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MEMORIAL/101: Vor 70 Jahren - Ende der französischen Kolonialherrschaft in Vietnam (Gerhard Feldbauer)


Vor 70 Jahren endete mit dem Fall von Dien Bien Phu die französische Kolonialherrschaft in Vietnam

Die Dschungelkämpfer in Bastsandalen kommandierte ein Volksschullehrer, der nie eine militärische Lehranstalt absolviert hatte.

von Gerhard Feldbauer, 3. Mai 2014



Der Fall der Festung Dien Bien Phu am 7. Mai 1954 besiegelte die Niederlage in einem achtjährigen Kolonialkrieg, den Frankreich im Herbst 1946 begonnen hatte, um die mit dem Sieg der nationalen Augustrevolution proklamierte Demokratische Republik Vietnam zu beseitigen und sein 1884 errichtetes Kolonialregime wieder herzustellen. Die Unabhängigkeitserklärung, die Ho chi Minh am 2. September 1945 auf dem Ba Dinh-Platz in Hanoi vor dem ehemaligen Gouverneurspalast vor einer halben Million Einwohnern verlas, endete mit den Worten: "Das vietnamesische Volk ist entschlossen, all seine geistigen und materiellen Kräfte aufzubieten, Leben und Besitz zu opfern, um sein Recht auf Freiheit und Unabhängigkeit zu behaupten." Diese Worte motivierten in den folgenden Jahren tatsächlich die große Mehrheit der Vietnamesen, ihre nationale Unabhängigkeit gegen den erneuten Einfall der Kolonialherren zu verteidigen.


Hanoi verteidigte sich 61 Tage

Es zeigte sich schon bald, dass die französischen Kolonialherren nicht bereit waren, die Unabhängigkeit Vietnams anzuerkennen. Am 23. September 1945 begannen ihre Truppen, Saigon und größere Gebiete Südvietnams zu besetzen. Angesichts der starken Positionen der Vietnamesischen Volksarmee in Nordvietnam hielt sich Frankreich dort zunächst noch zurück. Am 23. November 1946 provozierten die französischen Truppen dann im Hafen von Haiphong einen bewaffneten Zwischenfall, den Paris zum Anlass nahm, den Abzug der Volksarmee aus der Hafenstadt zu fordern. Nachdem die DRV das Ansinnen abgelehnt hatte, beschoss französische Artillerie die Stadt, etwa 6.000 Zivilisten wurden getötet. Danach rücken französische Truppen in Haiphong ein, stießen auf Hanoi vor und griffen es am 19. Dezember an. Ho Chi Minh rief zum bewaffneten Widerstand auf: "Lieber alles Opfern, als die Sklaverei auf uns nehmen. Lasst uns mutig sein, liebe Landsleute. Wer Ihr auch seid, ob Männer, Frauen, Kinder, Alte, Junge, welcher Religion und welcher Nationalität Ihr auch angehört; wenn Ihr Vietnamesen seid, erhebt Euch zum Kampf gegen die französischen Kolonialisten und zur Rettung des Vaterlandes. Wer ein Gewehr hat, kämpfe mit dem Gewehr; wer einen Degen hat, kämpfe mit dem Degen. Wer weder Gewehr noch Degen hat, kämpfe mit Schaufel, Hacke und Knüppel. Niemand darf zurückbleiben, niemand sich vom patriotischen Kampf gegen die Kolonialisten ausschließen." Die Hauptstadt verteidigte sich 61 Tage, bis zum 17. Februar 1947, gegen eine erdrückende Übermacht mit schweren Waffen, Panzern und Artillerie. Während der Kämpfe wurden Betriebe und die zentralen Regierungsstellen in die nordwestlichen Bergregionen des Viet Bac evakuiert.


Regierung mit Katholiken, Buddhisten und Mandarinen

Im Juli 1947 wurde die Regierung umgebildet. Neben kommunistischen, sozialistischen und bürgerlichen Demokraten traten auch drei Katholiken, ein Buddhist, zwei Nationalisten, acht unabhängige Politiker und zwei ehemalige Mandarine in das Kabinett ein, in dem die Kommunisten nur noch eine Minderheit waren. Bereits im Oktober stellte sich die Volksarmee 100 km nordwestlich von Hanoi zur ersten großen Schlacht und schlug die Offensive der französischen Truppen zurück. Die Illusion von einem Blitzsieg scheiterte. Zur Verhüllung ihrer kolonialen Eroberung setzt Paris am 8. März 1949 den in der Augustrevolution gestürzten Kaiser Bao Dai an der Spitze eines Marionettenregime wieder auf den Thron.


Militärhilfe aus Moskau und Peking

Im September/Oktober 1950 befreite die Volksarmee die Grenzgebiete zu der am 1. Oktober 1949 entstandenen Volksrepublik China. Die DRV erhielt jetzt militärische Unterstützung durch die Volksregierung in Peking und über deren Gebiet auch sowjetische Hilfe umfangreicher als bisher. Im Februar 1951 beschloss der 2. Parteitag der Kommunistischen Partei Vietnams (KPV), die zu dieser Zeit 760.000 Parteimitglieder zählte, den Widerstand bis zum vollständigen Sieg und zur Wiedererringung der nationalen Unabhängigkeit zu führen und zum Sozialismus voranzuschreiten. Als Ausdruck der in der Partei zusammengeschlossenen verschiedenen Volksschichten nahm der Kongress als neuen Namen "Partei der Werktätigen Vietnams" an. 1952 befand sich Bac Bo, der Nordwesten des Landes, fast durchgehend in der Hand der Viet Minh.


Siegespfeiler Bodenreform

Im November 1953 führte die DRV die allgemeine Wehrpflicht ein. Die Volksarmee zählte sechs Infanteriedivisionen, eine sogenannte schwere Division sowie mehrere selbständige Regimenter. 350.000 Soldaten standen unter Waffen. Im Monat darauf beschloss die Nationalversammlung das Dekret über eine Bodenreform. Das Land der französischen Kolonialisten und derjenigen vietnamesischen Großgrundbesitzer, die sich als Feinde der DRV erwiesen hatten, wurde entschädigungslos enteignet und an die armen Bauern verteilt. Fünf Millionen Menschen erhielten 810.000 Hektar Nutzfläche. Großgrundbesitzer, die sich im Befreiungskampf auf die Seite der Volksmacht gestellt oder sich auch nur loyal verhalten hatten, wurden für Grund und Boden, Vieh und Technik entschädigt und durften ihr übriges Eigentum behalten. Die Bodenreform, mit der eine entscheidende Aufgabe der nationaldemokratischen Revolution durchgeführt und die feudalen Zustände beseitigt wurden, festigte die Volksmacht nicht nur politisch und ökonomisch entscheidend, sondern auch militärisch. Sie stellte das Bündnis der Arbeiterklasse mit den Bauern, welche die Hauptlast des Kampfes trugen, auf feste politische und wirtschaftliche Grundlagen.


Eine waffenstarrende Dschungelfestung

So gerüstet begann die Volksarmee am 10. Dezember 1953 ihre Offensive gegen die waffenstarrende französische Dschungelfestung Dien Bien Phu im Nordwesten des Berglandes. Die in einem Talkessel nahe der laotischen Grenze liegenden Befestigungen bestanden aus einer Kommandozentrale, umgeben von einem Gürtel mit auf sechs Hügeln liegenden selbständigen Stützpunkten und einem Militärflugplatz mit mehreren Landebahnen, auf denen 170 Kampfflugzeuge stationiert waren. Kommandant der Festung wurde der Oberst der Panzertruppen Ferdinand de la Croix de Castries. Ihm gegenüber stand Vo Nguyen Giap, ein früherer Volksschullehrer, der nie eine militärische Lehranstalt besucht hatte. De Castries verfügte über rund 16.000 Mann zählende durchweg kriegserfahrene Kolonialbataillone, darunter fast die Hälfte Fallschirmjäger und viele Fremdenlegionäre, von denen nicht wenige während des Zweiten Weltkrieges der deutschen Waffen-SS-Division "Charlemagne" oder der "Légion des Volontaires Français contre le Bolchevisme" angehört hatten. Die Festung verfügte über 170 Kampfflugzeuge.


Gewachsene Möglichkeiten der Volksarmee ignoriert

De Castries wollte die Volksarmee zu verlustreichen, kräftezehrenden Angriffen auf seine Festung provozieren, um sie dann vor deren Toren in einer Feldschlacht zu vernichten. Der Plan ignorierte völlig die gewachsenen militärischen Möglichkeiten der Volksarmee. DRV-Verteidigungsminister General Giap, der die Schlacht in Anwesenheit von Ho chi Minh leitete, verfügte inzwischen, unbemerkt von der französischen Aufklärung, in ausreichender Zahl über schwere Artillerie, Feldhaubitzen und Kanonen, der Zeit entsprechende Flak und rückstoßfreie Geschütze. Seine Kämpfer, die Bastsandalen trugen, transportierten die schweren Geschütze - jedes wog über zwei Tonnen - in Einzelteile zerlegt ohne Zugmittel über die zerklüfteten Berge und brachten sie gegenüber der Festung in Höhlen in Stellung.

Die Schlacht von Dien Bien Phu ist später gelegentlich in zwar hinkenden, aber nicht ganz unberechtigten Vergleichen als ein kleines Stalingrad bezeichnet worden. Denn in der Endphase der Schlacht war das französische Kommando in Hanoi nicht mehr in der Lage, die eingeschlossene Festung auch nur minimal mit Nachschub zu versorgen. Die vietnamesische Flak, mit der überhaupt nicht gerechnet worden war, schoss die meisten Transportmaschinen ab. Und das, obwohl viele der eingesetzten US-amerikanischen B 26 von Air Force-Piloten mit Koreaerfahrung geflogen wurden. Die Volksarmee begann auch nicht mit einem Generalangriff auf das gesamte Befestigungssystem, sondern eroberte die einzelnen Stützpunkte nacheinander. Das erste, Béatrice genannte Fort, wurde nach schwerer Artillerievorbereitung innerhalb nur eines Tages und einer Nacht gestürmt.


Eisenhower wartete auf Frankreichs Niederlage

Schon seit 1950 unterstützten die USA den Kolonialkrieg Frankreichs mit umfangreichen Waffenlieferungen. Mitte März verhandelte der Chef des französischen Generalstabes, Paul Ely, im Auftrag von Verteidigungsminister Jean Pleven in Washington mit dem Chef der Vereinigten Stabschefs, Admiral Arthur W. Radford, über eine "entscheidende Aufstockung" der US-Hilfe. Ely bat um Truppentransporter mit Infanterie, Artillerie, Fallschirmtruppen, B-29-Bomber. Selbst den "Abwurf der Atombombe auf Ho chi Minhs rückwärtige Gebiete" brachte Ely vor. Radford, ein ausgesprochener Hardliner des Pentagon, war dafür, den "großen Knüppel" (die Atombombe) einzusetzen. Er hatte schon nach dem Eingreifen der Volksrepublik China in Korea über der Mandschurei ein paar Atombomben ausklinken wollen. Präsident Eisenhower, selbst Militär, wollte auch diesmal ein derartiges Risiko, das Moskau hätte auf den Plan rufen können, nicht eingehen, sagte aber den Abwurf von Napalm durch C-119 der US-Air Force auf die Belagerer von Dien Bien Phu zu, außerdem die Verstärkung bereits eingesetzter B-26 mit US-Piloten, ebenso Hilfslieferungen an Waffen und Nachschub im von Frankreich gewünschten Umfang. Eisenhower wartete in Wirklichkeit auf die Niederlage der Franzosen, damit die USA ihre Stelle einnehmen konnten.


"Leuchtende Beispiele" hissten weiße Fahnen

Am 7. Mai 1954 ging Eisenhowers Hoffnung in Erfüllung. Am 1. Mai nahm die Volksarmee die letzten beiden Stützpunkte "Claudin" und "Junon" ein. Um den Mythos von der heldenhaft kämpfenden Besatzung in Dien Bien Phu hochzuhalten, wurde Oberst de Castries zum Brigadegeneral befördert. Er selbst und seine Besatzung wurden in einem Tagesbefehl "leuchtende Beispiele" der Verteidigung der "Ehre Frankreichs" genannt. Gleichzeitig gingen über den letzten Stellungen der Festung weiße Fahnen hoch. Am Nachmittag ging auf Widerstandsnester, aus denen noch geschossen wurde, eine letzte Salve der vietnamesischen Artillerie nieder. Dann stürmten die Soldaten, ohne noch auf Widerstand zu stoßen, zum Bunker de Castries' vor, auf dem ebenfalls ein großes schneeweißes Bettlaken lag. Ein vietnamesischer Zugführer nahm ihn mit seinen Offizieren gefangen. Auf dem Bunker wurde die rote Fahne mit dem gelben Stern aufgezogen.


Im Geist der Französischen Revolution

Insgesamt fielen während des Kolonialkrieges etwa 92.000 französische Soldaten. Zusammen mit Verwundeten und Gefangenen waren es, die Verluste der Marionettenarmee mitgerechnet, 466.172 Mann. Auf Seiten der DRV kamen über 800.000 Menschen ums Leben, ein großer Teil Zivilisten, die Vergeltungsaktionen und Bombardements zum Opfer fielen. Nach den Ursachen des Sieges befragt, erklärte Giap gegenüber "Le Monde": "Rufen Sie sich die Französische Revolution in das Gedächtnis zurück, erinnern Sie sich an Valmy und Ihre schlecht bewaffneten Soldaten gegenüber der preußischen Berufsarmee. Trotzdem siegten Ihre Soldaten. Um uns zu verstehen, denken Sie an diese historischen Stunden Ihres Volkes. Suchen Sie die Realität. Ein Volk, das für seine Unabhängigkeit kämpft, vollbringt legendäre Heldentaten."

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Quelle:
© 2014 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Mai 2014