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MEMORIAL/071: Italien im Frühjahr 1993 - Es kam einem Erdbeben gleich (Gerhard Feldbauer)


Es kam einem Erdbeben gleich

Vor 20 Jahren wurde der italienische Ex-Premier Giulio Andreotti der Anstiftung zum Mord und Mitgliedschaft in der Mafia angeklagt

von Gerhard Feldbauer, April 2013



Die italienische Öffentlichkeit war im Frühjahr 1993 an Enthüllungen der schlimmsten Art gewöhnt. Am 11. Februar war der Vorsitzende der Sozialistischen Partei und frühere Premier, Bettino Craxi, nach der Einleitung von Ermittlungen der Staatsanwaltschaft gegen ihn wegen Korruption in Höhe von Hunderten Millionen Dollar zurückgetreten. Die jetzigen Enthüllungen übertrafen das bisher Bekannte und kamen einem Erdbeben gleich. Gegen den siebenmaligen Ministerpräsidenten Giulio Andreotti wurde ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Noch verharrte Il Volpone (der schlaue Fuchs), wie er genannt wurde, in der ihm eigenen stoischen Ruhe, mit der er in den vorangegangenen drei Jahrzehnten schon 24 Ermittlungen von Staatsanwälten und fünf parlamentarischen Untersuchungskommissionen, die ihn der Verwicklung in Attentate, Putschvorbereitungen, Kontakte zur Mafia und sogar der heimlichen Führung der faschistischen Putschloge P2 verdächtigten, unbeschadet überstanden hatte. Nie hatte man ihm juristisch etwas nachweisen können. Als Senator auf Lebenszeit hatte er eine der höchsten und sehr seltenen, nur an einen ausgewählten kleinen Kreis hochrangiger Politiker vergebenen parlamentarischen Würden errungen.


Die Enthüllung von Gladio

Allerdings war er, seit im Herbst 1991 seine entscheidende Rolle als Verteidigungsminister bei der Aufstellung der geheimen Nato-Truppe Gladio ans Licht kam, angeschlagen, auch wenn er sich, gestützt auf die Geheimhaltungsbestimmungen und "Bündnisverpflichtungen" der Nato, aus der Schlinge ziehen konnte. Aber nach den Parlamentswahlen 1992 war Andreotti, seit Juli 1989 wieder Regierungschef, weder zum Ministerpräsidenten berufen, noch für die Wahl des Staatspräsidenten, mit der er sein politisches Lebenswerk krönen wollte, aufgestellt worden. Für den starken rechten Mann, Beherrscher der Democrazia Cristiana, der immer gewohnt war, seine Vorhaben durchzusetzen, bereits eine schwere politische Niederlage.

Nun übermittelte der Staatsanwalt von Palermo, Giancarlo Caselli, dem Senator einen Ermittlungsbescheid. Er wurde, wie es dann auch die Anklageschrift formulierte, "der Beteiligung an einer mafiosen Vereinigung" beschuldigt. Es bestand, wie es weiter hieß, "ein Geflecht zwischen dem Senator Andreotti und Cosa nostra, das in einer keineswegs nur beiläufigen oder nur gelegentlichen Weise mindestens schon 1978 eingerichtet wurde und mit Sicherheit bis 1992 weiterbestand." Andreotti habe "einen Beitrag zum Schutz der Interessen und zum Erreichen der Ziele der Organisation geleistet", insbesondere "hinsichtlich gerichtlicher Strafverfahren gegen Exponenten der Organisation". Die Anklage enthielt die Aussage eines Mafioso, es sei in der Mafia bekannt gewesen, dass "einer der Kanäle, um an Andreotti heranzukommen, der Weg über die Geheimloge" gewesen sei. Dadurch wurden zum ersten Mal die Anschuldigungen, Andreotti sei ein führender P2-Mann, wenn nicht überhaupt ihre wahre Nummer Eins gewesen, gerichtsoffiziell zur Sprache gebracht.


Bruderkuss mit Mafia-Bossen

Auch wenn Volpone wie gewohnt alles abstritt, als üble Verleumdung, böswillige Diffamierung bezeichnete, war seine Position erschüttert. In mehreren Fällen wurden ihm von geständigen Mafiosi, aber auch anderen Zeugen, Begegnungen mit den Clan-Chefs der "ehrenwerten Gesellschaft" nachgewiesen. Mit dem mächtigsten Mafia-Boss Siziliens, Salvatore Riina, soll er den traditionellen, die unverbrüchlichen Beziehungen innerhalb der Mafia besiegelnden Bruderkuss getauscht haben.

Als Andreotti den Fall seines Parteifreundes Mattarella, Parlamentspräsidenten auf Sizilien, der wegen seiner Zusammenarbeit mit den Kommunisten von der Mafia umgebracht wurde, zur Sprache bringen wollte, habe ihn der Mafia-Chef Stefano Bontate wie folgt abgekanzelt: "Wenn ihr die DC nicht völlig auslöschen wollt, müsst ihr machen, was wir sagen. Anderenfalls ziehen wir euch nicht nur alle Stimmen aus Sizilien ab, sondern auch die aus Reggio Calabria und ganz Süditalien." Außerdem sei Bontate ungehalten gewesen, dass einige Mafiosi nicht freigesprochen, sondern in laufenden Verfahren verurteilt wurden.


Mafia besorgte Christdemokraten Wählerstimmen

Der Pakt wurde fortgesetzt. Die Mafia besorgte weiter Stimmen für die Christdemokraten, wofür Andreotti gegen Mafiosi laufende Prozesse vor dem Kassationsgericht "in Ordnung" brachte, was hieß, die Angeklagten wurden freigesprochen oder die Verfahren zu Fall gebracht. Der Name des "Urteilskillers" Salvatore Carnevale kam zur Sprache. Der für Mafia-Verfahren zuständige Vorsitzende der Ersten Kammer des Obersten Gerichts habe für Andreotti Hunderte Prozesse "geregelt". Und es gab viele Carnevales. Denn 22 hohe Juristen waren als Mitglieder der P2 bekannt geworden.


Mafia-Morde, "um Andreotti einen Dienst" zu erweisen

Im Prozess kam eines der blutigsten Mafia-Verbrechen zur Sprache, der Anschlag vom 3. September 1982 auf den 62jährigen Anti-Mafia-Präfekten für Sizilien, General Alberto Dalla Chiesa, der zusammen mit seiner zweiten Frau und seinem Fahrer im Kugelhagel mehrerer Mafiosi in Palermo auf offener Straße ums Leben kam. Er kannte die Verwicklung Andreottis in die Mordpläne gegen den DC-Vorsitzenden Aldo Moro, wusste um seine Kontakte zur Mafia und zur P2. Die Anklagen gegen Andreotti bestätigte der Sohn des Generals, Nando dalla Chiesa, der 1984 das Buch "Delitto imperfetto. Il Generale, la Mafia, la Società italiana" über seines Vaters Leben und Arbeit veröffentlichte. Sein Vater habe es abgelehnt, mit den Putschisten der P2 gemeinsame Sache zu machen, und wollte Andreottis Komplizenschaft enthüllen. Der Mafioso Calogero Ganci, der das Kommando anführte, das den General umbrachte, sagte aus, Dalla Chiesa sei ebenso wie Mino Pecorelli umgebracht worden, "um Andreotti einen Dienst" zu erweisen.

Mino Pecorelli, ein römischer Enthüllungsjournalist, Herausgeber des Magazins "Osservatore politico", hatte angekündigt, die Rolle Andreottis im Mordkomplott gegen Moro publik zu machen. Danach wurde er am 20. März 1979 vor seinem Haus in Rom von Mafia-Killern erschossen. Andreotti wurde in einem zweiten Prozess der Anstiftung zum Mord an Pecorelli angeklagt.

Die Mafia versuchte, Einfluss auf den Prozess zu nehmen. Im März 1992 wurde Salvo Lima, einer der Clan-Chefs, die mit der Staatsanwaltschaft zusammenarbeiteten, in Palermo erschossen. Er war eine der Schlüsselfiguren im Verbindungsnetz zu Andreotti. Nach Auffassung der Anklage wurde Lima umgebracht, weil er Andreotti bezüglich der Morde an Pecorelli und Dalla Chiesa besonders belastet hätte. Mit weiteren Mordanschlägen versuchte die Mafia das Vorgehen gegen sich und ihre Komplizen im Staatsapparat zu stoppen. Am 23. Mai 1992 wurde der die Anti-Mafia-Ermittlungen von Rom aus leitende Richter Giovanni Falcone mit seiner Frau und drei Leibwächtern auf der Autobahn vor Palermo durch eine gigantische Explosion getötet. Falcone hatte, wie es in einem Untersuchungsbericht hieß, "deutlich das Zusammenspiel der Mafia mit den Machtzentren des Staates bei den Mordfällen zwischen 1979 und 1982 aufgedeckt". Zwei Monate nach Falcone wurde dessen engster Mitarbeiter, der Staatsanwalt Paolo Borselino mit seiner Frau und fünf Leibwächtern auf fast die gleiche Weise wie sein Vorgesetzter umgebracht.


Höhepunkt der Mafia-Prozesse

Der Prozess gegen Andreotti wurde dank des mutigen Einsatzes von Persönlichkeiten wie Alberto Dalla Chiesa, Giovanni Falcone, Paolo Borselino und vieler anderer möglich. Ein Durchbruch war 1986/87 in den sogenannten Maxi-Prozessen vor dem Schwurgericht von Palermo erfolgt, in denen 456 Mafiosi, darunter Spitzenleute wie Salvatore Riina, Bernardo Provenanzo und Filippo Marchese angeklagt wurden. 19 von ihnen erhielten lebenslange Haftstrafen, 323 insgesamt 2.665 Jahre Gefängnis, 114 wurden, meist wegen Mangel an Beweisen, freigesprochen. Im Prozess gegen Andreotti wegen Mitgliedschaft in der Mafia sagten 231 Zeugen aus, darunter führende Mafia-Bosse, die Straffreiheit zugesichert bekommen hatten. Die Anklage legte Fotos und Filmaufnahmen über zahlreiche Begegnungen Andreottis mit Mafiabossen vor. Aussagen belegten u. a., dass die "Ehrenwerte Gesellschaft" auf Betreiben Andreottis der DC in Süditalien jahrzehntelang Wählerstimmen beschafft hatte, wofür angeklagten Mafiosi Straffreiheit garantiert wurde. Im Verfahren in Perugia wurde Andreotti zu 24 Jahren Gefängnis verurteilt, 1999 in der Revision freigesprochen, was der Kassationshof von Rom 2003 bestätigte. In Palermo gab es einen Freispruch "zweiter Klasse" wegen Mangels an Beweisen. Der Einspruch der Staatsanwaltschaft wurde letztinstanzlich 2003 vom Kassationsgericht in Rom ebenfalls zurückgewiesen. Trotzdem bedeuteten die Prozesse den politischen Bankrott Andreottis, weil selbst bei der Aufhebung des Urteils von Palermo festgehalten werden musste, dass der Ex-Premier der Mafia lange Zeit "freundschaftlich gesonnen" gewesen sei, was bedeutete, dass der Angeklagte nicht von jedem Verdacht freigesprochen wurde.

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Quelle:
© 2013 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 3. April 2013