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NEUZEIT/210: Wurzeln des Elends der italienischen Linken (UZ)


UZ - Unsere Zeit, Nr. 30 vom 30. Juli 2010
Sozialistische Wochenzeitung - Zeitung der DKP

Wurzeln des Elends der italienischen Linken
Bereits im August 1945 konnten die Mussolini-Faschisten sich wieder organisieren

Von Gerhard Feldbauer


Im April 1994 nahm der Mediendiktator Silvio Berlusconi, in den 70er Jahren Mitglied des Dreierdirektoriums der faschistischen Putschloge P2, seine Gesinnungsfreunde der Mussolini-Nachfolgerpartei Movimento Sociale Italiano (MSI), die sich zur Verschleierung ihrer Herkunft in Alleanza Nazionale umgetauft hatten, und die Rassisten der Lega Nord in seine Regierung auf. Nach seinem Sturz im November/Dezember des Jahres kam die Linke Mitte im Bündnis mit den Kommunisten 1996 an die Regierung. Sie verspielte die Chance, soziale und politische Veränderungen herbeizuführen, was zur Rückkehr der pro-faschistischen Koalition unter Berlusconi 2001 an die Exekutive führte. Nach einem kurzen Intermezzo der Mitte-Links-Regierung von 2006 bis 2008 wiederholte sich das makabre Schauspiel erneut.

Wie konnte es geschehen, dass Faschisten, Rassisten und ein mit ihnen verbündeter Großkapitalist an die Macht kamen? Die Antwort ist ebenso einfach wie schwerwiegend. Das war möglich, weil die wirtschaftlichen, die politischen und ideologischen Wurzeln des Faschismus nicht beseitigt wurden. Sie blieben unangetastet, da der Imperialismus in der von den USA angeführten, unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges begonnenen weltweiten Auseinandersetzung mit dem Sozialismus den Faschismus brauchte. In Italien ging es darum, zu verhindern, dass Kommunisten und Sozialisten an der Spitze einer revolutionären Arbeiter- und demokratischen Bewegung eine antifaschistisch-antiimperialistische Umwälzung durchführten. Um die angeschlagenen Machtpositionen des Kapitals wiederherzustellen, verbündeten die führenden Kreise der italienischen Großbourgeoisie sich mit den USA, denen es darum ging, ihre Vorherrschaft und die Südflanke der entstehenden NATO zu sichern.


Der faschistische Uomo Qualunque

Bereits am 8. August 1945 ließ das Allied Military Government die Bildung einer faschistischen Sammlungsbewegung Uomo Qualunque (Jedermann) zu, aus der im Dezember 1946 besagte Sozialbewegung (MSI) hervorging, die sich offen zu Erbe und Tradition Mussolinis bekannte. Seinen Charakter zu verschleiern war, seit der frühere Sozialistenführer Mussolini 1919 die faschistische Bewegung gegründet hatte, immer eines ihrer bezeichnenden Merkmale gewesen. So war es auch bei Uomo Qualunque, das aus einer von dem früheren Liberalen und Komödienschreiber Giannini Guglielmo bereits im Herbst 1944 in Neapel unter der US-amerikanischen Besatzungsobhut gegründeten gleichnamigen Zeitschrift hervorging.

Die IKP hatte einen entscheidenden Beitrag zum Sieg über die Hitlerwehrmacht und ihre Mussolini-Marionetten geleistet. Sie war führende Kraft des Comitato di Liberazione Nazionale (CLN), das am 25. April zur nationalen bewaffneten Erhebung aufrief. Noch vor dem Eintreffen der Alliierten befreite die mehrheitlich aus Kommunisten, nach ihnen Sozialisten bestehende Partisanenarmee die meisten norditalienischen Städte. Auf einer Breite von über 400 Kilometer eröffneten die Partisanen zwischen Piemont und Venetien eine Offensive gegen die Wehrmacht. In Genua kapitulierte der Ortskommandant mit 9 000 Mann. Am Piave legte das X. Panzerkorps die Waffen nieder. Insgesamt ergaben sich bis zum 4. Mai allein im Veneto 140 000 deutsche Soldaten den Partisanen. Am 28. April wurde der einen Tag vorher auf der Flucht zur Schweizer Grenze festgenommene Mussolini auf der Grundlage eines Todesurteils des CLN mit seiner Begleitung hingerichtet.

Die IKP ging aus der Resistenza als politisch einflussreiche Kraft hervor. Sie wuchs auf zwei Millionen Mitglieder an und wurde eine Massenpartei, die unter der Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung Norditaliens großes Ansehen genoss. Mit der Sozialistischen Partei (ISP) war sie durch ein Aktionseinheitsabkommen verbunden, in dem verkündet wurde, Faschismus und Kapitalismus zu beseitigen und eine sozialistische Gesellschaft zu errichten. Die Kommunalwahlen im März und die zur Verfassunggebenden Versammlung im Juni 1946 zeigten, dass IKP und ISP über eine Massenbasis verfügten. Sie erreichten beide Male rund 40 Prozent der Stimmen. Die Wahlen fanden bereits im restaurativen antikommunistischen Klima der zum Angriff übergegangenen Konterrevolution statt. Unmittelbar nach Kriegsende dürfte ein noch größerer Anteil der Bevölkerung hinter den Arbeiterparteien gestanden haben.

Das Befreiungskomitee wurde von IKP und ISP sowie der kleinbürgerlichen radikal-demokratischen Aktionspartei dominiert. Diese hatten auch ein Übergewicht in der im April 1944 gebildeten nationalen Einheitsregierung erlangt. Im Juni 1945 wurde der Aktionist Ferrucio Parri Ministerpräsident. In den meisten Städten und Gemeinden Norditaliens übten die mehrheitlich aus Kommunisten und Sozialisten bestehenden Komitees des CLN die Macht aus und leiteten antiimperialistische revolutionär-demokratische Umgestaltungen ein. Im Süden hatten Landarbeiter, Tagelöhner und Halbpächter das Land der durchweg zu den Faschisten gehörenden Latifundistas besetzt. Die IKP hatte in der Einheitsregierung ein Dekret durchgesetzt, das die Inbesitznahmen legalisierte.

Die vor diesem Hintergrund agierende sogenannte Bewegung des einfachen Bürgers machte sich zunächst zunutze, das Guglielmo einige Vorbehalte gegenüber der Mussolini-Diktatur gehabt hatte. Um die Jedermann-Bewegung nicht offen mit der Mussolini-Vergangenheit zu kompromittieren, traten die aktiven "Duce"-Anhänger in ihr zunächst nicht in Erscheinung. Uomo Qualunque stellte sich als Anti-Partei und unpolitische Organisation vor, wandte sich gegen die "Parteienherrschaft" und "Parteienaristokratie", rief zum Kampf gegen die Verwaltungsbürokratie sowie das bürgerlich-parlamentarische System und seine Institutionen auf, denen es Unfähigkeit und Korruption vorwarf, und trat für die Monarchie ein.

Nachdem sich zeigte, dass die Bewegung unter der US-amerikanischen Besatzungsmacht unbehindert agieren konnte, wagten sich zahlreiche alte Mussolini-Faschisten, die sich unmittelbar nach Kriegsende aus Angst vor einer Bestrafung zunächst ruhig verhalten hatten, wieder an die Öffentlichkeit. Sie organisierten sich in zahlreichen, zunächst meist regionalen und halblegalen, oft paramilitärisch aufgebauten faschistischen Gruppen wie Sturmabteilungen, revolutionären Aktionsbünden, Monarchistischen Abteilungen oder einer Antibolschewistischen Front. An der Spitze der Aktionsbünde. stand der frühere Staatssekretär des "Duce", Giorgio Almirante, ein führender Rassenideologe, der noch kurz vor Kriegsschluss einen Genickschusserlass gegen Partisanen unterzeichnet hatte. Während Uomo Qualunqe demagogisch erklärte gegen "links und rechts" zu sein, bekämpfte es offen die linken Parteien, diffamierte Antifaschisten als "Vaterlandsverräter" und schürte einen aggressiven Revanchismus und Antikommunismus. Die Bewegung gab eine gleichnamige Tageszeitung mit über 100 000 Exemplaren sowie eine Wochenzeitschrift "La Rivolta ideale" heraus, verbreitete massenweise Flugblätter und Broschüren und erregte mit spektakulären Aktionen aufsehen.

Dazu gehörte die Entführung des Leichnams Mussolinis vom Mailänder Friedhof am 23. April 1946, kurz vor dem ersten Jahrestag seiner Hinrichtung, sowie ein Überfall auf den römischen Rundfunksender Monte Mario, von dem die faschistische Hymne "Giovinezza" ausgestrahlt wurde.


Einzug in die Verfassunggebende Versammlung

Mit Uomo Qualunque und den in ihrem Schatten agierenden neofaschistischen Organisationen testeten die alten Faschistenführer den Zeitpunkt der Neugründung ihrer Partei. Pino Romualdi, ein unehelicher Sohn Mussolinis, schrieb 1972, zum 25. Jahrestag des MSI, in Nr. 2 von dessen Zeitschrift "L'Italiano": "Uomo Qualunque, dessen Aktionen zum größten Teil von unseren Leuten unterstützt wurden und oft auch unter ihrer direkten Teilnahme und Anleitung stattfanden, deckte die Vorbereitung der wirklichen Partei, in die die Kräfte von Jedermann dann eingingen". Unter Uomo Qualunque blieb der italienische Nachkriegsfaschismus, trotz des Verlustes seiner Funktion als staatsbeherrschende Partei, eine politische Kraft, die beträchtliche Bevölkerungsschichten und dadurch die Nachkriegsentwicklung beeinflusste. Das zeigte sich bei den Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung am 11. Juni 1946. Obwohl die Jedermann-Bewegung ihren faschistischen Charakter kaum noch verhüllte, konnte sie ungehindert kandidieren, 5,3 Prozent Wählerstimmen erreichen und mit 30 Abgeordneten in die Costituente einziehen. Zusammen mit den Monarchisten, die 6,8 Prozent erzielten, und anderen reaktionären Gruppen wurde sie im Parlament zu einem wichtigen Verbündeten, auf den sich die Rechtskräfte in der Democrazia Cristiana und anderen bürgerlichen Parteien bei der Verteidigung der Interessen des Großkapitals stützten.


USA - Förderer des Neofaschismus

Diese Entwicklung wurde aktiv von der US-amerikanischen Besatzungsmacht unterstützt. Die Publizisten Roberto Faenza und Marco Fini schrieben in ihrem Buch "Die Amerikaner in Italien" (Mailand 1976): "Während es das State Department und die amerikanischen Gewerkschaften waren, die direkt den 'demokratischen' Parteien von den Christdemokraten bis zu den Sozialdemokraten halfen (also sie finanzierten), wurden hauptsächlich die Militär- und Geheimdienste beauftragt, die Rechten zu unterstützen (also sie zu bewaffnen und zu besolden)". Der Historiker Giuseppe Gaddi hielt fest, "die westlichen Alliierten, die sich anschickten, den Kalten Krieg gegen die UdSSR zu entfesseln, lehnten den Beitrag derjenigen, die sich mit gutem Recht als die Vorkämpfer im Kampf gegen den Kommunismus bezeichnen konnten, in keiner Weise ab" (Neofascismo in Europa, Mailand 1974). Bezeichnend war, dass die USA während der Pariser Friedensverhandlungen, die zum Abschluss der Verträge vom 10. Februar 1947 führten, für Italien die von der UdSSR geforderte Klausel ablehnten, jemals wieder faschistische Organisationen zu erlauben und Kriegsverbrechen nicht ungesühnt zu lassen.

Dergestalt verhinderten die USA im Bündnis mit den Kräften der inneren Reaktion eine Säuberung des Staatsapparates und des politischen Lebens von Faschisten. In Norditalien wurden die Verwaltungen des Befreiungskomitees als Organe der Regierung größtenteils durch die alte faschistische Administration ersetzt und der gesamte exekutive Machtapparat mit vorwiegend alten Beamten aus der Zeit des Faschismus restauriert. Die Militärregierung ordnete die Auflösung der Partisanenarmee an. Sie demobilisierte selbst die unter ihrem Kommando in Süditalien aufgestellten italienischen Truppenteile. Für den Aufbau der bewaffneten Kräfte der Italienischen Republik (Armee, Polizei, Geheimdienste) wurden größtenteils hohe Offiziere aus der Zeit des Faschismus verwendet.

Weitgehend unangetastet wechselte der faschistische Justizapparat in den Dienst der Republik über. Bereits im Juni 1945 löste die Militärregierung das "Hohe Kommissariat zur Verfolgung von Regimeverbrechen" auf. Die meisten der aktiven Faschisten, die in der eingeleiteten - aber bald abgebrochenen - Phase der Entfaschisierung vor Gericht gestellt worden waren, wurden freigesprochen bzw. die Urteile aufgehoben oder die Betroffenen amnestiert.

Das betraf den Großteil von 11 800 führenden Faschisten, darunter der Chef der berüchtigten Decima Maas, der zur Partisanenbekämpfung eingesetzten 10. italienischen Torpedoboot-Flottille, Fürst Valerio Borghese, der wegen wenigstens 800-fachen Mordes verurteilt worden war. Aus der Haft entlassen wurde ebenso fast der gesamte Stab der letzten Mussolini-Regierung. Zu beträchtlichen Teilen übernahm die Republik auch die faschistische Gesetzgebung. Während der weitgehend intakt gebliebene faschistische Justizapparat die eigenen Gesinnungsgenossen von ihren Verbrechen freisprach oder außerordentliche Milde walten ließ, zerrte er bereits unmittelbar nach Kriegsende unzählige Antifaschisten und Partisanen vor Gericht und verurteilte sie wegen "Übergriffen" zu langjährigen Haftstrafen.

Ebenso wie die politische blieb auch die ökonomische Macht des Großkapitals, die über 20 Jahre die Basis des Faschismus gebildet hatte, unangetastet. Die Militärregierung unterband alle Versuche, ihre Macht einzuschränken. Sie ließ die vom CLN in Norditalien in vielen Unternehmen gebildeten Fabrikräte auflösen und setzte die Eigentümer wieder ein.


IKP unterschätzte die Gefahr

Die IKP unterschätzte die vor sich gehende Sammlung des militärisch gerade geschlagenen Faschismus und trat ihm nicht mit entschiedenen revolutionären Aktionen entgegen. Sie setzte für antifaschistisch-demokratische Veränderungen auf den parlamentarischen Weg und darauf, das in der Resistenza geschlossene Bündnis mit der Democrazia Cristiana fortzusetzen, was sich als eine gefährliche Illusion erwies. Dafür machte sie weitreichende, in der Partei oft heftig umstrittene Zugeständnisse. Sie nahm die Auflösung der Partisanenverbände (eine halbe Million Kämpfer) und der örtlichen Verwaltungen des CLN hin. Palmiro Togliatti fügte sich als Justizminister der Einstellung der Verfolgung der Regimeverbrecher. Luigi Longo, seit 1946 Stellvertreter Togliattis, forderte wiederholt, die Massen gegen die reaktionären Machenschaften zu mobilisieren. Togliatti räumte im Oktober 1946 ein, dass die nach dem Sieg der Resistenza vorhandene günstige Ausgangssituation "im Grunde genommen nicht genutzt" wurde. Pietro Secchia und Filippo Frassati schrieben in ihrer "Geschichte der Resistenza" (Rom 1965) von einer "fehlenden Revolution" und dem "Kontrast zwischen den Idealen der Resistenza und den verfolgten demokratischen Zielen".

Heute wird in Italien gefragt, ob nicht hier bereits Wurzeln des heutigen Elends der Linken liegen, ihres in den 70er Jahren einsetzenden Weges von Niederlage zu Niederlage?


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Quelle:
Unsere Zeit (UZ) - Zeitung der DKP, 42. Jahrgang, Nr. 30,
30. Juli 2010, Seite 9
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. August 2010