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LÄNDER/118: Sachsen - "Geld, Credit, Speculationsgeist" - 1 (LTK)


Landtags Kurier Freistaat Sachsen 6/06

"Geld, Credit, Speculationsgeist" (Teil 1)
Eine vormärzliche Debatte über ein Aktiengesetz für Sachsen

Von Josef Matzerath


"Was für Riesenwerke in England, Frankreich und den Niederlanden an Canälen, Brücken, Eisenbahnen, Kohlewerken und industriellen Unternehmungen aller Art durch Actienvereine gelang", sei allgemein bekannt, erklärte Bernhard v. Lindenau am 10. September 1833 in der Zweiten Kammer des Sächsischen Landtags. Er habe stets gewünscht, "daß Aehnliches auch [in Sachsen] zur Anwendung und Ausführung kommen, daß dafür Alle gewonnen werden mögen, die Geld, Credit, Specualtionsgeist" besäßen. Leider seien aber viele Gelder von sächsischen Staatsbürgern in ausländischen Staatspapieren angelegt, statt in der einheimischen Industrie. Da Sachsen im Begriffe stehe, sich dem preußischen Handelsverein anzuschließen und daher bald in einen großen Markt integriert werde, müssten nun "Capital, Arbeit und Talent in Verbindung" gebracht werden, um Sachsen "zum deutschen Fabrikstaat, zum Mittelpuncte des deutschen Handels zu machen".

Gleich auf dem ersten konstitutionellen Landtag legte der Archeget der konstitutionellen sächsischen Verfassung und der daran anschließenden Staatsreformen ein Bekenntnis zur Förderung von Aktiengesellschaften ab. Denn die Regierung wollte vom Parlament die Genehmigung erhalten, eine Aktiengesellschaft zur Industrieförderung zu gründen. Mit 50.000 Talern jährlich wollte sie die Entwicklung von Innovationen fördern. Dem Landtag erschien das Projekt allerdings zu unausgegoren. Einige Parlamentarier meinten, das Fördervolumen sei viel zu gering, um einen nachhaltigen Effekt zu erzielen. Eine Aktiengesellschaft erschien manchen Parlamentariern für den erstrebten Zweck unangemessen. Stattdessen schlugen sie vor, eine staatliche Bank zu gründen. Andere glaubten, jegliche staatliche Maßnahme sei überflüssig, weil ein gutes Unternehmen immer eine Finanzierung finde.

Auf dem zweiten konstitutionellen Landtag brachte die sächsische Regierung dann einen Gesetzentwurf ein, der die rechtlichen Rahmenbedingungen für Aktienvereine festlegen sollte. Denn bereits drei Jahre zuvor hatten in Leipzig Bestrebungen begonnen, eine erste große Aktiengesellschaft in Sachsen zu gründen, um eine Eisenbahn von Leipzig nach Dresden zu bauen. Die Rechtslage für ein solches Unternehmen war aber im Königreich Sachsen noch unklar. Einer der heikelsten Punkte blieb die Frage, ob Aktionäre nur mit ihrem Anteil an der Aktiengesellschaft haften sollten oder ob sie mit ihrem gesamten Vermögen für das Risiko der Geschäfte eines "Actienvereins" einstehen müssten. Die Leipziger holten sich Rat bei einem Juristen ihrer Universität. Er empfahl ihnen, Statuten zu entwerfen, in denen sie die - wie man zeitgenössisch sagte - "solidarische Verpflichtung" ablehnten. Die Satzung der Aktiengesellschaft solle man, so lautete der gewiefte Rat, der Regierung zur Genehmigung vorlegen. Falls der Staat die Gründung bestätige, sei damit auch die Haftung der Aktionäre mit ihrem Privatvermögen ausgeschlossen. Dieser Weg erwies sich bekanntlich als erfolgreich. Im Jahre 1835 konnte die "Leipzig- Dresdner-Eisenbahngesellschaft" auf Aktienbasis gegründet werden. Offensichtlich hielt die sächsische Regierung es aber für geboten, sich für künftige Zulassungen von Aktiengesellschaften durch eine gesetzliche Regelung die Rückendeckung des Landtags zu sichern. Am 14. November 1836 ließ sie einen "Gesetz=Entwurf die Actienvereine betreffend" an die Zweite Kammer des sächsischen Parlaments gelangen.

Mit den Risiken des Aktienhandels hatte man im frühen 19. Jahrhundert bereits hinreichende Erfahrungen. Denn bereits in den beiden vorangegangenen Jahrhunderten waren viele Anleger durch große Spekulationen geschädigt worden. Beim so genannten Tulpenschwindel an der Amsterdamer Börse erzielte in den Jahren 1634-1637 der Handel mit Zwiebeln dieser Pflanzen astronomisch hohe Gewinne, bis die utopischen Preise dann in rasantem Tempo zusammenbrachen. Unter den Verlierern des Tulpenschwindels befand sich beispielsweise der Maler Rembrandt van Rijn, der sein Haus und Vermögen einbüßte. Auch zu Beginn des 18. Jahrhunderts platzten zeitgleich zwei große Spekulationsblasen, diesmal in Frankreich und England. Die französische Mississippi- Kompagnie hatte versprochen, Edelmetallminen in Nordamerika auszubeuten, die sie noch gar nicht entdeckt hatte. Sie stellte märchenhafte Gewinne in Aussicht und trieb zusätzlich den Wert ihrer Anteilsscheine durch die Ausgabe von Papiergeld hoch, für das es keinerlei Gegenwert gab. Kurz nachdem im Jahre 1720 dieser Aktienbluff und die Finanzakrobatik kollabiert waren, zerstoben in England auch die Phantasien, die die South Sea Company geweckt hatte. Sie gab vor, in der Südsee besonders lukrative Geschäfte machen zu wollen. De facto unternahm diese Gesellschaft aber nicht viel mehr, als Aktien zu emittieren und deren Kurs anzuheizen. Als die Geschäftspraktiken ruchbar wurden, waren auch in England viele Anleger um ihr Geld geprellt. Das berühmteste Opfer dieses Täuschungsmanövers war Isaac Newton, der 20.000 Pfund einbüßte.

Mit der beginnenden Industrialisierung erwiesen sich die Aktiengesellschaften dann aber doch als ein unverzichtbares Instrument, um Unternehmen, die für einzelne oder wenige Geldgeber zu groß und zu riskant waren, erfolgreich zu betreiben. Vor allem England, aber auch Frankreich, die Niederlande und die USA wurden in den Debatten, die der Sächsische Landtag der Jahre 1836/37 führte, als Vorbilder für die Handhabung von Aktiengesellschaften herangezogen. In Deutschland blieb bis zum Bau von Eisenbahn-Fernverbindungen und der dazu erforderlichen Montanindustrie die Beschaffung von Unternehmenskapital kaum ein Problem. Denn zuvor waren die erforderlichen Beträge vergleichsweise gering. Das Kapital sucht eher nach Anlagemöglichkeiten, als dass die Unternehmer Finanzierungsprobleme hatten. Für den Eisenbahnbau und die großen Montanbetriebe benötigte man aber das hundert- oder gar tausendfache des Kapitals, das bislang zur Errichtung einer der frühindustriellen Fabriken nötig gewesen war. Statt 10.000 bis 100.000 Taler waren jetzt 5, 10 oder 15 Millionen erforderlich. Der Dresdner Abgeordnete Christian Gottlieb Eisenstuck schätzte bei der Debatte, die die Zweite Kammer am 11. Januar 1837 über das Aktiengesetz führte, dass zu diesem Zeitpunkt in Sachsen bereits 18 bis 20 Millionen Taler in Eisenbahnaktien investiert waren, obwohl doch der Bau von Fernverbindungen gerade erst begonnen hatte. Im Vergleich dazu erforderte der Kauf eines Rittergutes lediglich 10.000 bis 100.000 Taler. Den neuen sehr viel größeren Kapitalbedarf konnte man in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht durch eine Bank finanzieren, weil es in Deutschland Kreditinstitute, die ein solches Finanzvolumen hätten ausleihen können, noch nicht gab. Aktiengesellschaften avancierten in dieser Situation zu zentralen Funktionsapparaten der modernen Ökonomie. Sie boten nicht allein Investitionschancen für vermögende Personen und für Privatbanken. Sie führten auch die im sprichwörtlichen Sparstrumpf gehorteten Millionen der kleinen Leute in den Wirtschaftskreislauf.

Um England, dem Pionierstaat der Industrialisierung, folgen zu können, musste Sachsen, ein Land mit hoher Gewerbetätigkeit, sich ebenfalls auf Aktiengesellschaften einlassen. Allerdings entstanden diese neuen Unternehmen vor einem anderen Hintergrund als in England, wo die Gewerbefreiheit schon allgemein eingeführt war und die Wirtschaft bereits in allen Bereichen Konjunkturzyklen folgte. Das war auch den Zeitgenossen klar. Der Abgeordnete Christian Gottlob Altenstädt aus Oschatz erklärte in der Zweiten Kammer, man könne eben Sachsen nicht in jeder Hinsicht mit England vergleichen: "In einem Staate, wo alle Handels=, Fabrik= und Handwerksunternehmungen frei sind, muß von anderen Grundsätzen ausgegangen werden, als bei uns, wo wir noch Handwerksverhältnisse haben, die eines freien Umtriebes nicht fähig sind." Altenstädt fürchtete, dass sich Unternehmen auf Aktienbasis bilden könnten, die "störend in alle Innungsverhältnisse eingriffen, wie sie verfassungsmäßig bis jetzt" in Sachsen bestanden hätten. Der Vertreter der Leipziger Kaufmannschaft, Carl Junghanns, bedauert in derselben Sitzung des Unterhauses die verpassten Entwicklungschancen. Man habe in Sachsen zwar seit der Frühen Neuzeit durch Kuxe das Geld zur Ausbeutung von Bergwerken zusammengetragen, aber dieses Verfahren leider nicht auf andere Wirtschaftszweige ausgedehnt. England habe durch eben dieses "Prinzip der Vereinigung" einen "großen Assoziationsgeist" hervorgerufen, der das Land auf die "Staunen erregende Höhe der Macht und des Reichthums ... gehoben" habe. Junghanns glorifizierte den Aufstieg Englands zur führenden Weltmacht als Folgewirkung allein der ökonomischen Liberalisierung: "Was England ist, ist es nur durch diesen Gesellschaftsgeist; denn noch im 17. Jahrhundert wurden seine Flotten von denen des kleinen Holland im Schach gehalten, und erst, als es zu Ende des genannten Jahrhunderts seine auf dieses Prinzip gegründeten Banken errichtete, als Gesellschaften England mit Kanälen wie mit einem Netz überzogen, und dieser Geist sich über das ganze Land verbreitete, da erst nahm England so an intensiver und extensiver Kraft zu, dass es nun über alle Meere des Erdballs herrscht."

Vor solchen Erfolgen verblassten die Kosten, die mancher Aktienkäufer durch Spekulationsblasen erlitten hatte. Seit eine Aktiengesellschaft für den Bau einer Eisenbahn von Dresden nach Leipzig begonnen hatte, herrschte auch in Sachsen Boomzeit für die Gründung von Aktiengesellschaften. Vom Maschinenbau über die Gaswerke bis zur Bierbrauerei entstanden Unternehmungen auf Aktienbasis. Sachsen gehörte gemeinsam mit dem Rheinland und Berlin zu den drei deutschen Industrialisierungskernen. Für Deutschland insgesamt gelang der industrielle Durchbruch erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Nach England, das bereits am Ende des 18. Jahrhunderts den Take off schaffte, gehörte Deutschland zur zweiten Generation der Industrialisierung, ebenso wie Frankreich, Belgien, Schweiz, Oberitalien, Katalonien, Holland, Schweden, die USA und Teile Österreich-Ungarns. In den 1830er Jahren begann ein europäischer Wettlauf darum, große Unternehmen zu gründen, die günstiger produzieren konnten als handwerkliche Betriebe. Wer rechtzeitig das Kapital zusammenbrachte, um einen Entwicklungssprung zu finanzieren, der konnte in- und ausländische Konkurrenten hinter sich lassen und den eigenen Wohlstand auf längere Zeit absichern. Die Staaten mussten aber die Rahmenbedingungen für solche Großprojekte schaffen. Damit gingen die Anforderungen an die Regierungen und Parlamente weit über Förderprogramme hinaus, wie sie die sächsische Regierung dem ersten konstitutionellen Landtag vorgeschlagen hatte und wie sie schon seit dem Ende der Frühen Neuzeit gang und gäbe waren.

Für das Rechtsdenken der Zeitgenossen war dies aber eine große Herausforderung. Denn die Erfahrung im eigenen Land war noch gering und es gab weder ein sächsisches Handelsgesetzbuch noch ein bürgerliches Gesetzbuch, das Maßstäbe für die Handhabung von Aktiengesellschaften geliefert hätte. Außerdem waren Sachsens Juristen weithin am römischen Recht geschult, das keine Wirtschaftsunternehmen auf Aktienbasis kannte. Dort galt als Standard eine Gesellschaft, die von mehreren Personen gegründet wurde, um mit vereinten Kräften einen Zweck zu verfolgen. Aber es durfte den Teilnehmern an einer solchen Societas kein Mitglied aufgedrängt werden. Bei einer Aktiengesellschaft waren die Anteilsscheine frei handelbar. Wer Aktionär eines Unternehmens war, ließ sich nicht einmal sicher ermitteln, geschweige denn kontrollieren. Das bedingte einen weiteren zentralen Unterschied. Denn die Mitglieder einer Handelsgesellschaft herkömmlichen Typs standen mit ihrem gesamten Vermögen für die Geschäfte ihres Unternehmens ein. Wie sollte man aber einen Aktionär über den Wert seiner Anteilsscheine hinaus haftbar machen können? Wohnte er im Ausland, war er möglicherweise durch andere Gesetze geschützt. Die einzig praktikable Lösung bestand darin, eine Aktiengesellschaft als juristische Person zu behandeln. In der Debatte der Zweiten Kammer exemplifizierte Eduard v. Wietersheim, der als Regierungskommissar mit dem Landtag über das Aktiengesetz verhandelte, die Problemlage mit einem Beispiel: "Denken Sie sich den Fall, daß die Leipziger Eisenbahn=Gesellschaft von dem Lieferanten eine Lieferung Eisen nicht annimmt, weil sie es für unbrauchbar erklärt, der Lieferant will sich damit nicht begnügen und will gegen die Gesellschaft klagbar werden. Gegen wen hat er nun zu klagen? gegen die Inhaber von 15.000 Actien?" Ein solches Verfahren war fraglos unpraktikabel. Bei der Debatte in der Ersten Kammer argumentierte v. Wietersheim am 4. März 1837 ähnlich plakativ für die begrenzte Haftung der Aktionäre: "Man denke sich den Fall, ... daß der, der niemals in dem Verein Bier getrunken hat, angehalten würde, alles Bier zu bezahlen, was die Gesellschaft im ganzen Jahr consumierte". Deshalb meinte der Regierungskommissar, dürfe man Anteilseigner an Aktiengesellschaften nicht in gleicher Weise wie die Teilhaber einer Personengesellschaft regresspflichtig machen. Das Risiko, sich auf ein großes und auch schon deshalb unüberschaubares Unternehmen einzulassen, sollte für den Anleger kalkulierbar bleiben. Schließlich leitete der Aktionär die Geschäfte der Aktiengesellschaft nicht selbst. Er schätzte sie ab, überschaute sie aber in den Details nicht einmal.

Fortsetzung folgt


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Quelle:
Landtags-Kurier Freistaat Sachsen 6/2006, Seite 21-23
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Februar 2007