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WISSENSCHAFT/077: Die Geburt zweier Wissenschaften (Uni Journal Marburg)


Marburger UniJournal Nr. 33 - Juli 2009

Die Geburt zweier Wissenschaften

Von Christoph Friedrich


Vor 400 Jahren erlebte Marburg die Geburt zweier neuer akademischer Disziplinen: Damals erhielt Johannes Hartmann einen Ruf auf den weltweit ersten Lehrstuhl für das Fach "Chemiatrie", das sich später in Chemie und Pharmazie auffächerte - ein spannendes Kapitel Wissenschaftsgeschichte.


Im Jahr 1609 richtete der 37-jährige, vielseitig interessierte Landgraf Moritz von Hessen (1572-1632) an der Universität Marburg die weltweit erste Professur für Chemiatrie ein. Zugleich berief er Johannes Hartmann (1568-1631) zum ordentlichen Professor für dieses Fach. Wer war dieser Mann? Wie kam es zu seiner Ernennung? Was brachte die Chemiatrie Neues?

Die Lehre der "Chemiatrie" oder "Iatrochemie" geht auf den frühneuzeitlichen Arzt Theophrastus Bombastus von Hohenheim, genannt Paracelsus (1492/93-1541), zurück. Unter Chemiatrie versteht man eine ganz in den Dienst der Medizin gestellte Chemie, mit deren Hilfe Arzneimittel hergestellt wurden, überwiegend aus Mineralien oder Metallen durch Feuerkraft. Bis dahin hatte man sich darauf beschränkt, Arzneiformen wie Salben, Electuaria (musartige Arzneiformen), Pflaster oder Zäpfchen aus den Drogen der "Tria Regna", der drei Reiche zu bereiten, also aus Naturstoffen des Pflanzen-, Tier- oder Mineralreichs. Nun wurden chemische Methoden zur Herstellung synthetischer anorganischer und anderer chemiatrischer Arzneistoffe genutzt. Im Mittelpunkt stand die Destillation, bei der ein flüchtiger "Spiritus", also Geist, aus einem festen Körper gezogen werden sollte. Bei der Destillation eines Metalls erfolgte nach Paracelsus eine Trennung in einen Rückstand, den er als "Sal" bezeichnete, und ein Destillat, das aus "Sulphur" und "Mercurius" bestehen sollte. Diese "Tria principia" - Mercurius, Sulphur und Sal - bezeichnen keine fassbaren Agenzien, sondern vielmehr geistige Prinzipien, die die stofflichen Vorgänge innerhalb des Mikrokosmos dynamisch bewirken.

Aufgabe des Arztes war es, Arzneimittel mit Hilfe der Chemie zu bereiten. Einige dieser chemiatrischen Arzneimittel lassen sich unmittelbar auf Paracelsus zurückführen, so verschiedene Antimonzubereitungen, die wegen ihrer blutstillenden und antiseptischen Wirkungen bereits von Wundärzten verwendet worden waren, und das berühmte "Laudanum Theophrasti", das manche Paracelsisten als ein opiumhaltiges Mittel verstanden, da es den Kranken in einen Schlaf versetzte.

Während Paracelsus zu Lebzeiten nur geringe Anerkennung gezollt worden war, erlebte die Chemiatrie seit Ende des 16. und zu Beginn des 17. Jahrhunderts eine größere Verbreitung. In Anlehnung an Paracelsus bezeichneten sich viele Autoren selbst als "Chymiater", deuteten physiologische Vorgänge chemisch und verordneten chemiatrisch zubereitete Arzneimittel. Auch an vielen Fürstenhöfen fand die Chemiatrie reges Interesse, so auch in Kassel.

Johannes Hartmann war der erste Hochschullehrer, der diesem jungen Fach einen festen Platz an der Universität verschaffte. Der Sohn eines armen Webers aus Amberg hatte zunächst den Beruf eines Buchbinders erlernt, fand aber wegen seiner herausragenden Begabung die Förderung durch den Rektor der Amberger Stadtschule.


Protegé des gelehrten Landesvaters

Hartmann studierte mit Unterstützung des Amberger Stadtrats an den Universitäten Altdorf, Jena und Wittenberg vornehmlich Mathematik. Durch Vermittlung eines Wittenberger Studienfreundes, des hessischen Historiographen und Zeichners Wilhelm Dilich (1571-1655), erhielt er eine Stelle als Mathematiker am Hofe des Landgrafen Moritz von Hessen in Kassel. Moritz, der den Beinamen "der Gelehrte" trug, war nicht nur ein überaus sprachbegabter und musisch aufgeschlossener Fürst - er komponierte mehrere vierstimmige Instrumentalfugen, Tänze und Intraden sowie geistliche Vokalmusik - sondern interessierte sich, wie viele Potentaten dieser Zeit, für naturkundliche Fragen, insbesondere Astronomie, Alchemie und Mathematik. Große Neigung brachte er auch den neuen, paracelsischen Arzneimitteln entgegen, die er durch seine Hofärzte herstellen und teils in Selbstversuchen erproben ließ.

Am Kasseler Hof empfing Hartmann nicht nur zahlreiche Anregungen für seine weiteren Studien, auch zur chemischen Laborarbeit, sondern verstand es offenbar ebenso, das Vertrauen des Landgrafen zu erwerben. Dieser empfahl ihm bereits 1592 seinem Onkel, Landgraf Ludwig IV von Hessen-Marburg (1537-1604), als Professor der Mathematik an der Marburger Alma Mater. Sechs Jahre später kehrte Hartmann indes nach Kassel zurück, um am dortigen "Collegium Mauritianum" zu lehren, einer Schule für junge Adlige und begabte Bürgersöhne, unter denen sich zu dieser Zeit auch der Komponist Heinrich Schütz (1585-1672) befand.

Im Jahr 1601 wieder an der Marburger Universität, studierte Hartmann hier noch Medizin; 1602 avancierte er zum Dekan der Philosophischen Fakultät und wurde vom Landgrafen schließlich zum Professor der Medizin ernannt. 1608 legte Hartmann seinen Plan für ein "Collegium chymicum" vor, an dem alchemische und paracelsische, also chemiatrische Lehrinhalte vermittelt werden sollten. Ein Jahr später erfolgte seine Berufung zum "Professor publicus chymiatriae".


Heilen nach Rezept

Obgleich er sich als "Mathematicus" auch mit Astrologie beschäftigt hatte, lehnte er indes eine Vermischung der Chemiatrie mit astrologischen Lehren ab und stellte sie vielmehr ganz in den Dienst der Medizin. Erst posthum 1633 erschien sein Werk "Praxis chymiatrica", bei dem es sich um eine Rezeptsammlung mit ausführlich beschriebenen Herstellungsmethoden handelt. Hartmann erläutert darin zugleich seine therapeutischen Vorstellungen, denen zu Folge der Arzt nach der Diagnose das jeweilige Arzneimittel auswählen musste. Neben den "universalevacuierenden Purgationes", die als universelle Abführmittel die Krankheit auf dem natürlichen Wege aus dem Körper vertreiben sollen, finden sich Arzneimittel für einzelne Organe wie Ohren, Nase, Mund, sowie "Vomitoria", also Brechmittel, Abführmittel, harntreibende Mittel (Diuretica), schweißtreibende Mittel (Diaphoretica) und weitere Arzneimittelgruppen, insbesondere stärkende und schmerzlindernde Mittel. Er verwendete jedoch nicht nur paracelsische, sondern auch die erprobten, galenischen Rezepturen. Für die Wirkmächtigkeit dieses Werkes spricht, dass nach der ersten Ausgabe, die Johann Hartmanns Sohn Georg Eberhard und der Leipziger Mediziner Johann Michaelis (1606-1667) besorgt hatten, bis 1659 fünf weitere folgten. Darüber hinaus verfasste Hartmann Kommentare zu bedeutenden chymiatrischen Werken wie der "Basilica chymica" des aus dem hessischen Wetter stammenden Oswald Croll (um 1560-1608).

Neben theoretischem Unterricht erteilte Hartmann ab 1609 auch für Medizinstudenten Laborunterricht. In seinem "Laboratorium chymicum publicum", das sich in einigen Räumen des alten Barfüßerklosters, "Am Plan", befand, vermittelte er Kenntnisse in der Herstellung von chemiatrischen Arzneimitteln. In der Erlanger Universitätsbibliothek befindet sich die Abschrift eines Tagebuches aus dem Jahre 1615, das über dieses Laborpraktikum ausführlich berichtet. Im Anschluss an einen Index der im Tagebuch behandelten Heilmittel folgen die "Vorschriften des öffentlichen chemisch-medizinischen Laboratoriums der Akademie Marburg".


Kein Lärmen im Labor!

Im Humanistenlatein werden die "Jünger der ernsten Kunst Apolls, die dieses ärztliche Heiligtum besuchen, aufgefordert, sich der Frömmigkeit und Nüchternheit" zu befleißigen, "Mantel und Degen außerhalb der beiden Laboratorien zu lassen" und zum Schutz ihrer Kleidung einen leinenen Schurz zu tragen. Im Laboratorium hatten sie sich alles genau anzusehen und Fragen zu stellen, "aber mit Bescheidenheit und ohne den Leiter zu belästigen". "Lärm, Geschrei, Trinkereien, Schlaf und Streit" waren nicht erlaubt. Die Studenten wurden zu Fleiß und Wohlverhalten ermahnt und aufgefordert, "Zusammenstöße mit den Dienern zu vermeiden und weder mit Gewalt noch mit List etwas von ihnen zu erpressen".

Ferner sollten sie sich intensiv mit den chemischen Gerätschaften, dem Aufbau der Öfen, den Formeln für die Stoffe und ihrer Zubereitung vertraut machen. Zugleich forderte Hartmann die Studierenden auf, alles "was sie gesehen, gehört, erfahren und sich erarbeitet" hatten, für sich zu behalten und insbesondere Unwürdigen nicht zu erzählen, vielmehr sollte jeder "das für sich behalten und zum Nutzen seines bedürftigen Nächsten verwenden".

Das eigentliche Tagebuch beginnt mit der Beschreibung der Herstellung des Opiums und des Laudanum opiatum sowie des englischen Trinkgoldes, eines sagenhaften Allheilmittels. In einem vorangestellten förmlichen Vertrag verpflichtete sich Hartmann zunächst, den Teilnehmern die Herstellung nicht nur zu erläutern, sondern ihnen die Bearbeitung der einzelnen Ingredienzen zu zeigen, die chemischen Ausdrücke und etwaigen Unklarheiten genau zu erklären, während die Teilnehmer Stillschweigen über alles zu wahren hatten, was ihnen ihr Lehrer anvertraute.

Die Studierenden, die den Vertrag eigenhändig unterschrieben, stammten unter anderem aus Dänemark, Polen, Preußen und Schlesien. Obwohl Hartmann bereit war, seinen Unterricht unentgeltlich zu erteilen, wurde erklärt, dass ein Honorar mit Dank angenommen werde. Parallel zum Laborpraktikum hielt Hartmann 1615 eine Vorlesung über das Opium, die 1635 unter dem Titel "Tractatus Physico-Medicus die Opio, a claro Viro Joh. Hartmanno ..." von Johann Georg Pelshofer in Wittenberg veröffentlicht wurde.

Über die einzelnen Arbeiten berichtet das Labortagebuch jeweils für den Zeitraum vom 10. Juli bis zum 10. September 1615 sowie vom 6. November 1615 bis zum 10. Januar 1616. Am 10. Juli begannen die Studenten zunächst mit der Herstellung des Laudanum opiatum, bei dem ein Pfund bestes, in Stücke geschnittenes Opium in eine oder mehrere Schüsseln gelegt und auf einem Sandbad "der unzeitige und stinkende Schwefel" allmählich verdampft wurde, bis es einen angenehmen Geruch von sich gab und sich zwischen zwei Fingern verreiben ließ. Die auf einem Reibstein zerriebene Masse zog man anschließend mit destilliertem Essig bei gelindem Feuer aus, filtrierte und dickte die Masse wieder ein und fügte zu einer Unze - das sind nach heute gebräuchlichem Maß etwa 30 Gramm - je eine halbe Korallen- und Perlenmagisterium sowie zwei Drachmen Crocusextrakt hinzu und mischte alles zu einer Masse, aus der Pillen geformt werden konnten.


Spiritus aus Knabenharn

Bis zum 10. September 1615 werden Tag für Tag die einzelnen Arbeitsschritte erläutert, wobei auch Misserfolge und deren Ursachen erwähnt werden. Die Herstellung von 27 Unzen Laudanum nahm insgesamt sechs Wochen in Anspruch.

Um die Zeit besser auszunutzen, widmeten sich die Studierenden nebenher dem Anfertigen anderer Präparate: Zum Beispiel dem englischen Trinkgold; sodann einem Spiritus antiepilepticus, bereitet aus Spiritus vitrioli und Harn von Knaben, die Wein getrunken hatten. Vom 11. August an stellte man schließlich noch Antimonpräparate her. Unter den nach dem 23. August bereiteten Arzneimitteln finden sich aber auch Mercurius dulcis, also "süßes Quecksilber" - gemeint ist Quecksilberchlorid - sowie ein Wasser gegen Herzklopfen, für das neben zahlreichen pflanzlichen Drogen auch das Herz eines gefangenen Hirsches benötigt wurde.

Zwischen dem 16. November 1615 und dem 10. Januar 1616 widmete man sich dann überwiegend der Herstellung von chemiatrischen Arzneimitteln aus der "Basilica chymica" des Oswald Croll. Die Anzahl der Teilnehmer war noch größer geworden: Neben einem Arzt aus Metz und einem Adligen aus England findet sich auch Franziskus Joel aus Stralsund, wohl der Enkel des gleichnamigen Medizinprofessors der Greifswalder Universität. Die hergestellten Arzneimittel wurden zur Finanzierung der Unterrichtsveranstaltungen verkauft.

Hartmann, der gleichzeitig noch als Leibarzt des hessischen Landgrafen wirkte, lehrte ab 1629 an der "Academia Cassellana" Medizin und Naturkunde und verstarb zwei Jahre später in Kassel. Er war der Erste, der die Herstellung von pharmazeutisch-chemischen Medikamenten lehrte, also die Arzneimittelproduktion mit Hilfe chemischer Methoden, wobei seine Vorlesungen durch praktische Übungen ergänzt wurden. Hartmann kann daher auch als Begründer des Laborunterrichts für Naturwissenschaftler gelten, insbesondere für Chemiker und Pharmazeuten, für die solche Unterrichtsveranstaltungen bis heute einen besonderen Lerneffekt besitzen. Seine Studenten erzog er dazu, stolz auf ihre Wissenschaft, die Medizinische Chemie zu sein und "dieses edele Studium überall zu preisen und nach Kräften dafür einzutreten".


Der Verfasser leitet das Marburger Institut für Geschichte der Pharmazie.


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Quelle:
Marburger UniJournal Nr. 33, Juli 2009, Seite 12 - 14
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. September 2009