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MEMORIAL/209: Gedenken an die sowjetischen Opfer und Kriegsgefangenen in Stukenbrock (Rolf Becker)


Stukenbrock, Stalag 326

Redebeitrag von Rolf Becker anläßlich des Antikriegstags auf der Mahn- und Gedenkveranstaltung am 7. September 2019 auf dem Sowjetischen Soldatenfriedhof in Stukenbrock


Dank Ihnen und Euch, Dank allen im Arbeitskreis "Blumen für Stukenbrock" für die jahrzehntelange Arbeit zur Entwicklung und zum Erhalt dieser Gedenkstätte, Dank, dass ich hier bei Euch und mit Euch sein darf - in gemeinsamer Teilnahme und Sorge.

Teilnahme im Gedenken an die Tausende sowjetischer Kriegsgefangener, die hier gelitten haben, bevor sie starben - an Hunger, Kälte, Krankheiten, durch Misshandlung, Folter, Totschlag, Erschießen.

Sorge, weil ein weiterer Krieg, der die Unermesslichkeit des in den zwei Weltkriegen Erlittenen noch zu übersteigen droht - Folge auch der Tatsache, dass sich die deutschen Nachkriegsregierungen einer konsequenten Aufarbeitung des vermeintlich Vergangenen verweigert haben und bis heute verweigern.

Mit Christa Wolf: "Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd."


Foto: Athde [CC0] via Wikimedia Commons

Obelisk auf dem sowjetischen Ehrenfriedhof in Stukenbrock
Foto: Athde [CC0] via Wikimedia Commons

So wie bei diesem Obelisk mit dem Abtrennen und Ersetzen der sowjetischen Fahne durch das orthodoxe Kreuz. Ich habe nichts gegen Kreuze und Zeichen jeglicher Religion, aber gegen Verfälschung des Gedenkens, gegen die Missachtung der Mahnung der wenigen, die das Leiden in diesem Todeslager überlebten - die mit diesem Obelisken nicht nur der Vielzahl ihrer umgekommenen Mitgefangenen ein ehrendes Zeichen gegeben haben, sondern zugleich uns, als Nachgeborenen den Auftrag, unser Denken und Handeln so einzurichten, dass sich staatlich verordnete Verbrechen wie in den Jahren faschistischer Herrschaft in Deutschland nicht nochmals ereignen können.

Arno Klönne, der das Lager seit 1941 kannte, als die ersten sowjetischen Kriegsgefangenen hier eintrafen, und durch den ich vor Jahren erstmals von der Existenz dieses Lagers erfuhr, bestand bis zu seinem Tod darauf, der aus Glas gefertigten Flagge der Sowjetunion ihren ursprünglichen Platz zurückzugeben:

"Denkmalschutz müsste bedeuten, dass ein Symbol der Erinnerung die Form behält, für die sich jene Menschen entschieden hatten, aus deren Lebensgeschichte es hervorging. Alles andere wäre Verfälschung von Geschichte."

Ich schließe mich der Forderung von Arno Klönne und allen, die sich seit Jahren um die Wiederherstellung des Obelisken in seiner ursprünglichen Form bemühen, ausdrücklich an - verbunden zum einen mit dem Hinweis, dass die sowjetische Fahne seit einem Vierteljahrhundert nur noch Erinnerung, Historie ist, andererseits mit dem Bekenntnis zu ihrem Rot - mit Pablo Neruda: "Tropfen für Tropfen aus Blut".

Blut - im zurückliegenden Krieg, an dessen Beginn am 1. September 1939 wir nach 80 Jahren hierzulande friedlich verlaufener Zeit erinnern, haben mehr als 60 Millionen Menschen ihr Leben verloren. Oder waren es 65 Millionen, oder noch mehr? Das Leben des Einzelnen zählt nicht im Krieg. Wir wissen weder die Gesamtzahl der Kriegstoten noch die genaue Zahl der "geschätzt" 65.000 sowjetischen Kriegsgefangenen, die hier unter der Erde liegen - ein Teil der "geschätzt" 3,3 Millionen von 5,7 Millionen sowjetischen Soldaten insgesamt, nur jeder Dritte von ihnen überlebte die Gefangenschaft. Umso mehr berühren die wenigen, in kyrillischen Lettern geschriebenen Namen auf einigen Grabsteinen - Dmitrij, Wassilij, Konstantin, Wladimir, Michail, Maxim, Pawel, Pjotr, Igor, Iwan - Anastasia, Maria, Nina, Irina, Galina, Vera, Anna - oder auch nur "Unbekannter Soldat". Heinrich Heine: "Ist das Leben des Individuums nicht vielleicht eben so viel wert wie das des ganzen Geschlechtes? Denn jeder einzelne Mensch ist schon eine Welt, die mit ihm geboren wird und mit ihm stirbt, unter jedem Grabstein liegt eine Weltgeschichte".

Jede und jeder der Genannten hatte zu Hause im fernen Russland Familie, Eltern, Großeltern, Geschwister, vielleicht auch Kinder: zum Leid der hier Umgekommenen kam das Leiden von Angehörigen, Freundinnen und Freunden.

Als am 4. August 1943 mein Vater - von der West- an die Ostfront versetzt - bei den Panzerschlachten im Kursker Bogen bei Tomarowka fiel, hatte er am Vorabend die Nachricht von der Geburt seines jüngsten Sohnes erhalten - die erste Nachricht von seinem Tod erreichte unsere Familie in Form eines Briefes, auf dem seine Feldpostnummer durchgestrichen und durch den Vermerk ersetzt war: "An Absender zurück - gefallen für Großdeutschland".

Immerhin noch ein Brief, der die offizielle Todesmeldung folgte - über die Mehrzahl der hier Verscharrten wird es vermutlich nie eine Nachricht an die Hinterbliebenen gegeben haben.

Wenige Monate vor seinem Tod war mein Vater zum letzten Mal bei uns auf dem kleinen Bauernhof in Schleswig-Holstein. Unvergesslich für mich, als er kurz nach der Begrüßung zu meiner Mutter sagte, "mein Kind, wir haben den Krieg verloren", und kurz darauf, von meiner Mutter später oft zitiert: wir könnten nach allem, was von der deutschen Wehrmacht im Osten angerichtet worden sei, von Glück sagen, wenn bei der Kriegsniederlage auch nur einer von uns überlebe.

Auf unserem Hof halfen damals wie bei den übrigen Bauern im Dorf Kriegsgefangene - Dubois aus Frankreich und Anton aus der Sowjetunion. Die wehrfähigen Männer waren fast alle "im Feld", an einer der vielen Fronten des 3. Reiches, die anfallenden Arbeiten, auch in der Landwirtschaft, wurden überwiegend von Frauen gemacht und angeleitet. In den ersten Kriegsjahren hatte es an Hilfskräften gemangelt - erst das Scheitern des "Blitzkrieges" gegen Russland bewirkte, dass sowjetische Kriegsgefangene, die bis dahin in Lagern verhungerten, an Seuchen starben, "durch Arbeit vernichtet" oder ermordet wurden, nach dem Führerbefehl vom 31. Oktober 1941 notdürftig verpflegt und in Industrie, Landwirtschaft, Verkehrswesen usw. eingesetzt wurden.

Bleibende Erinnerung: das Schuldbewusstsein meines von den Eindrücken während des Russlandfeldzuges geschockten Vaters, des hochrangigen deutschen Offiziers, und der sowjetische Kriegsgefangene Anton, der fern seiner Heimat für den Gegner seines Landes arbeiten musste.

Nach dem Tod meines Vaters im August 1943 ein Vorfall, der unser Dorf bis zum Ableben meiner Mutter 1978 beschäftigt hat: Meine Mutter hatte zu später Stunde, als Anton nicht auf den Hof zurückkehrte, auf der Suche nach ihm - sie vermutete eine Verabredung mit anderen Gefangenen im Dorf - wahrgenommen, dass Angehörige der NSDAP-Ortsgruppenleitung, stark angetrunken, in einem abgelegenen Schuppen mehrere sowjetische Gefangene mit Holzlatten zusammenschlugen, und war dazwischen gegangen.

Folge: sie wurde an einem der nächsten Tage von der Gestapo abgeholt und nach Rendsburg gebracht; kehrte aber nach drei Tagen zurück - sie sei von einem Offizier verhört worden, der zum einen berücksichtigte, dass ihr Mann kurz zuvor an der Ostfront gefallen war, zum anderen ihrem Argument nicht widersprach, dass durch die Misshandlung von Kriegsgefangenen die Versorgung an den Fronten verschlechtert werde.

Zudem habe sie, wie ihr Mann an der Front, auf die "Haager Landkriegsordnung" und die "Genfer Konvention" hingewiesen, nach der "kriegsgefangen" einen völkerrechtlichen Status darstelle, der auch für das Deutschland des 3. Reiches gelte. Sie hatte Glück - der Gestapo-Offizier orientierte sich nicht an Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel, der die völkerrechtlichen Vereinbarungen für Soldaten der Roten Armee nicht gelten ließ: "Die Bedenken entsprechen den soldatischen Auffassungen vom ritterlichen Krieg! Hier handelt es sich um die Vernichtung einer Weltanschauung!"

Keitels Äußerungen wurden auf Anweisung der für unsere Gegend zuständigen Gestapo im Hinblick auch auf die sich seit Stalingrad verschlechternde Lage an den Fronten nicht umgesetzt - in unserem Dorf gab es seitdem keine Vorfälle der geschilderten Art mehr. Anton kehrte unversehrt in seine Heimat zurück - allerdings verunsichert, weil er weder wusste, ob es diese Heimat im Russland der "verbrannten Erde" noch gab, und zudem fürchtete, wegen seiner Arbeit in Deutschland missachtet oder bestraft zu werden.

Erst viele Jahre nach dem Krieg wurde öffentlich, dass die sowjetischen Kriegsgefangenen nach der jüdischen Bevölkerung die zweitgrößte Opfergruppe nationalsozialistischer Vernichtungspolitik darstellen. Einblick in ihr Schicksal verdanke ich neben Arno Klönne und seinem Paderborner Freundeskreis dem Hamburger Historiker und Regisseur Hannes Heer, der mich an der Eröffnung seiner Ausstellung »Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941-1945« beteiligte. Zutiefst berührt, wie dieser Ort mit seinen Gräberfeldern, hat mich mein erster Besuch in einem vergleichbaren Lager, in Gudendorf, nicht weit von unserem Hof, nahe der Nordseeküste im südlichen Schleswig-Holstein, wo - wieder geschätzt und zugleich umstritten - 3000 sowjetische Kriegsgefangene in Massengräbern liegen. Seitdem und durch zahlreiche weitere Untersuchungen und Publikationen, durch Gedenkveranstaltungen wie hier, Kundgebungen, Aufrufe, Demonstrationen und persönliche Begegnungen wissen inzwischen viele, was wirklich geschah, wenn auch immer noch zu wenige, vor allem unter Schülern und Jugendlichen. Die Jahre des "organisierten Vergessens" in Nachkriegszeit und den ersten zwei Jahrzehnten der Bundesrepublik wirken bis heute nach.

Wir wissen heute, dass schon vor Kriegsbeginn im sogenannten "Hungerplan" der Massentod sowjetischer Soldaten einkalkuliert war. Wissen, dass unterschieden wurde zwischen arbeitsfähigen sowjetischen Kriegsgefangenen, die am Leben bleiben sollten, und nichtarbeitsfähigen, verwundeten oder erkrankten Gefangenen, die getötet wurden, wissen, dass etwa 140.000 sowjetische Kriegsgefangene als "politisch Untragbare" zur Ermordung an Sicherheitspolizei und SS übergeben wurden, wissen, dass am 2. Mai 1941 eine Besprechung stattfand, an der Vertreter aus Wehrmacht und Wirtschaft teilnahmen und deren Ergebnis lautete: "Der Krieg ist nur weiter zu führen, wenn die gesamte Wehrmacht im 3. Kriegsjahr aus Russland ernährt wird. Hierbei werden zweifellos zig Millionen Menschen verhungern, wenn von uns das für uns Notwendige aus dem Lande herausgeholt wird."

Und heute? Mit meinem Anliegen als Konsequenz dessen, was ich seit meiner Kindheit erlebt habe, alles zu tun, um den uns Nachfolgenden Vergleichbares zu ersparen, scheine ich gescheitert: erneut wird gegen Russland und die angeblich aggressive Führung der Russischen Föderation unter Wladimir Putin seitens Regierung und Medien mobilisiert. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier vor wenigen Tagen bei der Gedenkveranstaltung zum 80. Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkriegs in Warschau:

"Wir alle blicken an diesem Jahrestag mit Dankbarkeit auf Amerika. Die Macht seiner Armeen hat - gemeinsam mit den Verbündeten im Westen und im Osten - den Nationalsozialismus niedergerungen. Und die Macht von Amerikas Ideen und Werten, seine Weitsicht, seine Großzügigkeit haben diesem Kontinent eine andere, eine bessere Zukunft eröffnet. Herr Vizepräsident, das ist die Größe Amerikas, die wir Europäer bewundern und der wir verbunden sind."

Kein Wort über Russland oder die Sowjetunion, zur unumstößlichen Tatsache, dass es die Rote Armee war, deren Opfern wir hier gedenken, die den kriegsentscheidenden Beitrag zur Niederschlagung des deutschen Faschismus geleistet hat. Stattdessen die Bekräftigung der "transatlantischen Freundschaft" mit einer Nato, die erneut zum Angriff auf Russland und China rüstet, auf alle Länder, die auf ihrer Unabhängigkeit bestehen.

Oder geht es vielleicht der vom Bundespräsidenten gepriesenen US-Regierung zur Sicherung ihrer Wirtschaft um die Ausschaltung eines ihrer beiden größten Konkurrenten, China und Europa? Ein Krieg gegen Russland würde hier bei uns ausgetragen werden. Die möglichen Folgen fürchten nicht nur wir, auch namhafte Vertreter konservativer Politik wie Willy Wimmer, vor Jahren verteidigungspolitischer Sprecher der CDU/CSU.

Der Ausweg - ich weiß ihn so wenig wie Ihr, kann nur einige Überlegungen aufgrund meiner Arbeit im Kreis politisch aktiver KollegInnen in Betrieben und Gewerkschaften beitragen.

1. Grundlage kapitalistischer Herrschaft: die Konkurrenz der Arbeitenden unter sich. Ohne sie könnten die Herrschenden nicht herrschen. Diese Konkurrenz untereinander gilt es zu überwinden, wenn wir aus der gegenwärtigen Entwicklung in unseren Ländern einen Ausweg finden wollen.

Mit Bertolt Brecht: "Die große Wahrheit unseres Zeitalters (mit deren Erkenntnis noch nicht gedient ist, ohne deren Erkenntnis aber keine andere Wahrheit von Belang gefunden werden kann) ist es, dass unser Erdteil in Barbarei versinkt, weil die Eigentumsverhältnisse an den Produktionsmitteln mit Gewalt festgehalten werden. Was nützt es da, etwas Mutiges zu schreiben, aus dem hervorgeht, dass der Zustand, in den wir versinken, ein barbarischer ist (was wahr ist), wenn nicht klar ist, warum wir in diesen Zustand geraten? Wir müssen sagen, dass gefoltert wird, weil die Eigentumsverhältnisse bleiben sollen. Freilich, wenn wir dies sagen, verlieren wir viele Freunde, die gegen das Foltern sind, weil sie glauben, die Eigentumsverhältnisse könnten auch ohne Foltern aufrechterhalten bleiben (was unwahr ist). Wir müssen die Wahrheit über die barbarischen Zustände in unserem Land sagen, dass das getan werden kann, was sie zum Verschwinden bringt, nämlich das, wodurch die Eigentumsverhältnisse geändert werden."
(Aus: "Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit", 1935) 

2. Kleinarbeit! Eine Aussage wird nur zur Wahrheit, wenn wir für sie eintreten, uns beteiligen an Konflikten, im Lande oder außerhalb: in der Flüchtlingsfrage (die Toten im Mittelmeer), bei Streiks, beim Wohnungsproblem, sozialer Versorgung, Gesundheitswesen, Umwelt, und, und, und... vor allem am Widerstand gegen fortschreitende Aufrüstung und Rüstungsexporte, jeden Ansatz von Nationalismus, Rassismus und Faschismus -

Mit Erich Fried:

"Nur eines weiß ich:
Morgen wird keiner von uns leben bleiben
wenn wir heute wieder nichts tun."

Und Maxim Gorki:

"Die Kinder gehen in die Welt - über die ganze Erde, alle, von überall her, demselben Ziel entgegen.

Sie ziehen aus, um die Lüge zu zertreten, das soziale Leid zu besiegen, das Elend dieser Erde zu beseitigen.

Sie entzünden eine neue Sonne, hat mir einer gesagt, und das werden sie tun.

Die Erde hat sie geboren und das Leben will ihren Sieg. ln Wahrheit seid Ihr alle Genossen, alle, denn alle seid Ihr Kinder einer Mutter - der Wahrheit."

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Quelle:
© 2019 by Rolf Becker
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 11. September 2019

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