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FUNDSTÄTTEN/020: Lahr-Dinglingen - Bauen mit Holz, Lehm und Stroh (uni'leben - Uni Freiburg)


uni'leben - 02/2012
Die Zeitung der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Bauen mit Holz, Lehm und Stroh

Der Archäologe Alexander Heising lässt den Alltag einer Römersiedlung in der Ortenau wieder aufleben

von Claudia Füßler



In dem langen Haus mit Lehmboden und Brunnen hinten im Hof hat zunächst ein Fleischer gelebt. Später zog ein Töpfer ein. Im hinteren Teil des Gebäudes brannte er Krüge und Schalen, die er an der schmalen Giebelseite, die zur Straße zeigte, zum Verkauf anbot. Zwei Generationen später konnten Bewohnerinnen und Bewohner der Siedlung im selben Haus Eisenwaren kaufen. So könnte es sich vor gut 2.000 Jahren im Lahrer Stadtteil Dinglingen abgespielt haben. Vielleicht war es aber auch ganz anders.

Das herauszufinden ist die Aufgabe von Alexander Heising. Der Professor für Provinzialrömische Archäologie an der Universität Freiburg wird in den nächsten Jahren mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, Kolleginnen und Kollegen die Funde in Lahr-Dinglingen auswerten - eine der größten Flächengrabungen in einer römischen Siedlung in Baden-Württemberg. Sie ist auch deshalb so interessant, weil es sich um eine Zivilsiedlung handelt. "Wenn die Leute Römer hören, denken sie sofort an Soldaten. Dabei waren die meisten Römer Zivilisten", sagt Heising. Sie haben in Lahr-Dinglingen im 2. Jahrhundert nach Christus in Holzhäusern gelebt, geliebt, Handwerk und Handel betrieben. Den damaligen Alltag der Menschen möchte Heising aufarbeiten und wieder aufleben lassen.

Für die Landesgartenschau 2018 soll ein Haus aus der Römerzeit originalgetreu wiederaufgebaut werden. Ein so genanntes Streifenhaus, das 50 bis 60 Meter lang ist und dessen wenige Meter breite Giebelseite zur Straße hin ausgerichtet ist. "Wir hoffen, dass wir aus den Funden einen Bauplan erstellen können. Dann werden wir die Materialien verwenden, die die Römer benutzt haben: Holz, Lehm und Stroh", erklärt Heising. "Vielleicht gestalten wir nur einen Teil des Hauses fertig, im restlichen Teil können Besucherinnen und Besucher den Aufbau live miterleben und zum Beispiel selber den Lehmboden festtreten."


Bei der Grabung gilt der wissenschaftliche Ehrenkodex

Bis es so weit ist, liegt noch ein gutes Stück Arbeit vor ihm und seinem Team. Zehn Jahre lang wurde in Lahr-Dinglingen gegraben, auf einer Fläche von mehr als einem Hektar wurden mindestens zehn übereinanderliegende Siedlungsschichten aufgedeckt. Etwa 200.000 Einzelfundstücke haben die Archäologinnen und Archäologen dokumentiert. "Diesen Wust zusammenzudampfen auf eine wissenschaftliche Analyse und eine Publikation, das macht die Archäologie aus", sagt Heising. Jede Auswertung könne nur so gut sein wie die Dokumentation, die ihr zugrunde liege. Denn was Mitarbeitern vor Ort vielleicht entgeht, ist verloren - eine Bronzemünze zum Beispiel, die im Dreck nicht zu sehen ist, oder eine Tonscherbe. Bei der Grabung gilt der wissenschaftliche Ehrenkodex: Alles, was das Team auf dem Gelände entdeckt, muss es auf Fotos und in Beschreibungen festhalten. "Natürlich passieren auch mal Fehler, wir sind alle Menschen. Aber generell arbeiten wir mit größtmöglicher Präzision."

Mitunter werden Funde dokumentiert, bei denen selbst erfahrene Kollegen nicht wissen, um was es sich genau handelt. Ein Ofen zum Beispiel ist auf den ersten Blick gut erkennbar. Doch handelt es sich um einen Töpfer- oder einen Räucherofen? Oder wurde Bronze drin geschmolzen? "Da muss man ins Büro und Bücher wälzen, um hoffentlich bei Ausgrabungen anderer Länder fündig zu werden. Vielleicht entdecke ich die gleiche Ofenform, und Kollegen aus Frankreich oder Österreich haben darin Bronzereste gefunden. Also weiß ich: Unser Ofen ist mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Bronzeschmelzofen", erklärt Heising. Große internationale Datenbanken, in denen alle Funde gespeichert sind, gibt es bisher nicht. "Zwar haben wir diverse kleinere Datenbanken, aber weil jedes Foto detailliert beschrieben werden muss und die Angaben schlecht zu vereinheitlichen sind, gestaltet sich die Idee einer Gesamtdatenbank schwierig." Bleiben das Suchen in Büchern und anderen Publikationen sowie der Austausch mit anderen Archäologen. "Ich sage meinen Studierenden immer: Das Wichtigste ist, miteinander zu reden, denn einer alleine kann gar nicht alles wissen, um sämtliche Funde richtig zuordnen zu können." Dann wird auch mal informell eine Facebook-Anfrage unter Kollegen gestartet: Hat jemand diese Form schon gesehen? Was könnte das sein?


Ein Beet mit historischen Kulturpflanzen

Essenziell für die Auswertung sind so genannte Stratigrafien und Zeichnungen, die bei der Grabung von Hand angefertigt werden. Die Zeichnungen und der begleitende Text gelten als Hauptdokument. Archäologen können schon beim Übertragen der Funde auf Papier interpretieren und zum Beispiel Schichten, die ihnen besonders wichtig erscheinen, stärker hervorheben. Eine Stratigrafie ist ein vertikales Bodenprofil, aus dem die Archäologen einzelne Schichten herauslesen: gestampften Lehm, mit dem ein verunreinigter Boden im Haus abgedeckt wurde, zum Beispiel. In Lahr-Dinglingen finden sich in einer 60 Zentimeter dicken Bodenschicht Überreste von rund 200 Jahren Siedlungsgeschichte. "Diese Zeitschichten müssen wir auseinanderklamüsern", sagt Heising.

Das Lieblingsfundstück der Archäologen ist die Münze - eine unschätzbare Hilfe beim Datieren einer Ausgrabungsstätte. "Inschriften sind besonders aussagekräftig und lassen relativ einfach Rückschlüsse zu, aber davon haben wir hier leider selten welche", sagt Heising. Dafür bietet die am besten erforschte römische Siedlung am südlichen Oberrhein andere Besonderheiten. Brandgräber von Erwachsenen zum Beispiel. Die durften nach römischem Gesetz nur außerhalb einer Siedlung angelegt werden. "Das deutet darauf hin, dass wir einen Siedlungsrand vorliegen haben und die Siedlung irgendwann verkleinert wurde." Ein archäobotanischer Schatz sind die sechs Brunnen, die auf dem Gelände entdeckt wurden. Auf deren Grund haben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Pollen von 300 Pflanzenarten gefunden, die zu römischen Zeiten in und um die Siedlung gestanden haben müssen: unter anderem Nacktweizen und Emmer, Flaschenkürbis und Schildampfer, Spatzenzunge und Roter Fingerhut. Diese "Lahrer Liste", schwärmt Alexander Heising, könne man ebenfalls zur Landesgartenschau auferstehen lassen und zum Beispiel ein Beet mit historischen Kulturpflanzen anlegen, direkt hinter dem Streifenhaus.

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Quelle:
uni'leben - 02/2012, Seite 1
Herausgeber: Albert-Ludwigs-Universität Freiburg,
der Rektor, Prof. Dr. Hans-Jochen Schiewer
Redaktion: Eva Opitz (Redaktionsleitung),
Rimma Gerenstein, Nicolas Scherger
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Mai 2012