannt wird, wurde in der Folgezeit vor allem auch in jenen westlichen Staaten über alle Maßen geehrt, die in direkter Linie den Kolonialmächten von einst gefolgt sind bzw. deren nach- und neokoloniales Erbe mit großer Selbstverständlichkeit fortführen. Mandela wurde im Westen mit Ehrendoktorhüten überhäuft. Ihm wurde die äußerst seltene "Ehre" zuteil, bei einem Staatsbesuch in Britannien als Gast der Queen im Buckinghampalast zu residieren. US-Präsident Bill Clinton ließ es sich im März 1998 launig gefallen, von "Madiba" eine Standpauke über "Demokratie" gehalten zu bekommen. Die Europäische Union würdigte die "lebende Legende" kurz vor seinem 80. Geburtstag im Juni 1998 als einen Mann, "der weltweit für die Vorkämpfer der Bürgerrechte und der Demokratie ein Beispiel war und bleibt". Eine solche Lobhudelei spricht Bände und bekräftigt den sich ohnehin aufdrängenden Verdacht, daß Mandela und mit ihm der ANC die historische Chance, die Frage nach der Freiheit von Grund auf aufzuwerfen, zugunsten einer Rückführung in althergebrachte Verhältnisse unter lediglich modifizierten Bedingungen preisgegeben hat.

(Fortsetzung folgt)

6. Dezember 2007