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NEUZEIT/217: Für Bodenreformen gab es gute Gründe (UBS)


Unabhängige Bauernstimme, Nr. 334 - Juni 2010,
Die Zeitung von Bäuerinnen und Bauern

Für Bodenreformen gab es gute Gründe

Onno Poppinga stellt fest: Die Bodenreform muss im zeitlichen Zusammenhang gesehen werden


In den letzten Ausgaben der Unabhängigen Bauernstimme ist ausführlich auf die Politik der staatlichen Bodenverwertungs und -verwaltungs GmbH (BVVG) eingegangen worden. Das ist gut so, weil darüber ein guter Teil Zukunft der Landwirtschaft in den Neuen Bundesländern mit entschieden wird. Ich komme auch oft genug auf Großbetriebe in den Neuen Bundesländern, um mir vorstellen zu können, dass es bei manchen von ihnen so etwas wie einen Raumbeherrschungsanspruch gibt und dass der gerade über die BVVG-Flächen durchgesetzt werden soll.

Nicht einverstanden bin ich dagegen mit einigen Aussagen in den Bauernstimme-Beiträgen, die sich auf die Bodenreformen beziehen. Dabei gehe ich von dem Grundsatz aus, dass man versuchen muss, die Vorgänge auch aus ihrer Zeit heraus zu verstehen. Und: ich akzeptiere selbstverständlich, dass jemand, der aus einer von erzwungener Landabgabe betroffenen Familie stammt, eine sehr persönliche Sicht auf die Vorgänge hat.


Was ist Großgrundbesitz?

Es wird sprachlich der Eindruck erweckt, Großgrundbesitz als eigenständige soziale Schicht habe es gar nicht gegeben. So beispielsweise wenn in der BS Nr. 4 die Rede davon ist, in den sowjetischen Besatzungszonen seien "alle Bauern mit mehr als 100 ha" enteignet worden. "Bauern" mit mehr als 100 ha? 100 ha markierte einerseits eine Grenze in der Statistik: Bis 100 ha sprach man von klein-, mittel- und großbäuerlichen Betrieben; ab 100 ha von Gutsbetrieben bzw. Großgrundbesitz. Andererseits markierte die Grenze von 100 ha unterschiedliche sozialökonomische Lebenswelten, egal ob es sich beim Großgrundbesitz um adelige Rittergüter, um Fideikommis, um eine Standesherrschaft oder um einen Betrieb im bürgerlichen Eigentum handelte. Ziel der historischen Forderungen nach Bodenreform in Deutschland wie in den meisten mittel- und osteuropäischen Ländern war es nicht nur, durch Landabgabe neue bäuerliche Stellen zu schaffen, sondern auch die politische Vorherrschaft der Großbetriebsstrukturen abzubauen.

(Im Buch von Walter Görlitz "Die Junker" ist übrigens nachzulesen, dass es das Bestreben, Gutsbetriebe sprachlich in Bauernhöfe zu verwandeln, auch in der NS-Zeit gegeben hat. Dadurch erhoffte man, Vorteile aus dem Reichshofgesetz zu ziehen).


"Allodifizierung"

Die Ursachen für die Forderung nach einer Bodenreform waren vielfältig und gewichtig. In Deutschland spielte die Vorstellung eine große Rolle, den immensen Landverlust der bäuerlichen Betriebe im Rahmen der "Bauernbefreiung" wieder gut zu machen. Das war als großes Unrecht empfunden worden. Die Gutsbetriebe hatten die Umwandlung ihrer historischen Lehnsgüter in privates Eigentum auf politischen Wegen durchsetzen können ("Allodifizierung"). Die Bauern mussten aber in Deutschland - ganz anders als beispielsweise in Frankreich - ihre Höfe den Inhabern alter Rechte praktisch abkaufen. Wer das nicht konnte, der verlor sein Land. Das Reichssiedlungsgesetz der ersten deutschen Demokratie (verabschiedet am 11.08.1919) begründete genau in diesem Sinne die Forderung nach Landabgabe, die der Großgrundbesitz zu leisten habe. Die deutsche Geschichte ist voller Beispiele dafür, dass der Großgrundbesitz ein wichtiger Teil des überkommenen monarchistischen Systems war und das Aufkommen einer sozialen Demokratie heftig bekämpfte. Die Agrargeschichtsschreibung ist voller Belege für das außerordentliche Maß an sozialer und politischer Abhängigkeit in den "Gutsdörfern" und ländlichen Kreisen. Hier sei nur - als Beispiel für die Bekämpfung demokratischer Auffassung und Verhältnisse - an den Spruch des einflussreichen Herrn v. Oldenburg-Januschau erinnert: "Gegen Demokraten helfen nur Soldaten."


Weite Machtbefugnisse

Solange es die Rechtsform der "Gutsbezirke" gab, war der Gutsbesitzer immer gleichzeitig der Bürgermeister und hatte die Polizeigewalt. Zahllose Kirchen hatten den rechtlichen Status der "Patronatskirche", das bedeutete u. a., dass die Kirchengemeinde vor Einstellung eines neuen Pastors die Zustimmung des "Patrons" (des Gutsbesitzers) einholen musste. Auch die Tatsache, dass die Gewerkschaft der Landarbeiter sich erst nach Abschaffung der Monarchie Einfluss erkämpfen konnte, gehört zu den vielen Gründen, warum aus politischen, sozialen und ökonomischen Gründen eine Bodenreform gefordert wurde. Diesen beherrschenden Einfluss der Gutsbetriebe auf dem Land (in der Bauernstimme 4, S. 4[3]) nur als "feste Dorfstrukturen" zu beschreiben, verwundert mich denn doch sehr.

Eine besondere Schärfe in Deutschland hatte die Forderung nach Bodenreformen durch das NS-System bekommen. Die alliierten Siegermächte - und nicht nur die Sowjetunion - forderten eine Bodenreform. So bezeichnete die amerikanische Militärregierung ihren ersten Bodenreformgesetzesentwurf als "Beitrag zur Demilitarisierung und zur endgültigen Ausschaltung des Einflusses der Junker und nazistischen Großgrundbesitzer auf Staatsangelegenheiten". Gerade dieser Zusammenhang ist von Vertretern der Großgrundbesitzer in der Nachkriegszeit heftig bestritten worden - und selbstverständlich gab es in der Tat Gutsbesitzer, die die Nazis nicht unterstützt haben. Einige Untersuchungen sprechen aber doch eine eindeutige Sprache. So stellte H. Höhne in seiner Untersuchung über die SS fest, dass 1938 "schwarzuniformierte Adelige" 18,7 % der SS-Obergruppenführer, 9,8 % der SS-Gruppenführer, 14,3 % der SS-Brigadeführer, 8,8 % der SS-Oberführer und 8,4 % der SS-Standartenführer ausmachten. In einer eigenen Untersuchung über die Durchführung der Bodenreformen in Hessen habe ich - durch Auswertung der Mitgliedskartei der NSDAP im damaligen "Document center" der US-Armee - festgestellt, dass nicht weniger als 25 Prozent der männlichen Mitglieder der "Althessischen Ritterschaft" Mitglieder der NSDAP waren. Erfahrungen dieser Art waren beteiligt daran, dass es im Artikel 42 der Verfassung des Landes Hessen vom 6.11.1946 heißt: "Nach Maßgabe besonderer Gesetze ist der Großgrundbesitz, der nach geschichtlicher Erfahrung die Gefahr politischen Missbrauchs oder der Begünstigung militaristischer Bestrebungen in sich birgt, im Rahmen einer Bodenreform einzuziehen...". Für die Bodenreform in Deutschland gab es gute Gründe. Das rechtfertigt aber natürlich keinesfalls die Form, wie sie in der sowjetisch besetzten Zone durchgeführt worden ist (Entzug der kompletten wirtschaftlichen Basis; Vertreibung und folgende Internierung der betroffenen Familien auf der Insel Rügen).


Bodenreform schafft Bauernhöfe

Zu widersprechen ist auch der Behauptung, die Bodenreform ginge der folgenden Zwangskollektivierung nur voraus. So war es zwar im sowjetischen Einflussbereich - nur den Polen gelang es, die Zwangskollektivierung weitgehend zu verhindern -, aber so war es nicht generell und auch nicht in den drei übrigen Besatzungszonen in Deutschland. Dass die Bodenreform als eigenständiges Vorhaben gesehen werden muss, dafür sind die drei baltischen Staaten wichtige Beispiele. Nach ihrer politischen Unabhängigkeit im Jahre 1919 führten alle drei baltischen Staaten vergleichsweise radikale Bodenreformen durch. Vor allem in Estland und Lettland gehörte einer zahlenmäßig sehr kleinen - im wesentlichen aus Deutschen bestehenden - Schicht von Größtgrundbesitzern der Großteil der Landesfläche. Ihre Güter hatten häufig einen Umfang von mehreren Tausend Hektar. Erst mit dieser Bodenreform entstand eine zahlenmäßig starke Schicht von Bauernhöfen, die dann eine wichtige Stütze beim Aufbau demokratischer Strukturen war. Zu der Radikalität der Bodenreform (den Großbetrieben verblieben nur 50 ha) hatte auch beigetragen, dass der Großbesitz zur Verteidigung seiner Interessen rechtsgerichtete deutsche Freikorps ins Land gerufen hatte. Nach der erneut erkämpften Unabhängigkeit Anfang der 90iger Jahre knüpften die drei Staaten denn auch wieder an die Verhältnisse an, die im Rahmen der demokratischen Bodenreformen entstanden waren.


Land für Flüchtlinge

Auch die Behauptung (in BS 3 / S. 3 [1]) "Während in den westlichen Besatzungszonen nur alles oberhalb dieser 100 Hektar enteignet und schon nach relativ kurzer Zeit wieder an die ursprünglichen Besitzer zurückgegeben wurde..." stimmt in mehrfacher Hinsicht nicht. Es wurde nirgendwo "alles oberhalb" 100 Hektar enteignet, sondern bei 100 ha begann eine - je nach Besatzungszone im Westen - unterschiedliche Landabgabepflicht, und für die Landabgabe gab es eine Entschädigung. Zwar versuchten Großgrundbesitzer mit allen rechtlichen und politischen Mitteln die Landabgabe zu behindern; allein in Schleswig-Holstein wurden über 30.000 ha Land im Rahmen der Bodenreform aufgebracht und vorzugsweise für die Errichtung von neuen Bauernhöfen für Flüchtlingsbauern genutzt.


Bäuerliche Utopie

Ähnlich fehlerhaft ist die Aussage (in BS 5 / S. 3 [2]) "alle sozialistischen Denker und Lenker" hätten in ihren Weltentwürfen die Abfolge Bodenreform und Kollektivierung vorgesehen. Zwar trifft das für die große Mehrheit zu, aber eben nicht für alle. Hier sei beispielsweise an den hervorragenden russischen Agrarökonomen Alexander W. Tschajanow und seine Bücher erinnert (u. a. "Reise ins Land der bäuerlichen Utopie"). Tschajanow wurde eines der Opfer der stalinistischen Schauprozesse. Seine Bücher sind für alle, die die Ökonomie von Bauernwirtschaften verstehen wollen, bis.. heute von sehr aktueller Bedeutung. Er ging von der Möglichkeit einer Kooperation zwischen bäuerlichen Betrieben und einem sozialistischen Staat aus.


Wer profitiert?

So gut ich mir vorstellen kann, dass das in den drei Beiträgen beschriebene "Durchstechen" alter Seilschaften vom Verkauf von BVVG-Flächen stimmt, so sehr frage ich mich auch, wer es denn sein soll, der statt der Seilschaften die Flächen bekommen soll? Gibt es nicht auch vorzugsweise aus Westdeutschland (und Westeuropa) stammende kapitalstarke Investoren, die sich das Land unter den Nagel reißen? Hier möchte ich auch die Einschätzung eines guten Kenners der ostdeutschen Verhältnisse wiedergeben. Er bezweifelt nicht die Gültigkeit eines Raumbeherrschungsanspruchs und auch nicht die Existenz alter Seilschaften, sieht aber darin auch den Versuch von Ostdeutschen, der überlegenen Finanzkraft westdeutscher (und westeuropäischer) Investoren etwas entgegenzusetzen.


Wer Land hatte wollte es nicht

Wenn schließlich behauptet wird (BS 5, S. 3 [2]), die alten LPG-Strukturen hätten sich nach 1990 erhalten, weil alle ostdeutschen Agrarpolitiker die Kollektivierung gut gefunden und weil die "Nomenklatura der SED" nach der Wende weiter funktioniert hätten, so macht man es sich viel zu leicht. Vor allem in den ersten "Nachwende"-Jahren waren es vor allem die westdeutschen Agrarpolitiker, Agrarökonomen und Verwaltungsfachleute, die die Richtung vorgaben! Außerdem: Wie viele andere auch habe ich während und nach den entscheidenden "Wende-Monaten" viele Besucher aus Ostdeutschland gehabt, die ihren alten Grundbesitz zurücknehmen konnten und vor der Frage standen, was sie tun sollten. Vergleichsweise wenige von ihnen haben neu angefangen. Als Begründung von denjenigen, die ihr Land nicht selber wieder bewirtschaftet haben hörte ich immer wieder, sie hätten im Westen bei ihren Besuchen verstanden, dass zwar viel von "freien Bauern" die Rede sei, in der Praxis aber Jahr für Jahr tausende Betriebe weichen mussten, ruiniert wurden. Betriebe, die viel bessere Ausgangsbedingungen hatten als sie mit ihren 15 oder 30 ha und den nicht mehr nutzbaren Altgebäuden. "Keine freie Fahrt für freie Bauern" (Artikelüberschrift in BS 3, S. 3 [1]); das ist doch nur dick aufgetragener Pathos. Man vergleiche das doch bitte mit dem Leserbrief von Christian Thiel in der BS 4, S. 9. Da ist die Rede davon, dass die Bauernhöfe regelrecht durch das "System Markt" von wenigen "Flaschenhals betrieben" ausgeraubt werden können.

Es gab einen ostdeutschen Weg der Industrialisierung der Landwirtschaft, es gibt auch einen westdeutschen!


Onno Poppinga, emeretierter Prof des Fachgebiets Landnutzung und regionale Agrarpolitik in Kassel


Weiterführende Literatur:

Alexander W. Tschajanow

"Reise ins Land der bäuerlichen Utopie", Frankfurt 1981

Onno Poppinga
"Bauernland in Junkerhand, Bodenreform in Hessen", Kassel 1983

Günter J. Trittel
"Die Bodenreform in der Britischen Zone 1945-1949", Stuttgart 1975

Walter Görlitz
"Die Junker. Adel und Bauern im deutschen Osten", Glücksburg 1956


Anmerkung der Schattenblick-Redaktion:
Vorangegangene Texte zu diesem Thema sind zu finden unter:

[1] www.schattenblick.de -> Infopool -> Politik -> Wirtschaft:
AGRAR/1423: Keine Chancengleichheit bei der staatlichen Landvergabe in Ostdeutschland (UBS)

[2] www.schattenblick.de -> Infopool -> Geisteswissenschaften -> Geschichte:
NEUZEIT/208: Zwangskollektivierung und bäuerlicher Widerstand in der DDR (UBS)

[3] www.schattenblick.de -> Infopool -> Geisteswissenschaften -> Geschichte:
NEUZEIT/216: Bodenreform und Zwangskollektivierung in Ostdeutschland (UBS)


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Quelle:
Unabhängige Bauernstimme, Nr. 334 - Juni 2010, S. 18-19
Herausgeber: Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft -
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Februar 2011