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MEMORIAL/082: Vo Nguyen Giap - nach Ho Chi Minh Vietnams Nationalheld (Gerhard Feldbauer)


Nach Ho Chi Minh Vietnams Nationalheld

Das Land trauert um Vo Nguyen Giap(*)

von Gerhard Feldbauer, 8. Oktober 2013



Am 22. Dezember 1944 wurde in den Wäldern von Cao Bang im Nordosten Vietnams eine 34 Mann zählende bewaffnete Einheit aufgestellt. Ihr offizieller Name lautete "Brigade bewaffneter Propaganda für die Befreiung Vietnams". "Sie soll die Keimzelle unserer künftigen Armee werden", sagte Ho Chi Minh zu den Männern. Ihr Kommandeur wird der 33jährige Lehrer Vo Nguyen Giap. An der Seite von Ho Chi Minh geht er mit den Soldaten der Propagandaabteilung in die Pfahlbauten der Bergstämme, in die Hütten der Reisbauern, trifft sich mit Arbeitern aus den Fabriken. Sie diskutieren mit ihnen, klären über ihre Ziele auf, überzeugen. In den folgenden Monaten strömen ihnen Zehntausende Kämpfer zu. Im August 1945 siegt mit dieser von den Massen unterstützten Volksarmee die Nationale Befreiungsrevolution Vietnams. Am 2. September ruft Ho Chi Minh in Hanoi vor dem ehemaligen Gouverneurspalast vor einer halben Million Einwohnern die Demokratische Republik Vietnam aus.


"Ein Kind von Onkel Ho"

Wenn in den nächsten Jahrzehnten diese Volksarmee in den Kämpfen für die Freiheit und Unabhängigkeit in legendären Schlachten und im nie erlahmenden Widerstand unzählige Siege erringt, ist das in hohem Maße das Verdienst von Vo Nguyen Giap. Der französische Historiker und Vietnamkenner, Präsident des Pariser Informationszentrum über Vietnam, Professor Alain Ruscio, der Giap persönlich aus vielen Begegnungen kannte, sagte in seinem am 7. Oktober in der "Humanité" veröffentlichten Beitrag "Ein Kind von Onkel Ho" über ihn: "Wenn er beteuerte, dass es 'die Massen seien', welche 'die Geschichte machten', glaubte er was er sagte. Dabei war er, wie Ruscio betont, "der Vater der vietnamesischen Volksarmee", der "Sieger von Dien Bien Phu", der "Stratege des Krieges gegen die USA".


Die legendäre 308. - eine Gardedivision

Als Frankreich versuchte, sein Kolonialregime wieder zu errichten, leitete Giap vom Dezember 1946 bis Februar 1947 die Verteidigung von Hanoi, das sich 61 Tage gegen eine erdrückende Übermacht mit schweren Waffen, Panzern und Artillerie behauptete. Während der Kämpfe wurden Betriebe und die zentralen Regierungsstellen in die nordwestlichen Bergregionen des Viet Bac evakuiert. In dieser heroischen Abwehrschlacht stellte Giap aus Arbeitern das berühmte legendäre "Regiment der Hauptstadt" auf, aus dem später die bei Dien Bien Phu eingesetzte 308. Division der Volksarmee hervorging. Ohne sie als solche zu benennen, sah Giap in ihr nach dem von Napoleon Bonaparte eingeführten Titel, eine Garde-Division. Bereits im Oktober 1947 stellte sich die Volksarmee 100 km nordwestlich von Hanoi zur ersten großen Schlacht und schlug die Offensive der französischen Truppen zurück. Die Illusion von einem Blitzsieg war gescheitert. 1952 war Bac Bo, der Nordwesten des Landes, fast durchgehend in der Hand der Viet Minh. 1953 verfügte Giap über insgesamt 350.000 Befreiungskämpfer unter Waffen.


Giaps Soldaten mit Ho Chi Minh-Sandalen

So gerüstet beginnt die Volksarmee am 10. Dezember 1953 ihre Offensive gegen die waffenstarrende französische Dschungelfestung von Dien Bien Phu im Nordwesten des Berglandes. An der Spitze der Soldaten des Dschungels, die Ho Chi Minh-Sandalen tragen, steht ein Militär des Volkes, der sich seinen Gegnern nicht nur auf militärischem Gebiet haushoch überlegen erweist, sondern auch im Allgemeinwissen, obwohl er weder Universitäten noch Militärakademien absolviert hat, wenn man davon absieht, dass er das Baccalauréat in Philosophie und den Jura-Referendar der Hanoier Universität erwarb. Er hätte durch Fürsprache seiner Lehrer eine glänzende Karriere einschlagen können, zumal zu seinen Kommilitonen der Prinz Buu Loc aus der kaiserlichen Familie, aber auch Söhne von Mandarinen und Angehörige des vietnamesischen Bürgertums gehörten.


Er studierte Clausewitz "Vom Kriege"

Aber Giap, der als 18jähriger bereits 1929 zu den Kommunisten stieß, mit denen er am 3. Februar 1930 die KP Vietnams gründete, wählte den Weg in den Widerstand. Bereits als Schüler organisiert er Solidaritätsaktionen für die von der Kolonialmacht nach der Niederschlagung der revolutionären Massenkämpfe um die Sowjets 1930/31 verfolgten Patrioten. Er wird verhaftet und zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Kampfgefährten berichten, dass er sich schon während seiner kurzen Zeit als Lehrer leidenschaftlich mit den Schlachten Napoleons befasste, die des Chinesisch-japanischen Krieges verfolgte, das Werk des deutschen Militärs Clausewitz "Vom Kriege" studierte und den "Lawrence von Arabien" genannten britischen Militär las. Während der Schlacht um Dien Bien Phu wurde sichtbar, dass er sich auch mit dem Ersten Weltkrieg und besonders mit dem Stellungskrieg bei Verdun beschäftigt hatte.


Nicht aus Kriegsbegeisterung

Dass sich sein unbändiger Wissensdrang vor allem auf den Militärbereich konzentrierte, ergab sich nicht aus Kriegsbegeisterung, sondern zwangsläufig aus der Erkenntnis, dass die nationale Unabhängigkeit und ihre anschließende Verteidigung nur im bewaffneten Kampf gegen die Kolonialmacht und die einheimischen Feudalherren erfolgreich sein konnte. Ausdruck dafür war, dass Ho Chi Minh schon in den 1920er Jahren als Vertreter der Komintern Revolutionäre zum Studium an die Militärakademie der Roten Armee nach Moskau sowie an die Militärische Lehranstalt Huang Pu bei Kanton delegierte. Die Chinesische Einrichtung, an der sowjetische Militärs Offiziere der Volksbefreiungsarmee als auch der Truppen Tschiang Kai Tschecks ausbildeten, wurde in der Periode der Einheitsfront von der KP Chinas und der Guomindang gemeinsam unterhalten.


Mit hoher Menschlichkeit

Professor Ton That Tung, der das Sanitätswesen der Volksarmee leitete, erzählte während meiner Korrespondentenarbeit in Hanoi (1967-1970), dass Giap ihn während der Schlacht in Dien Bien Phu persönlich anwies, alle Vorkehrungen zu treffen, um die hohe Zahl der zu erwartenden verwundeten und kranken Franzosen in Gefangenschaft sofort zu behandeln (nach der Kapitulation gingen rund 10.000 Mann in Gefangenschaft). Über die in den eroberten Stützpunkten und Stellungen vorgefundenen toten Franzosen seien Listen angefertigt worden: Mit Namen, Nationalität, Heimatanschrift, Dienstnummer auf den Blechmarken und dem Ort, an dem sie begraben wurden. In der Order des Oberbefehlshabers hieß es, es seien Menschen, die zu Hause Familien haben, Eltern, Frauen, Kinder, die ein Recht darauf hätten, später zu erfahren, wo ihr Söhne, ihre Männer, ihre Väter gestorben sind. Solche Menschlichkeit bewiesen die vietnamesischen Freiheitskämpfer, die Giap kommandierte, den Soldaten der Kolonialisten, die ihr Volk jahrzehntelang unterjocht, blutig unterdrückt und grausam misshandelt hatten.


Legendäre Heldentaten eines Volkes

Nach den Ursachen des Sieges befragt, erklärte Giap gegenüber "Le Monde": "Rufen Sie sich die Französische Revolution in das Gedächtnis zurück, erinnern Sie sich an Valmy und die schlecht bewaffneten Soldaten gegenüber der preußischen Berufsarmee. Trotzdem siegten Ihre Soldaten. Um uns zu verstehen, denken Sie an diese historischen Stunden Ihres Volkes. Suchen Sie die Realität. Ein Volk, das für seine Unabhängigkeit kämpft, vollbringt legendäre Heldentaten."


Moskaus Idee vom Status Quo abgelehnt

Die weitere Entwicklung ist bekannt. Die USA, die bereits seit 1950 mit Waffenlieferungen und in der Schlacht um Dien Bien Phu mit Luftüberfällen massiv den Kolonialkrieg Frankreichs gegen die Demokratische Republik Vietnam unterstützt hatten, sabotierten als Mitglied der Genfer Indochina-Konferenz deren Abkommen und versuchten in einem barbarischen Aggressionskrieg die DRV zu beseitigen und den Süden des Landes unter ihre neokoloniale Herrschaft zu zwingen. In dieser Zeit lehnte Giap Vorstöße aus Moskau, Hanoi möge den Status Quo hinnehmen und auf eine Befreiung des Südens im bewaffneten Kampf verzichten, entschieden ab. Ein Umdenken setzte erst nach der gewaltigen und das USA-Besatzungsregime erstmals tief erschütternden Tet-Offensive im Frühjahr 1968 ein. Dabei spielte eine Rolle, dass die sowjetischen Militärs erkannten, dass sie in Vietnam, mehr als anderswo in der Dritten Welt, ihre Waffen unter härtesten Kriegsbedingungen in den Händen kampfentschlossener Soldaten erproben konnten. Als die Befreiungskämpfer dann im April 1975 mit der Einnahme Saigons den USA ihre bis heute schwerste Niederlage beibrachten und sie regelrecht ins Meer jagten, war das auch ein Sieg, der vor allem mit sowjetischen Waffen errungen wurde.

Die Illustrierte "Paris Match" schrieb im Vorfeld des Sieges in Südvietnam über Giap: "Zum General ernannt, ohne je eine entsprechende Ausbildung erfahren zu haben, ist Vo Nguyen Giap, der Sieger von Dien Bien Phu, seit dreißig Jahren die Seele des Widerstandes des Volkskrieges. Er hat fünf Kinder, spricht fünf Sprachen und spielt Beethovensche Klaviermusik. Seine Freunde nannten ihn den 'Vulkan unterm Schnee'. Heute ist er der Vater des Sieges."


Seine Ideale waren nationale Unabhängigkeit und der Kommunismus

Vietnam trauert um seinen als Nationalheld verehrten Militär aus dem Volk, der im Alter von 102 Jahren verstorben ist. Alain Ruscio sagte in seinem bereits erwähnten Beitrag über ihn: "Er hat das Jahrhundert seiner Existenz der Verteidigung zweier Ideale gewidmet: Der nationalen Unabhängigkeit seines Volkes und dem Kommunismus. Dies zu trennen zu versuchen, den Patrioten Giap und den "Genossen Van" (das war sein Name im Widerstand) auseinander zu dividieren, wie das im Westen manchmal getan wird, ist eine unfruchtbare Übung."


Anmerkung:
(*) Vo Nguyen Giap starb am 4. Oktober 2013.


Gerhard Feldbauer hat mit Vietnamkrieg, erschienen bei PapyRossa, gerade sein drittes Buch zum Thema Vietnam vorgelegt.

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Quelle:
© 2013 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Oktober 2013