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MEMORIAL/064: 15. Juli 1892 - Vor 120 Jahren wurde Walter Benjamin geboren (Peter Fisch)


Vor 120 Jahren wurde Walter Benjamin geboren

"Es ist viel Hoffnung vorhanden, nur nicht für uns."
Das Walter-Benjamin-Memorial in Port Bou.

Ein Reisebericht von Peter Fisch



Alle Grenzorte der Welt teilen das gleiche Schicksal: Sie sind keine Stätten des Aufenthalts, sondern immer nur ein Hindernis, eine Etappe zu einem Hauptziel. Wer heute mit dem Zug oder Auto in das spanische Port Bou fährt, ein Ort mit knapp 2000 Einwohnern, unmittelbar an der französisch-spanischen Grenze gelegen, spürt es körperlich. Der Reisende nimmt es schon in Cerbere wahr, dem französischen Pendant. Obwohl es seit einiger Zeit keine Grenzkontrollen mehr gibt, das Bewusstsein, eine Grenze zu überschreiten, ist geblieben. Schon deswegen, weil 2009, im Rahmen der ca. 200 (!) Gedenkveranstaltungen im Grenzbereich, eine Reihe von bebilderten und beschrifteten Tafeln gerade hier aufgestellt wurden, die an die spanischen Republikaner erinnern, die vom Februar bis zum März 1939, nach dem Sieg der Franquisten, nach Frankreich flohen (Retirada). Port Bou liegt im Tal. Nur der Kirchturm ist zunächst sichtbar und der überdimensionierte Bahnhof.

Für einen kurzen historischen Augenblick, gemessen an den großen Zeitläufen, genauer im Februar 1939 und im Herbst 1940, geschahen hier Dinge, die das ganze 20. Jahrhundert der Extreme punktuell charakterisieren: Krieg, Gewalt, Flucht, Exil, Todesnähe und Tod selbst, radikal und unerbittlich. In Frankreich kamen ca. 300.000 Republikaner an, darunter die Interbrigadisten, um dann in Lagern unter freiem Himmel interniert zu werden. Wie Antonio Machado, der größte spanische Lyriker des 20. Jahrhunderts und treuer Anhänger der Republik, dem die Kraft zum Leben fehlte, im französischen Collioure starb und dort sein Grab fand. Wer es besuchen will, erkennt es schnell, denn immer ist es mit Blumen geschmückt, auch mit der Fahne der spanischen Republik, schon seit Jahrzehnten.

Walter Benjamin (Paßfoto), 1928 - Foto: gemeinfrei [1]

Walter Benjamin, 1928
Foto: gemeinfrei [1]

Als Walter Benjamin gezwungen war, im September 1940 die französisch-spanische Grenze zu überwinden, ging es um die nackte Existenz. Diese Frage entschied sich daran, dass er den Identitätsnachweis erbringen musste mit Hilfe geforderter Dokumente. Aber diese, insbesondere das französische Ausreise-Visum, besaß er nicht. Was blieb, war der illegale Grenzübergang in einem kräftezehrenden Marsch des Herzkranken über die Pyrenäen, der in Banyuls-sur-mer begann und in Port Bou enden sollte. Wer heute offenen Auges durch dieses Städtchen geht, der wird daran erinnert, dass der deutsche marxistische Philosoph jüdischer Herkunft hier seine letzte Passage durchquerte. Das Profil des Fluchtweges ist auf einer Tafel eingearbeitet, die unmittelbar am Hotel de Ville von Banyuls angebracht ist, am Anfang des "Chemin Walter Benjamin". Bekannt ist, dass ihm treue Helfer zur Seite standen: Henny Gurland, ihr Sohn Joseph, Grete Freund und Lisa Fittko. Letzterer und ihrem Ehemann Hans Fittko, die hunderten deutschen Flüchtlingen das Leben retteten, mit aktiver Unterstützung des hiesigen Bürgermeisters Azema, in dem sie diese illegal über die Grenze nach Spanien führten, wurde in Banyuls ein Gedenkstein gewidmet, auf dem zu lesen ist: "Es war das Selbstverständliche".

Benjamin gelangte völlig erschöpft in den Ort Port Bou , wo die letzten Schlachten des Spanischen Krieges geschlagen worden waren und das heute einen morbiden Charme ausstrahlt. Die ganze Aufmerksamkeit Benjamins galt seiner schweren Aktentasche, deren Inhalt unauffindbar blieb, die aber offensichtlich Manuskripte enthielt. Die Ankunft in Port Bou bedeutete jedoch nicht die Rettung, denn die Gefahr der Auslieferung an die Gestapo drohte nach wie vor. Wir wissen inzwischen von Lisa Fittko, dass er vorher schon erfolglos versucht hatte, als Matrose verkleidet, von Marseilles aus, die Flucht auf einem Frachtschiff zu riskieren. "In dieser ausweglosen Lage habe ich keine andere Wahl, als dieser ein Ende zu machen", heißt es in einem Abschiedsbrief an Adorno, seinen Freund "Teddie", der ihm (zusammen mit Horkheimer) das Einreisevisum in die USA und eine Arbeitsstelle bereits besorgt hatte. "In einem kleinen Dorf in den Pyrenäen, in dem mich niemand kennt, wird sich mein Leben vollenden." In einem schäbigen Zimmer des Hotels "Francia" nahm Benjamin eine Überdosis Morphium. Er lehnte jede ärztliche Hilfe ab und starb in der Nacht vom 26. zum 27. September 1940.

Am nächsten Tag erfolgte auf dem katholischen Teil des Friedhofes von Port Bou seine Beerdigung. 1945 wurde die Grabstelle neu vergeben und die sterblichen Überreste in das Beinhaus der Gemeinde verbracht. So trägt heute sein Grab nur symbolischen Charakter, aber es erinnert dennoch an den Mann, der hier seine Grenze fand, aber dem Vergessen entrissen werden soll. Auf dem ersten Terrassenabsatz, an einer Mauer, in einer Nische, die in den Stein gehauen wurde, hoch über dem Meer und mitten im Grün, entdeckt der Besucher einen Granitblock mit der Inschrift: "Walter Benjamin. Berlin 1892 - Port Bou 1942." Darunter, eingemeißelt (spanisch und deutsch), sein berühmtes Wort: "Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein." Denn, um einen Aspekt von Benjamins Geschichtsauffassung zu interpretieren, es verdient beachtet zu werden: Erst die tiefe Einsicht in die jeweilige historische Krisensituation, bei Kenntnis ihrer spezifischen Gefahrenmomente, macht es möglich, ein wahrheitsgemäßes Bild der Vergangenheit zu gewinnen. Die Krise des historischen Augenblicks definiert sich auch durch den möglichen Verlust eines bestimmten Vergangenheitsbildes. So kann es aus dem kulturellen Gedächtnis der Menschen verschwinden. Denn, so Benjamin, der Funke von Hoffnung muss der Geschichte durch Festhalten desselben erhalten bleiben. Das ist - unter den Bedingungen unserer Gegenwart - schwieriger als gedacht. Er war sich sicher: "...auch die Toten werden vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein. Und dieser Feind siegt hat zu siegen nicht aufgehört."

Wie wahr! Dieses Wort Benjamins ist als Gegenentwurf zu einer kanonisierten materialistisch dominierten Geschichtsphilosophie zu deuten, nach der der historische Prozess als logisches Kontinuum zu denken ist, das aber durch das "Bewusstsein der Gegenwart" aufgesprengt, d.h., widerlegt wird. Benjamin sah dabei in der Kunst das gültige Reflexionsmedium gesellschaftlicher Realitäten, die zugleich als Erklärungsmuster derselben fungiert. Er sah voraus, dass sein Exil ihm den Tod bringen würde. Zudem fehlten ihm hilfreiche Kontakte zu anderen Exilanten in Paris. Dennoch hatte er hier unentwegt, trotz publizistischer Misserfolge und ständiger Geldsorgen, an seinem "Passagen"-Werk weiter gearbeitet. Seine Vorstellungen vom Exil waren eindeutig und klar, ein Reflex seiner persönlichen Erfahrungen: Traditionsverlust, soziale Mobilität, Migrantentum, kulturelle Hybridität und Detorritalisierung. Im Kern hieß das: Ein Leben im Exil war und ist eine paradigmatische Form der menschlichen Existenz. Es beginnt mit dem Heimat-und Existenzverlust und endet mit der Auslöschung des Lebens, ein Prozess, der in Etappen verläuft.

Das erkannte Benjamin schon 1933. Er entwarf eine neue Vorstellung vom Wesen geschichtlicher Zeit und leitete davon die Aufgaben materialistisch denkender Historiker ab. Der Schock des deutsch-sowjetischen Paktes 1939 bewirkte den schärferen Blick Benjamins auf das Phänomen "gesellschaftlicher Fortschritt", das er als miserables Kontinuum sah. Es festigte sich seine Überzeugung, dass mit den "Fortschritten der Naturbeherrschung" die "Rückschritte in der Gesellschaft" im Zusammenhang stehen. Dennoch sei, so Benjamin weiter, mit dem Blick auf Kafka, "viel Hoffnung vorhanden, nur nicht für uns." Gemeint war besonders die Exil-Generation, der er angehörte.

Blick in den dunklen Eingang des Korridors - Foto: Wamito, gemeinfrei, via Wikimedia Commons [2]

Gedenkort 'Passagen'
Das Walter Benjamin Memorial des Künstlers Dani Karavan am Friedhof von Portbou, 30. Dezember 2009
Foto: Wamito, gemeinfrei, via Wikimedia Commons [2]

Erst 1979 ließ die Gemeinde auf Veranlassung der Sozialisten zu Ehren Benjamins eine Tafel an der Friedhofsmauer anbringen. Durch Initiative der in Port Bou gegründeten Walter-Benjamin-Stiftung entstand der Plan, ein Museum zu Ehren des deutschen Flüchtlings einzurichten. Wie der Vorsitzende der Stiftung versicherte, blieb es bei dem Vorhaben. Aus Geldmangel konnte es, trotz vorliegender Projektierung, bis jetzt nicht realisiert werden. Nur eine Fotoausstellung zur Biographie Benjamins existiert im unteren Teil des Gebäudes. Der israelische Künstler Dani Karavan hat dann, initiiert durch einen Vorschlag Richard von Weizsäckers, den Entwurf eines Memorials für Walter Benjamin geschaffen. Es befindet sich, inzwischen fertig gestellt, am Friedhof der Gemeinde, etwa 20 Meter über dem Meeresspiegel, auf einer felsigen Halbinsel, die die Bucht von Port Bou an der südlichen Flanke verengt. Seine Elemente sind aus rostigem Stahl gefertigt: eine Treppe, eingefasst mit Stahlwänden, führt nach unten, zum schäumenden Meer. Eine Glasplatte verschließt am Ende den Korridor. Auf ihr ist folgende Inschrift auf eingraviert, ein Wort Benjamins: "Schwerer ist es, das Gedächtnis der Namenlosen zu ehren als das der Berühmten."

Der Bau zog sich übermäßig in die Länge. Obwohl das BRD-Außenministerium bereit war, diesen zu finanzieren, intervenierten 1992 die Zeitungen "Bild" und "Neue Revue" wegen der Höhe der Kosten (980.000 DM), anschließend auch der Bundesrechnungshof. Ein typischer Fall, deshalb nicht weniger beschämend für dieses Deutschland. 1993 übernahmen deshalb Bundesländer, die katalanische Regierung, die Gemeinde Port Bou und Privatpersonen die Finanzierung. Endlich konnte das Denkmal am 15. Mai 1994 im Beisein Lisa Fittkos eingeweiht werden. Die Grundidee Karavans wurde umgesetzt, mit einfachen Mitteln: Wege, Treppen, kleine Plätze und die Akzentuierung von Elementen der Landschaft, den Felsenstrudel am Meer, die ruhige Linie des Horizonts, ein Olivenbaum, um Grenzsituationen und Grenzerfahrungen des Menschen zu visualisieren. Der Titel "Passagen", in Anlehnung an Benjamins Hauptwerk über die Geschichte des 19. Jahrhunderts, bezeichnet das vielschichtige des Schicksals Benjamins, das in diesem Begriff verborgen ist. Besondere Bedeutung gewinnt der Olivenbaum, Zeichen und uraltes Symbol für den Frieden, die Hoffnung und das Leben selbst, eingedenk des Funkens Hoffnung, von dem schon die Rede war, der jeder Tragödie innewohnt. Denn: Antifaschistische Gedenkstätten wie in Port Bou sind Bestandteil des humanistischen kulturellen Bewusstseins, das seinerseits eine Form des Widerstandes gegen die Barbarei ist.

Insofern ist der Besucher des Memorials aufgefordert, das Denkmal zu entschlüsseln und seine Magie, die es ausstrahlt, im positiven Sinne zu begreifen und umzusetzen. Es sei gestanden, dass ich mehrfach diesem Reiz nicht entgangen bin. Bisher drei Mal, von Argeles-sur-mer und Collioure über Banyuls-sur-mer und Cerbere nach Port Bou kommend. Das ist wohl nicht nur der überaus reizvollen Landschaft geschuldet, die gefangen nimmt. Und wer den Weg dorthin findet, sollte zum Memorial hochsteigen, den Korridor hinuntergehen, um plötzlich vor dem nahen Meer zu stehen und auf das (wenn auch symbolische) Grab Walter Benjamins einen Stein, es liegen dort sehr viele, legen.


Bildquellen:
[1] http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/thumb/c/cc/Walter_Benjamin_vers_1928.jpg/499px-Walter_Benjamin_vers_1928.jpg
[2] http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/d/d8/Walter_Benjamin_Memorial_Portbou_003.jpg

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Quelle:
© 2012 by Peter Fisch
mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 25. November 2012