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NEUZEIT/161: Kampf um die Hegemonie - Mussolinis bizarres Nachleben (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 7-8/2008

KULTUR UND KRITIK
Kampf um die Hegemonie
Mussolinis bizarres Nachleben

Von Hans-Martin Lohmann


Der englische Kulturhistoriker Peter Burke, dem wir eine Reihe lesenswerter Bücher über das frühneuzeitliche Italien verdanken, hat einmal gesagt, die städtische italienische Gesellschaft sei eine "Theatergesellschaft". Damit meinte er natürlich nicht, dass die Italiener besonders gern und häufig ins Theater oder in die Oper gehen, vielmehr, dass sie in ihrer Selbstdarstellung und Kommunikation Formen bevorzugen, die auf theatralische Effekte zielen - eben wie auf einer Bühne.

An - wenn auch schlechtes - Theater fühlt man sich erinnert, wenn man italienische Wochenschauen und Propagandafilme aus den 30er und frühen 40er Jahren betrachtet, die öffentliche Auftritte Benito Mussolinis zeigen. Die sorgsam inszenierten Veranstaltungen mit dem Duce, etwa wenn er vom Balkon des Palazzo Venezia die Massen rhetorisch aufpeitschte, waren tatsächlich Theateraufführungen großen Stils. Was aus dem historischen Abstand von siebzig, achtzig Jahren eher lächerlich und erhaben komisch anmutet - die überspannt virile Körpersprache des Faschistenführers, seine mahlenden Kinnladen und grotesken Armbewegungen -, verfehlte seinerzeit nicht seine Wirkung auf die Masse der Zuhörer. Mussolinis "Theaterstil", wenn man so will, erwies sich als höchst effektiv im Sinne der von ihm übermittelten politischen Botschaften und Appelle. Der theatralisch aufgerüstete Körper des Duce - zeitgenössische Fotos zeigen ihn abwechselnd als Bauern, Arbeiter, Sportler, Soldaten und Lebemann - war das größte politische Kapital Mussolinis, mit dem er geschickt zu wuchern wusste.

Gerade die Geschichte des Faschismus bietet sich für eine Historiografie an, die ihren Gegenstand unter dem Aspekt des Körpers und der Körperpolitik betrachtet. In seinen Männerphantasien hat Klaus Theweleit brillant vorgeführt, welchen Nutzen und Ertrag ein solch "körperpolitischer" Zugang für das Verständnis faschistischer Massenbewegungen abwirft. Der 1963 geborene italienische Historiker Sergio Luzzatto ist noch einen Schritt weitergegangen und hat vor zehn Jahren eine Studie vorgelegt, die sich mit dem toten Körper des Duce beschäftigt. Sie ist jetzt in deutscher Übersetzung unter dem etwas vagen Titel Ein Leben nach dem Tod erschienen; das italienische Original spricht präziser von einem Körper "zwischen Imagination, Geschichte und Gedächtnis".

Berühmt-berüchtigt sind jene Fotos, die die toten und geschändeten Körper Mussolinis und seiner Geliebten Clara Petacci auf dem Mailänder Piazzale Loreto zeigen. Nachdem beide am 28. April 1945 von Partisanen aufgespürt und erschossen worden waren, wurden die Leichen am nächsten Tag öffentlich zur Schau gestellt, indem man sie unter dem johlenden Beifall der anwesenden Menge am Gitterdach einer Tankstelle an den Füßen aufhängte. Das makabre Schauspiel war, wie Luzzatto schreibt, nicht nur eine Art "letzte Ölung, sondern auch eine Bluttaufe". An diesem Tag und an diesem Ort wurde das nach-faschistische, das neue demokratische Italien geboren. Mit der öffentlichen und demütigenden Zurschaustellung der Toten auf dem Piazzale Loreto wurde zugleich eine alte Rechnung beglichen: Genau hier nämlich hatten die faschistischen Milizen im August 1944 die Leichen von fünfzehn Mitgliedern der Resistenza, die auf Befehl der SS erschossen worden waren, deponiert und dem öffentlichen Blick preisgegeben. "Sie lagen übereinander, bedeckt von Fliegen", notierte die Journalistin Camilla Cederna. Für den linken und kommunistischen antifaschistischen Widerstand war es gleichsam Ehrensache, die Rache am toten Körper des Duce an dem Ort zu exekutieren, der als Ort der Erinnerung an die entehrten und erniedrigten Opfer aus den eigenen Reihen festgeschrieben war. Luzzatto spricht in Bezug auf diese Ereignisse von einer "Tragödie der Körper".

Die öffentliche Zurschaustellung des toten Mussolini, auf zahlreichen Pressefotos festgehalten, sollte nebenbei den Zweck erfüllen, jeden Zweifel daran zu ersticken, dass es mit dem Faschismus ein für alle Male vorbei war. Mögliche Ängste oder Hoffnungen, der Duce könnte den Zusammenbruch der Republik von Salò überlebt haben, konnten nur mittels der nicht zu widerlegenden Semiotik des toten Körpers gegenstandslos gemacht werden. Wenn man sich vergegenwärtigt, welche Irritationen, Spekulationen und Fantasien im Deutschland der unmittelbaren Nachkriegszeit die Tatsache auslöste, dass der Körper des toten Führers Adolf Hitler unauffindbar war, dann war die, wenn auch barbarische, Tat der Resistenza ein Akt politischer Rationalität. Allerdings kann man sich, wie es der Autor tut, auch fragen, ob die massenhafte Anteilnahme an der öffentlichen Schändung des toten Mussolini nur das Spiegelbild jener Massenversammlungen auf der römischen Piazza Venezia war, auf denen die Italiener ihrem Duce einst zugejubelt hatten.

Der Körper des Duce sollte Gesellschaft und Politik Italiens noch für Jahrzehnte beschäftigen. Luzzatto entfaltet diese Geschichte im Stil eines veritablen Mantel- und Degenstücks, in dem sich allerlei sinistre Figuren als Täter, Agenten und Strippenzieher betätigen. Nachdem die Leiche auf Geheiß des amerikanischen Militärkommandos vom Piazzale Loreto entfernt und im städtischen Leichenschauhaus gerichtsmedizinisch obduziert worden war, schaffte man sie, zusammen mit der Clara Petaccis und anderer Faschistenführer, in aller Heimlichkeit auf einen Mailänder Friedhof, wo sie anonym verscharrt wurde.

Gleichwohl gelang es einem jungen Faschisten, Domenico Leccisi, im April 1946, das Grab des Duce zu identifizieren, den Leichnam mit einigen Helfershelfern heimlich zu exhumieren und zu entwenden. Es dauerte hundert Tage, bis die Polizei in der Lage war, den Täter zu verhaften und den toten Körper des Duce sicherzustellen. Man fand ihn in der berühmten Certosa di Pavia unter der Obhut von Franziskanermönchen. Nicht nur in diesem Zusammenhang stellte sich für viele Italiener die Frage, welche Rolle die Kirche im katholischen Italien während der Zeit des Faschismus gespielt hatte und ob es angemessen sei, Mussolini postum Barmherzigkeit angedeihen zu lassen, indem man ihm eine christliche Bestattung gewährte. Nach Luzzattos Auffassung neigten weite Kreise der Kirche dazu, "die epochale Bedeutung des Übergangs von der Diktatur zur Demokratie herunterzuspielen" und das politische Gewicht des Neofaschismus, der sich schon 1946 als Partei etabliert hatte, großzügig zu bagatellisieren. Manches erinnert dabei an die laue und zweideutige Haltung, die der Pacelli-Papst gegenüber der Judenpolitik des "Dritten Reiches" eingenommen hatte.

Der "Fortsetzungsroman" (Luzzatto) um den toten Körper des Duce war damit noch nicht beendet. Auf Anweisung des Ministerpräsidenten De Gasperi wurde Mussolinis Leichnam von 1946 bis 1957 "aus Gründen der Staatsräson" versteckt gehalten - in einer Kapelle des Kapuzinerklosters Cerro Maggiore in der Nähe von Mailand. Damit sollte vermieden werden, dass das Grab des Duce im Guten wie im Schlechten ein Ort der Erinnerung würde. Paradoxerweise führte diese staatspolitische Maßnahme dazu, dass die physische Abwesenheit des Leichnams nur seine Allgegenwart in der kollektiven Fantasie beförderte. So wurde unter anderem in der Öffentlichkeit immer wieder die Frage erörtert, ob der Duce nicht ein politisches Testament hinterlassen habe. 1957 schließlich, unter dem Druck der Gelegenheit, die Neofaschisten zu befrieden und den politischen Führungsanspruch der Democrazia Cristiana bis hin zur extremen Rechten auszudehnen, entschloss sich die Regierung, den Leichnam der Familie Mussolinis zu übergeben, die ihn auf dem Friedhof von Predappio zu Grabe trug - bis heute ein italienischer Wallfahrtsort, wo man sich in ein Kondolenzbuch eintragen kann.

Natürlich geht es dem Historiker nicht um die bloße Nacherzählung eines reichlich bizarren Theaterstücks - obwohl die Versuchung dazu beträchtlich ist. Den Faschismus als Theater zu definieren und im Duce eine "gemeinsame Maske" zu sehen, in der man sich wiedererkennen konnte, hatte den - je nachdem gewollten oder unerwünschten - Effekt, entweder alle Italiener freizusprechen oder sie alle auf die Anklagebank zu zerren. Demgegenüber favorisiert Luzzatto eine Lesart, die den Kampf um den toten Körper des Duce als einen Kampf um die politische und kulturelle Hegemonie im Nachkriegsitalien interpretiert, in dem nicht zuletzt den medial in Szene gesetzten Bildern eine zentrale Bedeutung zukommt. Im Laufe der 60er Jahre setzte Luzzatto zufolge ein Prozess der ideologischen und moralischen Legitimierung der Resistenza und damit der italienischen Linken insgesamt ein, bei dem die suggestive Macht der Bilder des toten Duce und die damit verbundenen Erinnerungen und Fantasmen allmählich zurückgedrängt wurden. Vor allem unter dem Einfluss des neuen Leitmediums Fernsehen, das die Illustrierten als Instrument der kulturellen Erziehung ablöste, schwand die Faszination, die der Duce als Lebender und als Toter solange auszuüben vermocht hatte - die beliebig reproduzierbaren bewegten Bilder von Mussolini verloren, so Lozzatto, ihre "besondere Aura".

Gleichwohl behält die Theatermetapher im Hinblick auf die italienische Öffentlichkeit eine gewisse Berechtigung: Ein Schauspieler und Entertainer vom Schlage eines Silvio Berlusconi ist tatsächlich nur in Italien als Ministerpräsident möglich, und das bereits zum dritten Mal.

Sergio Luzzatto: Il Duce. Das Leben nach dem Tod. Aus dem Italienischen von Michael von Killisch-Horn. Eichborn Verlag, Frankfurt a.M. 2008, 353 S., 28,50 Euro


Hans-Martin Lohmann (* 1944) ist freier Publizist in Frankfurt am Main. Er arbeitet regelmäßig für Die Zeit und den Deutschlandfunk. Seine Schwerpunkte sind Psychoanalyse und Marxismus.
(k.stroczan@freenet.de)


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 7-8/2008, S. 100-103
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Anke Fuchs,
Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. August 2008