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MEMORIAL/153: Historische Wurzeln des heutigen Expansionsdrangs des italienischen Großkapitals (Gerhard Feldbauer)


Historische Wurzeln des heutigen Expansionsdrangs des italienischen Großkapitals

Die Eroberung Tripolitaniens und der Kyrenaika 1911

Von Gerhard Feldbauer, 22. September 2016


Der italienische Imperialismus nimmt am gegenwärtigen weltweiten Kampf um Einflusssphären, Rohstoffquellen und Absatzmärkte aktiv teil. In den vergangenen 25 Jahren hat er sich im Rahmen von UNO-, NATO-, EU- und anderen internationalen Rahmen an über 40 Militäreinsätzen beteiligt. Nicht mitgerechnet sind dabei die Entsendung von Beobachtermissionen und Militärberatern. Herausragend waren die Teilnahme am NATO-Überfall auf Jugoslawien, die Einsätze in Afghanistan und Irak. Letzterer wurde 2006 von der Mitte-Links-Regierung beendet. Wie jüngst bei der Begründung des militärischen Engagements in Libyen heben die führenden Interessenvertreter des Kapitals, darunter auch die gegenwärtige sozialdemokratische Partito Democratico (PD) unter Premier Matteo Renzi, die Rolle Italiens und seiner Erfahrungen schon bei der "Zivilisierungsmissionen" genannten kolonialen Aufteilung vor dem Ersten Weltkrieg hervor.

Zum Ende des 19. Jahrhunderts suchte das italienische Großkapital den Ausbruch aus seiner "Gefangenschaft im Mittelmeer", dessen Ausgänge andere Großmächte besetzt hielten. Die Straße von Gibraltar kontrollierten die Engländer, zusammen mit Frankreich desgleichen den Suezkanal. Die Dardanellen überwachten die Türken. Um sich ein Sprungbrett für eine expansive Mittelmeerpolitik zu schaffen, wollte Rom vor allem an der nordafrikanischen Küste Fuß fassen. Es liebäugelte mit dem von der Türkei beherrschten Tunis, der "alten römischen Provinz Karthago".

Auf der Berliner Konferenz 1878 konnte Italien seine Ansprüche auf türkische Gebiete jedoch nicht durchsetzen. Es versuchte, über eine Konzession für den Bau einer Eisenbahnlinie nach Tunis zum Ziel zu kommen, zog aber gegenüber der französische Baugesellschaft Batignol den Kürzeren. Diese setzte über ihre algerische Tochtergesellschaft Compagnie de Bône-Guelma die Rechte für den Bau einer Strecke von Souk el Arba nach Tunis durch. Batignol erhielt auch die Konzession zur Ausbeutung der Bleierze von Djebba und für den Hafenausbau in Tunis. 1881 besetzte Frankreich Tunis, um seine "Rechte" zu sichern. Rom reagierte im Mai 1882 mit dem Beitritt zum Dreibund mit Deutschland-Österreich/Ungarn, von dem es sich mehr Unterstützung für seine kolonialen Ambitionen erhoffte. Es erhielt freie Hand für die noch "weißen Flecken" in Nord- und Ostafrika.

1889/90 nahm Italien das Küstengebiet am Roten Meer zwischen den Häfen Assab und Massaua in Besitz und bildete die erste Kolonie Eritrea. Danach annektierte es den Südteil der Somalia-Halbinsel. Nach einem 1887 fehlgeschlagenen Überfall auf Äthiopien scheiterte 1896 auch ein neuer Versuch. In der Schlacht am 1. März 1896 bei Adua im nordäthiopischen Hochland wurde die 18.000 Mann und 56 Geschütze zählende Kolonialarmee vernichtend geschlagen. Nur 2.500 Soldaten entkamen.

Nordafrika blieb weiter im Blickfeld der italienischen Expansionspläne. Als Österreich-Ungarn 1908 Bosnien und die Herzegowina annektierte, setzte Italien 1911 an, seine Vorherrschaft im Mittelmeer und die Besitzergreifung von Kolonien in Nordafrika in die Tat umzusetzen. Die Türkei, das historische Osmanische Reich, befand sich seit der Niederlage im Krieg 1877/78 mit Russland in einer Zerfallskrise. Italien nutzte das und überfiel das von ihm abhängige Tripolitanien und die Cyrenaika. Ökonomisch hatte die mit dem Vatikan liierte Bank von Rom vorgearbeitet und sich mehrere Bergbaukonzessionen gesichert. Sie wurde auf dieser Basis der größte Landeigentümer in Tripolitanien und der Cyrenaika (zusammen mit dem Fessan, dem heutigen Libyen). Ihr folgte die Schwerindustrie mit Ansaldo und dem Elektrokonzern Marconi. Am 26. September 1911 forderte Rom in einem an die türkische Regierung übermittelten Ultimatum, binnen 24 Stunden Tripolitanien und die Cyrenaika an Italien abzutreten. Als Sultan Mehmed V. ablehnte, folgte am 29. September die offizielle Kriegserklärung.

Um die Erinnerung an die Niederlage bei Adua vergessen zu machen, wurde der Krieg als ein "militärischer Spaziergang" propagiert. Zur Bekanntgabe des Befehls Viktor Emanuel III. zum Auslaufen der italienischen Flotte erklang die Melodie "Tripoli, bel suol d'amore" (Tripolis schönes Land der Liebe). Durch den erstmaligen Einsatz von Luftschiffen und Flugzeugen für Bombardements gelang es, Tripolis, Bengasi und das Küstengebiet rasch einzunehmen. Trotz der brutalen Kriegführung wurde der Feldzug für 1.405 Italiener zum "Spaziergang in den Tod". Ihnen standen 14.800 Araber gegenüber, darunter viele massakrierte Zivilisten, Frauen und Kinder. In der "Prawda" vom 28. September 1912 schrieb Lenin, der Krieg werde fortdauern, "denn die Araberstämme im Inneren des afrikanischen Kontinents, weitab von der Küste, werden sich nicht unterwerfen. Man wird sie noch lange 'zivilisieren' - mit dem Bajonett, mit der Kugel, mit dem Strick, mit Feuer, durch die Vergewaltigung ihrer Frauen." Lenins Voraussicht bewahrheitete sich. Die Partisanen brachten den weiteren Vormarsch in den Wüsten zum Stehen. Den Widerstand in der Nähe der Oasen von Dscharabub und Siwa sowie im Fessan konnten die Italiener nie völlig brechen. Die Oasen von Kufra im Süden der Kyrenaika erreichten sie erst Anfang der dreißiger Jahre.

Mit stillschweigender Billigung Russlands, Großbritanniens und Frankreichs besetzte Italien noch den Dodekanes. Die Entente-Mächte ließen Rom gewähren, um es dem Dreibund zu Entzweien. Die Türkei anerkannte im Friedensvertrag von Lausanne am 18. Oktober 1912 die Eroberungen, die Rom zur Kolonie Libyen zusammenschloss. Als die italienische Flotte auch noch zum Überfall auf die Dardanellen ansetzten wollte, geboten London, Paris und Petersburg Einhalt. Das Geschwader musste abdrehen. Entgegen den Bestimmungen von Lausanne behielt Italien den Dodekanes besetzt.

Auf der Londoner Konferenz vom Dezember 1912 erhielt Italien zusammen mit Deutschland, Österreich/Ungarn, Russland, Frankreich und Großbritannien das Mandat über Albanien. Das Londoner Geheimabkommen der Entente von 1915 legte die Aufteilung Albaniens unter Italien, Griechenland, Serbien und Montenegro fest.

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Quelle:
© 2016 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 25. September 2016

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