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MEMORIAL/210: Mailand 1969 - Attentat auf der Piazza Fontana war Beginn der Spannungsstrategie der CIA in Italien (Gerhard Feldbauer)


Vor 50 Jahren

Das Attentat auf der Piazza Fontana war Beginn der Spannungsstrategie der CIA in Italien, die einem faschistischen Putsch den Weg bereiten sollte
Hunderte unschuldige Menschen wurden umgebracht

Von Gerhard Feldbauer, 12. Dezember 2019


Am 12. Dezember 1969, einem Freitag, herrschte am späten Nachmittag in der Industriemetropole Mailand Vorweihnachtsstimmung und die vor einem Wochenende übliche Hektik. In der Schalterhalle der Landwirtschaftsbank an der Piazza Fontana drängen sich die Menschen, als um 16.37 Uhr eine Bombe explodierte und ein Blutbad anrichtete. 14 Menschen waren sofort tot, zwei weitere starben im Krankenhaus, fast 100 wurden verletzt.


Foto: Piero Montesacro [CC BY-SA 4.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0)]

Gebäude der Landwirtschaftsbank an der Piazza Fontana in Mailand
Foto: Piero Montesacro [CC BY-SA 4.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0)]

Eine weitere Bombe war um 16.25 in einer Aktentasche an einem Fahrstuhl gefunden worden, bevor sie explodierte. Ein Maresciallo vergrub sie zunächst im Hof der Bank und sperrte ihn ab. Fast zur gleichen Zeit detonierten in Rom drei Bomben bzw. Sprengsätze. Zwischen 16.40 und 16.55 Uhr eine in der Prachtstraße Via Veneto in der Banca Nazionale del Lavoro, die 14 Angestellte verletzte. Danach um 17.20 Uhr eine weitere am »Altar des Vaterlandes« auf der Piazza Venezia und zehn Minuten später zwei weitere Sprengsätze mit geringerer Kraft, die einen Carabinieri und drei Passanten verletzten.

Mit den Anschlägen begann die von der CIA seit Mitte der 60er Jahre ausgearbeitete Strategie der Spannung. Ihr Ziel war, mit einem forcierten Terror die öffentliche Ordnung zu untergraben und so das Klima für einen Militärputsch zu schaffen, eine Situation, in der die Armee als "Ordnungsfaktor" auf den Plan treten sollte. Konkret sollte einem Putsch der Weg geebnet werden, den der aus einem alten Adelsgeschlecht stammende, "schwarzer Fürst" genannte Valerio Borghese mit der von ihm gegründeten faschistischen Avanguardia Nazionale dann im Dezember 1970 auslösen wollte. Er war unter Mussolini Kommandeur der DECIMA MAS (10. Torpedobootflotille) gewesen und wegen wenigsten 800fachen Mordes an Partisanen 1949 nur zu 12 Jahren Haft verurteilt, auf Betreiben der USA aber begnadigt worden.

Für die Spannungsstrategie nutzte die CIA das linksradikale Spektrum. Sie begann, mit den italienischen Geheimdiensten linksradikale Organisationen mit ihren Agenten zu unterwandern, um diese zu Gewaltakten zu provozieren und sie als die Verantwortlichen des rechten Terrors hinzustellen. Herausragend war die Infiltration der 1969 entstandenen Brigate Rosse (Roten Brigaden), die 1978 zum Instrument des Mordkomplotts gegen den Führer der Democrazia Cristiana (DC) Aldo Moro, der eine Regierungszusammenarbeit mit dem Generalsekretär der IKP, Enrico Berlinguer, verfolgte, manipuliert wurden. Die Weichen dafür hatte der Geheimdienstausschuss des US-Repräsentantenhauses 1968 mit seiner Orientierung für alle Geheimdienstorgane gestellt, bei ihren Operationen stärker linksradikale Kräfte zu benutzen. Dieser Linie entsprechend wurden jedoch nicht nur in großer Zahl V-Leute und neofaschistische Agenten in linksradikale Gruppen eingeschleust, um diese zu gewaltsamen Aktionen anzustacheln, sondern schwarzer Terror auch pseudorevolutionär getarnt, durch Agenten selbst "linksextreme" Gruppen gebildet oder bestehende neofaschistische Terrorbanden auch einfach auf "linksradikale" Namen umgetauft.


Attentäter Faschisten

Die Anschläge in Mailand und Rom wurden von Neofaschisten ausgeführt, die vor allem aus der Ordine Nuovo (Neuen Ordnung) kamen. Die Rädelsführer waren zwei bekannte Terroristen, Franco Freda und Giovanni Ventura. Zu ihnen gesellten sich aus der Leitung der Avanguardia Nazionale ein Stefano Delle Chiaie und ein Mario Merlino, der unter Mailänder Anarchisten aktiv war und versuchte, diese zu Terrorakten anzustiften, damit die Polizei sie dann als Täter präsentieren konnte. Den Anschlag in Mailand leitete der Ordine-Führer Pino Rauti, Jahrgang 1926, ein Altfaschist aus Mussolinis Sàlo-Republik, der als Freiwilliger in den Schwarzhemden (der italienischen SS) an der Seite der Hitlerwehrmacht gekämpft hatte.

Die Ordine Nuovo hatte sich 1954 in Mailand konstituiert. Schon der Name sollte ein "linkes Image" verleihen. Denn es war der von der von Antonio Gramsci 1920 in der Sozialistischen Partei gebildeten Neuen Ordnung, aus der im Januar 1921 die Kommunistische Partei hervorging. Rauti selbst war in der im Dezember 1946 als Nachfolger der Mussolini-Partei wieder gegründeten Movimento Sociale Italiano (MSI) die Nummer Zwei und Chef ihrer Terrorbanden. Wegen mehreren Anschlägen war er bereits 1951 zu einer zehnmonatigen Haftstrafe verurteilt worden. Die rund 700 Teilnehmer des Gründungskongresses hatten den "Sturz des Systems" verkündet, sich zum Programm der 1943 von Mussolini gebildeten Sàlo-Republik und zum "Dritten Reich" bekannt, als Wahlspruch den der deutschen SS - "unsere Ehre heißt Treue" gewählt und zu ihrem Symbol eine Doppelaxt auf rotem Grund im weißen Kreis, die später durch das keltische Kreuz ersetzt wurde.


Foto: http://eserver.org/ [Public domain] via Wikimedia Commons

Antonio Gramsci - Mitbegründer der Kommunistischen Partei Italiens, 1926 inhaftiert und 1937 an den Folgen der Kerkerhaft verstorben
Foto: http://eserver.org/ [Public domain] via Wikimedia Commons


Verfolgte Anarchisten

Der Spannungsstrategie entsprechend wiesen die "Spuren" in der Landwirtschaftsbank sofort auf die Anarchisten. Die Ermittlungen folgten "einem bereits fertigen Drehbuch", schrieb der Mailänder Journalist und Anarchist Luciano Lanza. [1] Gleichzeitig wurden Spuren, die zu den neofaschistischen Attentätern führen konnten, beseitigt. So wurde die in der Handelsbank sichergestellte nichtexplodierte Bombe auf Weisung des Polizeipräsidiums am Abend des 12. Dezember mit einer Sprengladung zur Explosion gebracht. Der die Ermittlungen leitende Kommissar Luigi Calabresi überzeugte sich, dass der Befehl ausgeführt wurde. Der Munitionstechniker Guido Bizzarri, ein Mann mit vierzigjähriger Berufserfahrung, äußerte gegenüber Journalisten, das sei absolut unüblich. "Ich hätte sie entschärft. Sie zu sprengen war viel gefährlicher."

Mit der Sprengung wurden Spuren, die zu den Hintermännern der Attentate führen konnten, beseitigt. Sichergestellt wurde dagegen ein Stück Buntglas, das sich in der Aktentasche mit der Bombe befand. Es wurde in Mailand keiner kriminaltechnischen Analyse unterzogen, sondern dazu nach Rom geschickt. Dort stellte man erstaunlich schnell fest, dass es sich um Buntglas handelte, das in der Werkstatt von Pietro Valpreda zur Herstellung von Jugendstillampen verwendet wurde. Valpreda, ein Mailänder Anarchist und Ballett-Tänzer ohne Engagement, betrieb in Rom einen Kunstgewerbeladen für Lampen und Schmuck. Am 12. Dezember war er am Morgen nach Mailand zu einer polizeilichen Vernehmung vorgeladen worden. Bereits drei Stunden nach dem Attentat - das Buntglas war noch nicht analysiert - wurde er im Mailänder Polizeipräsidium als einer der Attentäter genannt.


Das "Drehbuch"

Zu dieser Zeit informierte der Polizeipräfekt, Libero Mazza, bereits Ministerpräsident Mario Rumor über "die Linie des Vorgehens" wie folgt: "Annahme zuverlässig, dass Lenkung der Ermittlungen auf anarchoide Gruppen oder jedenfalls auf extremistische Ausläufer erfolgen muss. Hat bereits begonnen, vorherige Absprachen mit oberster Justizbehörde, energische Aktion, gerichtet auf Identifikation und Festnahme Verantwortlicher." Während der Polizeipräfekt seinen "Bericht" nach Rom absetzte, der ganz dem "Drehbuch", das Lanza erwähnte, entsprach, versuchte Kommissar Calabresi bereits, von den ersten verhafteten Anarchisten Geständnisse zu erpressen. Calabresi benötigte dazu nicht erst die Befehle seines Präfekten. Er erhielt seine Weisungen direkt von der CIA, die ihn während eines mehrmonatigen "Fortbildungskurses" in den USA 1966 angeworben hatte. [2]

Der Kommissar ging denn auch exakt nach den Instruktionen der CIA vor und suchte die Attentäter unter den Linken. Die Anschläge zeigen deutlich "die Handschrift der Anarchisten", setzte Calabresi die Vorgeführten unter Druck und verlangt von ihnen Auskünfte "über diesen irren kriminellen Valpreda" und seinen "Anhang von Halbstarken", die dazu zwingen, "ernste Maßnahmen zu ergreifen". Dann das vorgefasste Urteil: "Das ist das Werk von Anarchisten, daran gibt es nicht den geringsten Zweifel." Dass es "die Faschisten gewesen sind", schließt der Kommissar kategorisch aus. Die Turiner Stampa zitiert ihn am nächsten Tag mit dem entschiedenen Urteil, dass es sich "ohne Zweifel um die Tat von Linksextremisten" handelt. Das neofaschistische Secolo d'Italia schreibt: "Die Kommunisten sind die Mörder! Schluss mit dem kommunistischen Terror." Drei Tage später fordert das MSI-Parteiblatt ganz im Sinne der Vorbereitung auf den geplanten Borgheseputsch, mit aller Schärfe gegen die Verbrechen wider die öffentliche Ordnung" vorzugehen.

Nach dem Attentat werden über 300 Personen aus Kreisen der Anarchisten und der außerparlamentarischen Linken verhaftet, darunter einer der bekanntesten Anarchisten Mailands, der Eisenbahner Giuseppe Pinelli, der noch am 12. abends festgenommen wird, und drei Tage später Valpreda.


Foto: Document of identity [Public domain] via Wikimedia Commons

Der Anarchist Giuseppe Pinelli
Foto: Document of identity [Public domain] via Wikimedia Commons

Pinelli hat für die Tatzeit ein Alibi. Vier Zeugen belegen, dass er in einer Bar Karten gespielt hat. Ein Polizist der Questura behauptet jedoch, das stimme nicht, er sei sich "beinahe sicher, daß Pinelli nicht gespielt hat". Das genügt Kommissar Calabresi, diesen weiter festzuhalten und zu beschuldigen. Obwohl er nach 48 Stunden freigelassen oder ein Haftbefehl ausgestellt werden müsste, wird er weiter verhört und ihm dabei ein Rechtsanwalt verweigert. Dann, gegen Mitternacht vom 15. auf den 16. Dezember, stürzt Pinelli aus dem Zimmer Calabresis im fünften Stock des Polizeipräsidiums.

Polizeipräsident Marcello Guida persönlich beruft sofort eine Pressekonferenz ein und behauptet, es sei Selbstmord gewesen. "Sein Alibi hat den Nachprüfungen nicht standgehalten", erklärt er. "Er hat sich verloren gesehen (...) Es war eine Geste der Verzweiflung, alles in allem eine Art Selbstanklage". [3] Guida ist ein offen neofaschistisch eingestellten Offizier, der unter Mussolini eines der berüchtigten Straflager für politische Gefangene leitete.

Die Mailänder Anarchisten der Ponte della Ghisolfa klagten bereits am 17. Dezember auf einer Pressekonferenz den Innenminister und den Polizeipräfekten an, die neofaschistischen Täter zu decken.


"Zufälliger Tod eines Anarchisten"

Die Anarchisten wurden vor allem von der außerparlamentarischen Lotta Continua (Ständiger Kampf) unterstützt. Die Organisation zählte etwa 20.000 Mitglieder, gab eine gleichnamige Tageszeitung mit derselben Auflage sowie eine Zeitschrift Contre-Informazione heraus, in der die Ziele der Spannungsstrategie enthüllt wurden. Starken Auftrieb erhielten die Proteste durch das solidarische Engagement Dario Fos (Nobelpreis 1997), der das Verbrechen und seine Hintergründe in seinem Theaterstück "Zufälliger Tod eines Anarchisten" auf die Bühne brachte, was vom hohen persönlichen Mut des Autors zeugte. Denn im Griechenland der Obristen und im Chile Pinochets wurden Künstler und Schauspieler, die sich wie Fo engagierten, in die Kerker geworfen oder kamen ums Leben.

Vor allem vier Fakten widerlegten die Behauptung des Polizeipräsidenten und Kommissar Calabresis von einem Selbstmord Pinellis. Die Erklärung, ein Polizeibeamter habe Pinelli von seinem Sturz aus dem Fenster zurückhalten wollen, ihn an den Füßen gepackt, aber nur einen Schuh erfasst, stimmte nicht. Der Eisenbahner wurde im Hof mit beiden Schuhen an den Füßen gefunden. Bereits vor dem "Fenstersturz" Pinellis war in einem Krankenhaus angerufen und ein Krankenwagen zur angeblichen Hilfe angefordert worden. Schließlich verdeutlichte die Art des Sturzes, dass Pinelli infolge der Folterungen nicht mehr bei Bewusstsein war. Den Verdacht, dass der Anarchist von den Polizisten aus dem Fenster gestoßen wurde, erhärtete weiter, dass keine Obduktion der Leiche vorgenommen wurde.

Der Tod des 40-jährigen Giuseppe Pinelli, der eine Frau und zwei Kinder hinterließ, erregte nicht nur die Mailänder Anarchisten, sondern viele Linke, die in ihren Protesten nicht nachließen. Als Zehntausende, einem Aufruf von Lotta Continua folgend, durch die Stadt demonstrierten und die Straßen von Sprechchören "Calabresi Mörder" und "CIA-Kommissar" widerhallten, holte man in der Mailänder Questura zum Gegenschlag aus. Calabresi wurde veranlaßt, wegen der Mordanschuldigungen, die die Zeitung Lotta Continua erhob, gegen den Chefredakteur Pio Baldelli zu klagen. Dieser ging zu Beginn des Prozesses in die Offensive und erklärte: "Wir haben die Absicht zu beweisen, dass Kommissar Calabresi Pinelli ermordet hat. Er hat ihn umgebracht, wenn vielleicht auch nicht selbst. Auf jeden Fall werden wir beweisen, dass die Verantwortung für den Tod des Anarchisten auf ihn fällt." (Wenzel, S. 41).


Prozess platzt

44 Zeitungen und Zeitschriften, die Vereinigung Demokratischer Juristen und zahlreiche Organisationen solidarisierten sich mit Lotta Continua. Calabresi und die als Zeugen geladenen Polizisten verwickelten sich in Widersprüche. Schließlich lehnte der Kommissar die Verantwortung für die Ereignisse mit der Erklärung ab, er sei während des Fenstersturzes Pinellis nicht im Zimmer gewesen. Als Lotta Continua die Exhumierung der Leiche Pinellis zur Obduktion beantragte, ließen Calabresis Anwälte, um die Beweise für die Ermordung Pinellis zu unterdrücken, den Prozess platzen. Sie erklärten den vorsitzenden Richter, einen durch und durch konservativen Juristen, für befangen und forderten, ihn abzusetzen. Dem Antrag wurde vom Kassationsgericht stattgegeben.

Calabresi überlebte das Fiasko des Prozesses nicht lange. Am 17. Mai 1972 wurde er in Mailand auf offener Straße von einem "unbekannten Täter" erschossen. "Die im Prozess aufgedeckten Spuren zeigten, welch prominente Mächte hinter den blutigen Faschistenumtrieben standen - und dass Calabresi wohl etliche sehr bekannte Namen auszuplaudern gehabt hätte, wenn er unter der Beweislast zusammengebrochen wäre und zu sprechen begonnen hätte. Das wurde jedoch verhindert: durch die am 17. Mai auf Luigi Calabresi abgefeuerten Schüsse", schrieb Irnberger, der festhielt, es "könnte die CIA gewesen sein (S. 203).


Foto: Piero Montesacro [CC BY-SA 4.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0)] via Wikimedia Commons

2006 von der Mailänder Stadtverwaltung in der Piazza Fontana errichtete Gedenktafel an die Ermordung Pinellis im Polizeipräsidium am 5. Dezember 1969
Foto: Piero Montesacro [CC BY-SA 4.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0)] via Wikimedia Commons


Das "Field manual 30-31"

Das Pentagon erließ zu der 1968er Orientierung des Geheimdienstausschuss des US-Repräsentantenhauses am 18. März 1970 ein Feldhandbuch (Field manual 30-31) mit detaillierten Instruktionen zur Einschleusung von Agenten in linksradikale Organisationen, die zur gegebenen Zeit Operationen - von der Provozierung von Unruhen bis zu politischen Morden - auslösen sollten, um Vorwände zur Errichtung eines Regimes der "starken Hand" zu schaffen. [4] Zwei Jahre, nachdem FM 30-31 ergangen war, verlautete aus einem Bericht der Pariser Le Monde, dass mindestens zehn Prozent aller Mitglieder linksradikaler Vereinigungen Agenten der Polizei seien. [5]

Obwohl die Strategie, linksradikalen Linken für faschistische Anschläge die Schuld in die Schuhe zu schieben, in Mailand ein Fiasko erlitt, wurde sie - nicht ohne Erfolg, wie die Entwicklung nach dem Mordkomplott an Aldo Moro zeigte - weiter verfolgt. Einige Beispiele: Nachdem im März 1973 ein neofaschistisches Attentat auf den D-Zug Genua-Rom gescheitert war, wurde bekannt, dass zuvor in dem Zug Neofaschisten vor den Reisenden demonstrativ mit Zeitungen und Flugblättern von Lotta Continua und Potere Operaio aufgetreten waren, um entsprechende Spuren zu hinterlassen. Im März 1977 kam es in Bologna, das von einer roten Stadtverwaltung regiert wurde, zu tagelangen bewaffneten Zusammenstößen, für die linksradikale Gruppen, darunter von der Universität der Stadt, verantwortlich gemacht wurden. Die Zeitschrift Giorni berichtete in ihrer Nummer 13, dass nach Bologna jedoch scharenweise Neofaschisten aus Rom, Bari, Palermo und weiteren süditalienischen Städten transportiert worden waren, die in Gruppen unter "linken" Namen wie "Roter Stern" (Stella Rossa) oder "Bewaffneter Kampf für den Kommunismus" (Lotta armata per il comunismo) agierten.

Am 14. Juni 1975 enthüllte der Chefredakteur der römischen Wochenschrift Tempo, Livio Jannuzzi, in Rom auf einer Pressekonferenz, dass in einem geheimen NATO-Stützpunkt Capo Marrargiu auf Sardinien Polizeiagenten auf ihren Einsatz in linksradikalen Gruppen, darunter in den Brigate Rosse, vorbereitet würden. Jannuzzi, über dessen Pressekonferenz am nächsten Tag nahezu alle italienischen Zeitungen ausführlich berichteten, erklärte weiter, dass die Agenten "Gruppen in den BR anleiten, Kommandounternehmen zur Entführung und Ermordung von Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft und Kultur durchzuführen". Die Ausbildung leitete der Oberst des Geheimdienstes SISMI, Camillo Gugliemi, der bei der Entführung Moros im März 1978 am Tatort persönlich kontrollierte, wie die Operation ablief. Wie 1991 nach der Aufdeckung der geheimen NATO-Truppe Stay behind (hinter den Linien), die in Italien Gladio hieß, ans Licht kam, führten einen Großteil der Attentate Einheiten dieser verfassungsfeindlichen Truppe, die in einer Division von 12.000 Mann zusammengefasst waren, selbst aus. [6]


Propaganda due (P2)

Als Zentrale ihrer Spannungsstrategie schuf die CIA in dieser Zeit die als Freimaurerloge getarnte "Propaganda due" (P2), deren offizieller Chef der Altfaschist aus Mussolinis Sàlo-Republik Licio Gelli wurde, dessen Aufdeckung die USA verhindert hatten. Die Fäden ihrer Gründung zogen, wie das Mailänder Nachrichtenmagazin Espresso am 25. November 1990 schrieb, der damalige NATO-Oberbefehlshaber General Alexander Haig und US-Außenminister Henry Kissinger. Haig ließ vom Chef für verdeckte Operationen der CIA in Rom, Ted Shackley, Gelli eine Liste mit 400 hohen italienischen NATO-Offizieren für den Aufbau übermitteln. Als eigentlicher geheimer Chef der P2 galt jedoch, wie der Europeo am 15. Oktober 1983 schrieb, der auch wegen Komplizenschaft mit der Mafia angeklagte, aber mangels Beweisen freigesprochene mehrmalige Ministerpräsident Giulio Andreotti. [7]


Foto: White House photo by Robert Moore [Public domain] via Wikimedia Commons

Giulio Andreotti, hier als italienischer Ministerpräsident am 17. April 1973 zu Gast bei US-Präsident Richard Nixon
Foto: White House photo by Robert Moore [Public domain] via Wikimedia Commons

Zur Rolle der P2 schätzte der Politologe Giorgio Galli ein: "Anfang der siebziger Jahre wird das Ausmaß der Macht der P2 in Umrissen bekannt, als unter Richtern und Journalisten im Flüsterton davon gesprochen wurde, die Initiale des 'Signor P', der als Auftraggeber des Massakers auf der Piazza Fontana galt, bezeichne nicht eine Einzelperson (...), sondern eine Organisation 'P', die des 'Meisters vom Stuhl' nämlich." Obwohl die Untersuchungsergebnisse, wie Galli schrieb, bei den Terrorakten "klar in Richtung Geheimloge P2" wiesen, wurden sie unterdrückt, manipuliert, Linke vor Gericht gezerrt, Mitwisser beseitigt".


2400 Attentate, Hunderte Tote

Im Ergebnis der Spannungsstrategie kam es zu einer von Monat zu Monat, von Jahr zu Jahr sich steigernden Zahl von Attentaten, die das ganze Land erfassten und oft auf Massenmord zielten. Von 150 Anschlägen 1969 stieg ihre Zahl auf fast 2400 im Jahr 1978 an. In dieser Zeit kamen Hunderte von Menschen ums Leben, wurden Tausende verletzt. Zwischen 1969 und 1984 forderte der von den Neofaschisten entfesselte Terror allein in der "Roten Emilia" 140 Tote und ein vielfaches mehr an Verletzten. 85 Tote und über 200 Verletzte gab es bei nur einem Attentat auf dem Hauptbahnhof in Bologna im August 1980.

Die Spannungsstrategie blieb und bleibt nicht auf Italien beschränkt. Sie wurde schon 1967 bei der Installierung des faschistischen Regimes der Obristen in Griechenland praktiziert, danach in Chile beim Sturz des sozialistischen Präsidenten Salvatore Allende durch den Militärputsch Pinochets (Centauro-Plan). 2002 befasste sich eine Konferenz der Associazione Ricreativa Culturale (ARCI) im norditalienischen Bretonico mit der Umsetzung italienischer Erfahrungen in der Spannungsstrategie der CIA bei den Anschlägen am 11. September 2001 in New York (auf der Professor Siegfried Prokop zur RAF in der BRD und der Autor zur Rolle der CIA und der Brigate Rosse die Hauptreferate hielten - jW, 28./29. September 2002). Nach diesem Konzept halten die USA die Fäden beim so genannten Kampf gegen den "Staatsterrorismus" im Nahen Osten, so bei der Formierung des "Islamischen Staates" (IS) oder jüngst bei den Angriffen auf Öl-Lager in Saudi-Arabien in der Hand. Aus der Fülle der darüber vorliegenden Publikationen seien erwähnt: Arnold Schölzel: Das Schweigekartell. Fragen & Widersprüche zum 11. September. Berlin 2002, Jean-Charles Brisard/Guillaume Dasquié: Die verbotene Wahrheit. Zürich/München 2002.


Fußnoten:

[1] Luciano Lanza: Bomben und Geheimnisse - Die Geschichte des Massakers von der Piazza Fontana, Hamburg 1998, S. 9.

[2] Harald Irnberger: Die Terrormultis, Wien, München 1976, S. 203.

[3] Gisela Wenzel: KLassenkämpfe und Repression in Italien. Am Beispiel Valpreda, Hamburg 1973, S. 30.

[4] Auszüge in Europeo, 27. Oktober 1978.

[5] Antonio e Gianni Cipriano: Sovranita limitata. Storia dell Eversione atlantica in Italia. Rom 1991, S. 201 f.

[6] Giovanni Marie Bellu/Giuseppe D'Avanzo: I Giorni di Gladio, Rom 1991, S. 155 ff.

[7] Giorgio Galli: Staatsgeschäfte, Affären, Skandale, Verschwörungen. Das unterirdische Italien 1943-1990, Hamburg 1994, S. 216

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Quelle:
© 2019 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Dezember 2019

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