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MEMORIAL/196: Vietnam 1789 - Bauernheer schlägt ins Land eingefallene Mandschu-Dynastie (Gerhard Feldbauer)


Im Januar 1789 siegte ein vietnamesisches Bauernheer in der Schlacht bei Hanoi über die ins Land eingefallene Dynastie der Mandschu (1644-1911/12)

Sie war der Höhepunkt des Tay Son-Aufstandes der frühbürgerlichen Revolution

von Gerhard Feldbauer, 30. Januar 2019



Abbildung: Hoàng Mat Sat [Public domain], via Wikimedia Commons

Zeitgenössische Darstellung - ob sie tatsächlich den vietnamesischen Revolutionsführer Nguyen Hue auf dem Weg nach Peking zeigt, gilt als umstritten
Abbildung: Hoàng Mat Sat [Public domain], via Wikimedia Commons

Weitläufig ist noch die Meinung verbreitet, die Länder, welche die kapitalistischen Staaten im 19. Jahrhundert ihrem Kolonialjoch unterwarfen, hätten im Zustand sozialökonomischer Zurückgebliebenheit und unter mittelalterlichen Feudalverhältnissen existiert. Ganz zu schweigen von der Kolonialpropaganda, den Völkern der so unterjochten Staaten seien bürgerlicher Fortschritt und Zivilisation vermittelt worden. Vietnam widerlegt derartige reaktionäre Standpunkte in besonderer Weise. Das Land befand sich an der Schwelle zu einer zwar etwas verspäteten, aber entwicklungsfähigen Etappe einer bürgerlichen Gesellschaft.

Davon zeugte ein 17 Jahre vor dem Pariser Sturm auf die Bastille einsetzender Bauernaufstand, der ausgeprägte Züge einer frühbürgerlichen Revolution aufwies. Die Erhebung erhielt ihren Namen nach den Bergen im westlichen Zentralvietnam, wo sie begann. An der Spitze der revolutionären Kämpfe standen die drei Brüder Nguyen (van Nhac, van Lu und Hue). Ihren Höhepunkt erreichte diese Revolution sechs Monate, bevor das Volk von Paris 1789 die französische Revolution begann. Im Januar dieses Jahres siegte bei Hanoi ein 100.000 Mann starkes Bauernheer über eine doppelt so viel Soldaten zählende Armee der zu dieser Zeit in China herrschenden Qing-Dynastie der Mandschu (1644-1911/12). Wie später in Frankreich hatten die im Tay Son-Aufstand gestürzten vietnamesischen Feudalherren die ausländischen Invasoren zu Hilfe gerufen. Der Sieg des Bauernheeres 1789 zählt bis heute zu den militärischen Traditionen des nationalen Befreiungskampfes Vietnams. [1]

Beiden Ereignissen, die in weit voneinander entfernt liegenden Ländern stattfanden, war ein grundsätzlicher historischer Prozess gemeinsam. Die Tage der Feudalherrschaft waren gezählt. Auf der Tagesordnung der Geschichte stand die Geburt des Kapitals. Und das, obwohl in Vietnam, wie in anderen Ländern Asiens auch, die Entwicklung der neuen Produktivkräfte, die im Schoß der alten Gesellschaft heranwuchsen, hinter der in europäischen Ländern zurückgeblieben war. Das Feudalsystem war von einer tiefen Krise erfasst. Feudalherren, Mandarine und Notabeln raubten den Bauern den letzten Boden und stürzten sie immer tiefer ins Elend. Die bäuerlichen Wirtschaften, Handwerk und Gewerbe stagnierten, die sich entwickelnde Handelsbourgeoisie konnte sich nicht entfalten.

Boston Tea-Party in Saigon

Unter diesen Bedingungen entfaltete sich der Aufstand zu einer großen, das ganze Land erfassenden Bauernerhebung, in der Kreise der jungen Handelsbourgeoisie, des Handwerks und Gewerbes eine wichtige Rolle spielten und an der Vertreter der Religionen des Buddhismus und Taoismus teilnahmen. Die Brüder Nguyen entstammten selbst der Handelsbourgeoisie. 1776 nahmen die Aufständischen Saigon ein. Eine der ersten Maßnahmen der Nguyen war, dass sie die dort lagernden Waren der chinesischen Händler ins Meer werfen ließen - ein recht sicherer Beweis für die Wahrnehmung der Interessen der eigenen Kaufleute. Erinnert sei daran, dass es fast zur gleichen Zeit in Boston zu ähnlichen Ereignissen kam: Die Amerikaner warfen dort englischen Tee in den Ozean - was unter dem Namen Boston-Tea-Party in die Geschichte einging. Für die Rolle der Handelsbourgeoisie spricht auch eine andere historische Parallele. Ähnlich wie die Korsaren unter der britischen Königin Elisabeth verbanden vietnamesische Kapitäne mit Billigung und auch regelrechten Patenten der Tay Son ihre Handelsfahrten mit einträglicher Piraterie. In Peking klagte man in dieser Zeit immer wieder darüber, daß die vietnamesische Flotte die Küsten Südchinas ansteuere und plündere.


Foto: Ba_anh_em_nhà_hPG: The original uploader was Liftold at Vietnamese Wikipedia.derivative work: Phó Nháy [CC BY-SA 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)], via Wikimedia Commons

Bronzestatue der Tay-Son-Brüder Nguyen Nhac, Nguyen Lu und Nguyen Hue
Foto: Ba_anh_em_nhà_hPG: The original uploader was Liftold at Vietnamese Wikipedia.derivative work: Phó Nháy [CC BY-SA 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)], via Wikimedia Commons

Die entscheidende revolutionäre Maßnahme der Nguyen war jedoch, dass sie die Ländereien der geflüchteten und mit ausländischen Feinden kollaborierenden Feudalherren konfiszierten und den Gemeinden mit der Verfügung übergaben, sie vor allem armen Bauern zur Nutzung zu überlassen. Damit machten sie die Massen der Bauern zur maßgeblichen Basis ihrer Herrschaft. Ebenso bedeutend waren weitere in der Wirtschaft, im Staatswesen, der Kultur und Bildung begonnene Reformen, die einen großen Schritt vorwärts auf dem Weg der Formierung der vietnamesischen Nation darstellten und dem Aufstand seinen Charakter als einer frühbürgerlichen Revolution verliehen.

Im Norden begann die Rohstoffförderung in über 100 Bergwerken, wurden Werkstätten für Waffen errichtet, entstanden Papiermühlen und Druckereien. In großen industriellen und kaufmännischen Zentren in Hanoi, Saigon, Bien Hoa und Fai Fo setzten Vorstufen der kapitalistischen Produktion auf der Grundlage der freien Lohnarbeit ein. Grundlage dafür war die Einführung einer einheitlichen nationalen Währung, die im Volk noch lange nach dem Ende der Tay Son-Herrschaft "Sapeke der Rebellen" genannt wurde.

Der geistig-kulturellen Werdegang der Nation erhielt Auftrieb durch die Einführung des Vietnamesischen als Amtssprache an Stelle des aus der Besatzungszeit gültigen Chinesisch. Eine Bildungsreform sah u. a. vor, in jedem Dorf eine Schule zu errichten. Auch das vietnamesische National-Epos "Thuy Kiêu" (Das Mädchen Kiêu), von Nguyên Du, das erst nach der Tay Son-Herrschaft erschien, spiegelte deren großen Einfluss auf die kulturelle Entfaltung der Nation wider. [2] 1799 wurde ein "Historisches Amt" geschaffen, das den Auftrag erhielt, eine große Nationalgeschichte zu schreiben. Herausragend schließlich die politische Forderung nach "Gleichheit aller Bewohner" des Landes und "Gleichheit in allen Dingen", worunter soziale Gerechtigkeit zu verstehen war. Die Tay Son traten der konterrevolutionären Propaganda der Feudalherren, die sie als "Räuber" und "Banditen" verketzerten, entgegen und verkündeten, dass sie keine "Räuber", sondern "Sendboten des Himmels, die der Gerechtigkeit zum Sieg verhelfen und das Volk von der Tyrannei des Königs und seiner Mandarine befreien", seien. Unter dem Volk aber, das die Verlogenheit der Feudalherren kannte, nannte man die Brüder Nguyen "tugendhafte und dem armen Volk gegenüber barmherzige Räuber".

Außergewöhnliche Leistungen vollbrachten die Tay Son auf militärischem Gebiet. Nachdem das Feudalregime von den Aufständischen im Süden geschlagen worden war, rief es die thailändischen Feudalherrscher zu Hilfe. 1784 drang ein 50.000 Mann zählendes siamesisches Heer mit 300 Kriegsschiffen auf dem Mekong in Südvietnam ein. Auf dem My Tho, einem Nebenarm des Mekong, wurde die Armada im selben Jahr vernichtend geschlagen. 1788 folgte der Einfall eines 200.000 Mann zählenden Heeres der Qing in Nordvietnam, das Hanoi besetzte. Nguyen Hue, der das militärische Kommando führte, ließ sich "um der Einigung der Nation willen", wie es in den Chroniken heißt, im Dezember 1788 vor dem Bauernheer unter dem Namen Quang Trung zum Kaiser des Reiches proklamieren. Dann brach das 100.000 Kämpfer zählende Volksheer auf. Bei Thanh Hoa meldeten die Vorausabteilungen, dass der Gegner noch bei Hanoi verharrte. Auch die Qing-Truppen waren durch ihre Späher vom Eintreffen der vietnamesischen Armee bei Thanh Hoa informiert.


Abbildung: Qing's official painter [Public domain], via Wikimedia Commons

Chinas Kaiser Qianlong empfängt den Friedensgesandten von Nguyen Hue in Peking
Abbildung: Qing's official painter [Public domain], via Wikimedia Commons

Die Schlacht bei Hanoi

Um den moralischen Faktor einer Schlacht zur Befreiung der Hauptstadt zu nutzen, entschloss sich Nguyen Hue, die feindliche Armee noch bei Hanoi anzugreifen. In sechs Tagen führte er seine Truppen mit Elefantenreiterei über eine Entfernung von fast 200 km vor die Tore der Hauptstadt. Da er hinter jedem Reiter zu Pferd noch einen Soldaten des Fußvolkes aufsitzen ließ, erreichte er Hanoi für den Gegner völlig überraschend nicht nur früher als erwartet, sondern auch in voller Stärke. Der Marsch war eine für den damaligen Stand der Kriegskunst in Asien beispiellose Leistung. Im Januar 1789 kam es zur Schlacht. Den Überraschungsmoment ausnutzend stellte das Bauernheer die noch nicht zum Kampf formierten Mongolen zu unterschiedlichen Zeiten an drei verschiedenen Orten vor der Hauptstadt zum Kampf und schlug sie in die Flucht. Die Niederlage war so verheerend, dass der Hof von Peking Frieden schloss und die Tay Son anerkannte.

Nach der Verteidigung der nationalen Unabhängigkeit erließ Quang Trung folgende Proklamation an das Volk: "Ihr alle, ob mächtig oder gering, lebt seit mehr als zwanzig Jahren dank uns, der Brüder Tay Son, und unserer Wohltaten. Wir wissen aber auch, dass wir unsere Siege in Nord und Süd der Hilfe des Volkes unserer Provinzen verdanken. In ihm haben wir tapfere Männer und fähige Beamte gefunden, so dass wir unseren Hofstaat gründen konnten. Überall, wo unsere Waffen waren, hielten die Feinde nicht stand."

Die Herrschaft der Tay Son währte fast 30 Jahre, von 1773 bis 1802. Diese frühbürgerliche Revolution scheiterte letztlich, weil die Bauern zwar ihre entscheidende Massenbasis bildeten, auf Grund ihrer sozialen Lage und Perspektive aber nicht ihre führende Kraft werden konnten. Kleinbürgertum und Handelsbourgeoisie, aus deren Reihen in Gestalt der Brüder Nguyen die Führer der Revolution hervorgingen, erwiesen sich insgesamt nicht fähig, diese Aufgabe auszufüllen. In diese Rolle hätten sie hineinwachsen können, wenn zwei der drei Brüder nicht frühzeitig verstorben wären (Hue 1792, Nhac ein Jahr später), was über die Rolle von Persönlichkeiten in historischen Prozessen bzw. der Konsequenzen ihres Fehlens nachdenken lässt. Nachfolger vom Format der verstorbenen Führer, besonders was deren volksverbundenen Charakter betraf, gab es nicht.


Abbildung: PHGCOM [CC BY-SA 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0) or GFDL (http://www.gnu.org/copyleft/fdl.html)], via Wikimedia Commons

Kronprinz Canh 1787 in Frankreich
Abbildung: PHGCOM [CC BY-SA 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0) or GFDL (http://www.gnu.org/copyleft/fdl.html)], via Wikimedia Commons

Hinzu kam, dass die Feudalreaktion aus Frankreich Hilfe erhielt. Sie ging von kirchlichen Würdenträgern aus, die, wie in anderen Ländern auch, zu Wegbereitern der kolonialen Eroberung wurden. Mit der Annahme dieser Unterstützung bereitete die Feudalmacht indessen ihrer eigenen kolonialen Unterwerfung den Boden. Organisator dieser konterrevolutionären Aktivitäten war zu dieser Zeit der einflussreiche Missionar Pigneau de Béhaine, der 1775 den Prinzen Canh, Sohn des gestürzten Nguyen Anh, mit nach Versailles nahm und mit ihm zwei Jahre später ein Abkommen über französische Hilfe gegen die Gewährung von, wie es zurückhaltend, aber mit den weitreichenden vertragsrechtlichen Konsequenzen dieser Zeit formuliert wurde, "Handelsvorteilen" schloss.

Mit Hilfe der französischen Konterrevolution

Auf dieser Grundlage stellte Béhaine 1790 eine "Freiwilligenexpedition" aus adligen Emigranten, Abenteurern und Deserteuren zusammen, die man "zweifellos ohne viel Federlesens an die Wand gestellt (hätte), wenn sie den Behörden des republikanischen Frankreich in die Hände gefallen wären", schrieb der französische Historiker Jean Chesneaux. [3] In Vietnam angekommen, rüstet Béhaines Söldnerhaufen für Nguyen Anh nach überlegenen europäischen militärischen Grundsätzen eine Flotte aus und stellt eine neue Armee zum Kampf gegen die Tay Son auf. Der Nguyen-Dynastie gelingt so die Entmachtung der Tay Son, deren Niederlage 1802 mit der Einnahme Hanois besiegelt wird. Danach wird Vietnam nochmals bis zur einsetzenden kolonialen Eroberung durch Frankreich Lehensstaat der Mandschu-Kaiser.

1804 überläßt der neue Herrscher der Nguyen-Dynastie, Gia Long, Frankreich die Insel Pulo und einen Küstenstreifen in Mittelvietnam, den Paris tatkräftig zur Vorbereitung der kolonialen Eroberung nutzt. Am 31. August 1858 überfällt ein französisches Geschwader unter dem fadenscheinigen Vorwand, französische Missionare zu schützen, die Hafenstadt Da Nang und setzt Truppen an Land. Die koloniale Eroberung Vietnams beginnt. Die zivilisatorisch fortschrittliche Entwicklung Vietnams wird ein Jahrhundert lang unterbrochen. Die französische Großbourgeoisie, die inzwischen die Ideale von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit über Bord geworfen hat, ist Béhaine dankbar und lässt ihm in der alten Kaiserstadt Hue eine "würdevolle Grabstätte" errichten.


Abbildung: Jean-Jacques-François Le Barbier [Public domain]

Kolonialmacht mit humanistischer Attitüde - Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte 1789 im "revolutionären" Frankreich
Abbildung: Jean-Jacques-François Le Barbier [Public domain]



Fußnoten:

[1] Siehe die unter dem Titel "Nos Traditions militaires" 1978 in Hanoi erschienene Publikation.

[2] Es erschien ins Deutsche übertragen von Irene und Franz Faber 1964 bei Rütten & Loening, Berlin/DDR 1964. Das Schriftstellerehepaar arbeitete mehrere Jahre für die Nachrichteagentur ADN in Hanoi.

[3] Jean Chesneaux: Geschichte Vietnams. Berlin/DDR 1983, S. 69.

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Quelle:
© 2019 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Februar 2019

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