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MEMORIAL/243: Tod eines CIA-Agenten - Warum mußte der Mailänder Polizeikommissar Calabresi am 17. Mai 1972 sterben? (Gerhard Feldbauer)


Tod eines CIA-Agenten

Am 17. Mai 1972 wurde der Mailänder Polizei-Kommissar Luigi Calabresi umgebracht
Warum musste er sterben?

von Gerhard Feldbauer, 13. Mai 2022


Am 17. Mai 1972 wurde der Mailänder Polizei-Kommissar Luigi Calabresi in seiner Wohnung umgebracht. Warum musste er sterben? Er war eine Schlüsselfigur in der von der CIA entfesselten Spannungsstrategie, in der für die von ihr inszenierten Terroranschläge die Linken als die Verantwortlichen hingestellt wurden. Während eines Fortbildungskurses in den USA war er 1966 von der CIA, dem US-amerikanischen Auslandsgeheimdienst, angeworben und in der Spannungsstrategie eingesetzt worden. [1]

Über ihre Komplizen im italienischen Geheimdienst Servizio Informazioni Difesa (SID) sorgte die CIA für Calabresis Aufstieg zum Stellvertreter des für den "Kampf gegen die Linke" zuständigen politischen Dezernats in der Questura (Polizeipräsidium) in Mailand. Seine "große Stunde" kam, als am 12. Dezember 1969 faschistische Terroristen einen Bombenanschlag auf die Mailänder Landwirtschaftsbank auf der Piazza Fontana verübten, bei dem 16 Menschen getötet und über 100 verletzt wurden. Gemäß den Weisungen aus Langley (Sitz der CIA) ließ Calabresi sofort 300 Anarchisten und außerparlamentarische Linke, darunter viele von Lotta Continua, als des Überfalls Verdächtige verhaften. Unter ihnen befanden sich bekannte Anarchisten wie der Eisenbahner Giuseppe Pinelli und der Ballett-Tänzer Pietro Valpreda.

Der Mailänder Polizeipräfekt, Libero Mazza, unterstützte die CIA-Operation mit einem Bericht an Ministerpräsident Mariano Rumor, in dem es hieß: "Annahme zuverlässig, dass Lenkung der Ermittlungen auf anarchoide Gruppen oder jedenfalls auf extremistische Ausläufer erfolgen muss. Nach Absprachen mit oberster Justizbehörde, ist energische Aktion auf Identifikation und Festnahme Verantwortlicher gerichtet." Die Ermittlungen folgten "einem bereits fertigen Drehbuch", enthüllte der Mailänder Journalist und Anarchist Luciano Lanza. Gleichzeitig wurden Spuren, die zu den faschistischen Attentätern führen konnten, beseitigt. [2] Gegenüber der Turiner Tageszeitung "La Stampa" urteilte Calabresi, dass es sich "ohne Zweifel um die Tat von Linksextremisten, um das Werk von Anarchisten handelt", daran "gibt es nicht den geringsten Zweifel". Dass es "die Faschisten gewesen sind", schloss der Kommissar kategorisch aus.

Obwohl Pinelli für die Tatzeit ein Alibi hatte - vier Zeugen belegen, dass er in einer Bar Karten gespielt hatte -, wurde er weiter drei Tage verhört, um ein Geständnis zu erpressen. Dann wurde er gegen Mitternacht vom 15. auf den 16. Dezember aus dem Zimmer Calabresis im fünften Stock des Polizeipräsidiums in die Tiefe gestürzt. Dario Fo brachte das Verbrechen und seine Hintergründe in seinem Theaterstück "Zufälliger Tod eines Anarchisten" auf die Bühne. Valpreda, der seine Unschuld ebenfalls beweisen konnte, saß drei Jahre unschuldig im Gefängnis, bevor er am 14. Oktober 1972 freigelassen werden musste.

Der Tod des 40jährigen Giuseppe Pinelli, der eine Frau und zwei Kinder hinterließ, erregte viele Linke, die in ihren Protesten nicht nachließen. Einem Aufruf von Lotta Continua folgend demonstrierten Zehntausende durch die Straßen von Mailand und riefen in Sprechchören "Calabresi Mörder" und "CIA-Kommissar". Danach holte man in der Mailänder Questura zum Gegenschlag aus. Calabresi wurde veranlasst, wegen der Mordanschuldigungen, die die Zeitung Lotta Continua wiedergab, gegen den Chefredakteur Pio Baldelli zu klagen. Dieser ging zu Beginn des Prozesses in die Offensive und erklärte: "Wir haben die Absicht zu beweisen, dass Kommissar Calabresi Pinelli ermordet hat. Er hat ihn umgebracht, wenn vielleicht auch nicht selbst. Auf jeden Fall werden wir beweisen, dass die Verantwortung für den Tod des Anarchisten auf ihn fällt." [3]

44 Zeitungen und Zeitschriften, die Vereinigung Demokratischer Juristen und zahlreiche Organisationen solidarisierten sich mit Lotta Continua. Calabresi und die als Zeugen geladenen Polizisten verwickelten sich in Widersprüche. Schließlich lehnte der Kommissar die Verantwortung für die Ereignisse mit der Erklärung ab, er sei während des Fenstersturzes Pinellis nicht im Zimmer gewesen. Als Lotta Continua die Exhumierung der Leiche Pinellis zur Obduktion beantragte, ließen Calabresis Anwälte, um die Beweise für die Ermordung Pinellis zu unterdrücken, den Prozess platzen. Sie erklärten den Vorsitzenden Richter, einen durch und durch konservativen Juristen, für befangen und forderten, ihn abzusetzen. Dem Antrag wurde vom Kassationsgericht stattgegeben.

Mit seiner Aussage im Prozess wurde Calabresi bei seinen Auftraggebern zum unsicheren Kantonisten. Die Zweifel an seiner Zuverlässigkeit wuchsen, als er im Frühjahr 1972 mit den Ermittlungen über ein in der Nähe von Rom aufgedecktes, für Neofaschisten bestimmtes Waffenlager beauftragt wurde. Es umfaßte Karabiner, Maschinenpistolen, Maschinengewehre, Handgranaten, Minen und selbst Artilleriegeschosse. Wie später der sozialdemokratische Bonner "Vorwärts" enthüllte [4], waren die Waffen für die neofaschistischen Hilfstruppen des 1973 geplanten Windroseputsches bestimmt, dessen Fäden bei der CIA, beim NATO-Kommando in Neapel, bei dem General des Geheimdienstes Servizio Informazioni Difesa (SID), Vittorio Miceli, und in der BND-Zentrale in Pullach zusammenliefen. Calabresi hatte keine Gelegenheit mehr, den Fall weiter zu untersuchen. Wenige Wochen später, am 17. Mai 1972, wurde er in seiner Mailänder Wohnung ermordet.

Verdächtigt wurde ein bekannter Neofaschist Gianni Nardi, der nach Spanien geflohen war. [5] Weniger bekannt war, dass Nardi für den BND arbeitete. Italienische Zeitungen vermuteten, er sei von der Zentrale in Pullach beauftragt worden, den Mailänder Kommissar umzubringen, um weitere Enthüllungen über die Herkunft des aufgedeckten Waffenlagers bei Rom zu verhindern. Man befürchtete, der Kommissar werde diesmal nicht nach links ermitteln, sondern auch die pista nera (schwarze Spur) verfolgen. Er hätte wohl "etliche sehr bekannte Namen auszuplaudern gehabt, wenn er zu sprechen begonnen hätte". Ans Licht hätte das schon in der Nachkriegsgeschichte entstandene Geflecht von Nazigrößen der BRD mit den italienischen Neofaschisten kommen können. Darunter die Beziehungen, die SID-General Miceli zum Chef der Abwehr der Hitlerwehrmacht, General Reinhard Gehlen, der den BND aufbaute, unterhielt. Seit dieser Zeit unterhielten die italienischen Neofaschisten und ihre Obristen beste Kontakte zu deutschen Waffenhändlern, darunter zu dem früheren SS-Standartenführer Otto Skorzeny, einer der schillerndsten Figuren des internationalen Nachkriegsfaschismus. Bei seinen Kumpanen in Italien genoss er großes Ansehen, weil er im September 1943 in einem spektakulären Kommandounternehmen Mussolini aus der Haft auf dem Gran Sasso geholt hatte, wohin er nach seinem Sturz am 25. Juli gebracht worden war.

Skorzeny gehörte zu den führenden Köpfen der von Nazi-Größen vor dem Zusammenbruch des "Dritten Reiches" unter dem Decknamen "Odessa" geschaffenen Rettungs- und Überlebensorganisation der faschistischen Bewegung, die dazu Milliardensummen ins Ausland transferierte. [6] Skorzenys Name taucht bei den Umsturzversuchen Borgheses und der Windrose auf, ebenso bei zahlreichen Anschlägen der Spannungsstrategie. In Padua, wo sich in der Nähe der NATO-Basis die Putschzentrale der Windrose befand, und in der süditalienischen Hafenstadt Bari unterhielt er Büros seiner in Spanien ansässigen Waffenexport-Import-Agentur. Das Bekanntwerden dieses brisanten Hintergrunds wurde durch die am 17. Mai auf Luigi Calabresi abgefeuerten Schüsse verhindert. [7] Nardi kam später auf Mallorca angeblich bei einem Autounfall ums Leben, für einen Agenten immer ein mysteriöser Tod. Als 1990 die geheime NATO-Truppe Stay behind, die in Italien Gladio hieß, aufgedeckt wurde, stand sein Name auf ihren Mitgliederlisten.

1988 wurden die Spuren mit der Verurteilung von radikalen Linken wie dem Lotta-Continua-Gründer Adriano Sofri als Anstifter des Mordes an Calabresi gemäß den CIA-Instruktionen nach links gelenkt. Persönlichkeiten wie Umberto Eco, Carlo Ginzburg und Hans Magnus Enzensberger protestierten, dass Unschuldige verurteilt wurden. Calabresi war nicht der einzige unliebsame Mitwisser, der bei der Aufdeckung der Rolle der Spannungsstrategie im Falle der Piazza Fontana aus dem Weg geräumt wurde.

Der in Sachen Spannungsstrategie recherchierende Parlamentarier Sergio Flamigni listete über ein Dutzend "auf mysteriöse Weise verstorbene Zeugen" auf. [8] Bereits zwei Wochen nach dem Blutbad verschwand der Neofaschist Armando Calzolari. Er hatte Vorbehalte geäußert, dass völlig unschuldige Menschen bei dem Anschlag in der Landwirtschaftsbank ums Leben kamen. Er war kein x-beliebiger Mann in der Bewegung, sondern gehörte in der Avanguardia Nazionale zum Führungsstab Valerio Borgheses [9] bei der Vorbereitung des Putsches im Dezember 1970. Einen Monat später wurde er zusammen mit seinem Hund in einem 80 Meter tiefen Brunnen ertrunken aufgefunden. Als Untersuchungsrichter Paolillo Ermittlungen wegen Mordes begann, wurde ihm der Fall entzogen.

Ein weiterer unsicherer Kantonist war ein Taxi-Fahrer Cornelio Rolandi, den die Staatsanwaltschaft als Zeugen im Prozess gegen den Balletttänzer Valpreda präpariert und ihm dafür als Belohnung 50.000 DM versprochen hat. Nachdem er diese nicht erhalten hatte, gab er bei der Vernehmung durch Valpredas Verteidigung zu: "In der Questura haben sie mir ein Foto gezeigt und mir gesagt, diese Person müsse ich erkennen." Danach kam Rolandi in seiner Wohnung in der Badewanne ums Leben.

Der hochrangigste Mitwisser, der ums Leben kam, war der Rechtsanwalt und Agent des militärischen Geheimdienstes Servizio Informazioni Forza Armate (SIFAR), Vittorio Ambrosini, Bruder eines ehemaligen Präsidenten des Verfassungsgerichts und Patenonkel des Innenministers Franco Restivo. Zwei Tage vor dem Anschlag auf der Piazza Fontana hatte er an einer Einsatzbesprechung der faschistischen Ordine Nuovo teilgenommen. Das Blutbad erschütterte ihn dann derart, dass er Restivo in einem Brief darüber unterrichtete, dass der Anschlag von der Neuen Ordnung ausgeführt worden war und nannte 15 ihm bekannte Neofaschisten, die daran beteiligt waren. Danach stürzte er aus dem siebten Stock einer römischen Klinik in den Tod. Für den Fall seines Todes hatte er seine Kenntnisse zu Papier gebracht. Das Dokument verschwand danach.

Die Deutsche Anneliese Borth und vier Anarchisten aus Reggio Calabria, die an einer Dokumentation über die Rolle der Neofaschisten in der Spannungsstrategie arbeiteten, kamen alle bei einem Autounfall ums Leben. Er ereignete sich auf der Autobahn Strada del Sole in der Nähe eines Landgutes Borgheses.

Hier noch kurz weitere wacklige Zeugen, die aus dem Weg geräumt wurden: Ein Ivo Della Savia, der aussagen sollte, er habe Valpreda Sprengstoff besorgt, wurde in seiner Wohnung mit dem Kopf in der Backröhre eines Gasofens gefunden. Ein Edgardo Ginesta lag ebenfalls tot in seiner Wohnung. Eine mit einem Neofaschisten, Luciano Luberti, befreundete Carla Gruber wurde erschossen. Auch Luberti hatte Skrupel bezüglich des Mailänder Anschlags geäußert und Carla Gruber hatte davon erfahren. Der Entlastungszeuge der Verteidigung, Angelo Fascetti, kam bei einem Verkehrsunfall zu Tode. Ein Alberto Muraro, Portier im Haus des Stadtrates der MSI-Partei Massimiliano Facchini in Padua, wurde kurz vor seiner Vernehmung vor Gericht tot im Treppenhaus aufgefunden. Facchini war enger Vertrauter des Geheimdienstgenerals Maletti, der in die Putschpläne Borgheses eingeweiht war. Der Portier war ungewollt zum Mitwisser geworden.


Anmerkungen:

[1] Harald Irnberger: Die Terrormultis, Wien/München 1976, S. 203.

[2] Luciano Lanza: Bomben und Geheimnisse - Die Geschichte des Massakers von der Piazza Fontana, Hamburg 1998, S. 9.

[3] Gisela Wenzel: Klassenkämpfe und Repression in Italien. Am Beispiel Valpreda, S. 41.

[4] Ausg. vom 31. Oktober 1974.

[5] I Giorni della Storia d'Italia, Novara 191, S. 677.

[6] Giuseppe Gaddi: Neofascismo in Europa, Mailand 1974, S. 189.

[7] Irnberger, a. a. O.

[8] Flamigni: Trame atlantiche, Mailand 1996, S. 98, Wenzel, S. 42 ff.

[9] Der Adlige, "schwarzer Fürst" genannte Borghese, unter Mussolini Kommandeur einer zur Partisanenbekämpfung eingesetzten Torpedobootflottille, bei der Wiedergründung der Partei des "Duce" in Gestalt des Movimento Sociale Italiano (MSI) 1946 zum Präsidenten gewählt, wurde wegen 800fachen Mordes an Antifaschisten 1950 als Kriegsverbrecher verurteilt und auf Betreiben der USA begnadigt. Zur Leitung des Putsches, den er im Dezember 1970 versuchte, hatte er die Avanguardia Nazionale gebildet.

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Quelle:
© 2022 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 21. Mai 2022

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