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FORSCHUNG/131: Weltgeschichte als Horizont (uni'kon Uni Konstanz)


uni'kon 37|10 - Universität Konstanz

Weltgeschichte als Horizont

Der Konstanzer Historiker und frisch gekürte Leibniz-Preisträger Prof. Jürgen Osterhammel sieht in seinem Werk "Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts" mit wechselndem Blickwinkel auf seinen Forschungsgegenstand

Von Jürgen Graf


19. Jahrhundert: Man hört die Uhren ticken. Erstmalig maschinell hergestellt werden die kompakt gewordenen Zeitmessgeräte zur industriellen Massenproduktion und unterwerfen die westliche Zivilisation ihrem Zeitschlag. Wo zuvor an jedem Ort ein anderes Stündlein geschlagen hat, zeigt nun die Uhr allerorten eisern die vereinheitlichte Zeit. Denn beinahe jeder kann sie nun haben, sie ist transportabel, dadurch ortsungebunden und dennoch an allen Orten: im Wohnzimmer, in der Westentasche und vor allem in der Fabrik. Dort ordnet und diszipliniert sie die Menschen, bringt einen verstetigenden Taktschlag in die Arbeitsprozesse, die zuvor unregelmäßig und ungleichmäßig abgelaufen waren. "Überall wurde die Uhr zur Waffe der Modernisierung", beschreibt der Konstanzer Geschichtsprofessor Jürgen Osterhammel den chronologischen Wandel im 19. Jahrhundert: "Die Uhr wurde zu Emblem wie Hauptvehikel der westlichen Zivilisation."

Dennoch ist das mechanisierte Ziffernblatt für das 19. Jahrhundert nur ein Emblem unter vielen, genauso wie das Kapitel über die Zeit in Jürgen Osterhammels Buch "Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts" lediglich ein Ausschnitt aus einem Panoptikum an Kapiteln und Perspektiven auf ein Stück Weltgeschichte ist. Es wäre zu einfach, den Zeitenwandel eines Jahrhunderts nur mit einer Uhr zu erklären, ebenso wie es zu einfach wäre, ein Jahrhundert nur im Panorama Europas zu betrachten. "Alle Geschichte neigt dazu, Weltgeschichte zu sein", setzt Osterhammel in seinem Buch ein und nennt in diesen ersten Worten das Schlüsselprinzip einer neuen Geschichtsbetrachtung: Wo die Weltgeschichte der Horizont ist, darf eine Fokussierung auf Nationengeschichte nicht länger der Ankerpunkt sein - nein, eine solche Geschichtsschreibung muss sogar die Idee eines fixen Ankerpunktes verwerfen.

Osterhammel prägt mit seinem Werk eine Geschichtsschreibung der dezentralisierten Perspektivik, der wechselnden Blickwinkel auf die Welt. "Man muss sich von vornherein die Freiheit und die Fantasie schaffen, Standpunkte zu wechseln, simulativ die Welt von unterschiedlichen Positionen aus zu sehen", bekräftigt Osterhammel. "Ich versuche, eine Art von methodischem Zirkel zu durchlaufen, der damit beginnt, dass die analytische Sicht keine von Europa aus nach außen ist. Meine Idee ist es, die Aufmerksamkeit auf diese globalen Zusammenhänge zu lenken - nicht die eigene Geschichte für das Selbstverständliche und alles andere für das Fremde zu halten." Osterhammel fokussiert damit "eine Globalgeschichte, die nicht unbedingt eine Geschichte der Globalisierung ist." Mit der Dynamik einer beständigen Verlagerung der Blickpunkte schreibt er gegen jede Form der zu einseitigen Darstellung an und vermeidet jederlei Extremposition. Osterhammel versucht, auch den blinden Fleck in der großen Geschichtsschreibung miteinbeziehen. "Wenn man nur die Fernhandelsströme sieht, dann wird das Geschichtsbild auch wieder sehr einseitig. So einseitig, wie eine rein beschränkte, umgrenzte Nationalgeschichte es gewesen war, kann auch eine verabsolutierte oder übertriebene Globalgeschichte werden. Zur Geschichte der Globalisierung gehört auch das Nicht-Globalisierte, das Nicht-Vernetzte. Die Herausforderung ist, das Nationale in einem größeren Zusammenhang zu sehen, die Balance zu bestimmen zwischen den Kleinräumen und den Großräumen."

Das 19. Jahrhundert, das Osterhammel uns schildert, ist ein Jahrhundert der Prozesse, der Bewegung und der Transformation, eben der "Verwandlung der Welt". Es ist eine Zeit, in der sich die Gestalt der Städte grundsätzlich verändert, in der die Stadtmauern verschwinden und stattdessen Eisenbahnschienen gelegt und Industrieanlagen geschaffen werden. Es ist die Zeit der großen Migrationsströme: "Es hat nie davor und eigentlich auch nie wieder solch umfassende Migrationsbewegungen gegeben." Die Grenzlanderschließung, die Verschiebung der "frontier", ist ein allgemeines Muster jener Zeit: Gerade an den Siedlungsgrenzen stieg die agrarische Produktivität - neben dem industriellen Wachstum eine nicht zu unterschätzende Grundlage der Expansionsprozesse.

Mehr als vieles andere ist das 19. Jahrhundert die Zeit der Industrialisierung. Es ist bezeichnend für Osterhammels Ansatz, dass ihn auch in diesem Kontext gerade die Lücken im System interessieren. Wenn er von der Industrialisierung spricht, so interessiert ihn insbesondere ihre sehr ungleichmäßige Durchsetzung in den Teilen der Welt. Wenn er die Rolle Europas erörtert, so beschäftigt er sich vor allem damit, wie diese auch außerhalb Europas verstanden wurde. Erneut verlagert Osterhammel den Blickwinkel und lässt das Vexierbild des 19. Jahrhunderts in seiner Beweglichkeit verständlich werden.

"Es ist mir besonders wichtig zu sagen, dass das 19. Jahrhundert kein Jahrhundert der Nationalstaaten war, sondern der Imperien oder der in Imperien eingebetteten Nationalstaaten." Nichtsdestotrotz ist es das Jahrhundert Europas, denn niemals wieder löste Europa so viel Wirkung in aller Welt aus: "Europa wurde von vielen Eliten als interessantes Modell betrachtet, in einer Mischung aus Faszination und Abwehr. Man verkannte auch nicht die Aggressivität Europas." Das Leitbild lautete: "Europa studieren, von Europa das übernehmen, was den eigenen inneren Reformstau auflösen könnte, aber sich Europa nicht ausliefern und das kulturell Eigene bewahren." Faszinierend wird Osterhammels Geschichtsschreibung durch ihre Vielschichtigkeit. Die "Verwandlung der Welt" macht er nicht nur an der Politik und den territorialen Bewegungen fest, stattdessen zeichnet er immer wieder mit viel Gespür die feinschichtigen gesellschaftlichen und kulturellen Prozesse. So kennzeichnet er jene Zeit als ein Jahrhundert der Selbstbeobachtung, der Selbstarchivierung, ja der Konservierung des Wissens. Das 19. Jahrhundert dokumentierte sich in den Erinnerungshorten der Museen, Bibliotheken und der neu entstandenen Medien selbst. Es ist Osterhammel immerzu bewusst, dass sich die heutige Beschäftigung mit dieser Zeit vorrangig aus den Medienarchiven ihrer Selbstbeobachtung speist. Osterhammels "Verwandlung der Welt" lässt sich auch als Methodenlehre einer zeitgemäßen Geschichtsschreibung lesen - selbst wenn der Autor diesen Anspruch nicht explizit erheben möchte: "Ich glaube, den Historikern und der Öffentlichkeit sind schon zu viele erhobene Zeigefinger zugemutet worden. Meine Idee ist, jetzt nicht ein neues Paradigma aufzustellen und zu behaupten, es sei ein neuer Königsweg der Geschichtswissenschaft gefunden worden, sondern einfach Vorschläge zu machen in der Hoffnung, dass andere sie interessant finden. Unter anderem deswegen ist das Buch auch in einer leicht zugänglichen Sprache geschrieben und in dieser modularisierten Form komponiert worden - so dass man es nicht von vorne bis hinten durchlesen muss, so dass man eigentlich nichts verliert, wenn man mittendrin einsteigt."

"Mir geht es darum, Selbstverständlichkeiten behutsam zu ändern", bekundet Osterhammel. Der Wissenschaftler nimmt keine vorgeblichen Selbstverständlichkeiten hin. Mit einem feinfühligen Bewusstsein für Terminologien und ihre Hintergründe geht er bei Fragen immer einen Schritt zurück, klärt auch die Grundlagen und Voraussetzungen, sieht auch die Frage- und Antwortstellung in ihrem Prozess.

Sechs Jahre Entstehungszeitraum stehen hinter "Die Verwandlung der Welt", doch mit dem Druck des Buches ist sein Prozess noch lange nicht abgeschlossen. "Ich entwickle meist ein Buch aus dem anderen", gestattet Osterhammel einen Ausblick auf die Zukunft. Sein nächstes Buchprojekt wird das jetzige Kapitel über "Zivilisierung" und Ausgrenzung vertiefen und die Ideologie einer kulturellen Hierarchie ausleuchten - vor allem im 20. Jahrhundert. Ergänzend zur "Verwandlung der Welt" wird im kommenden März Osterhammels Buch "Die Entzauberung Asiens. Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert" in neuer Auflage erscheinen. Im Dezember 2009 wurde Jürgen Osterhammel der renommierte Leibniz-Preis zugesprochen, der ihm die Möglichkeit einer Neuprägung seiner Forschung gewährt: "Es öffnet sich plötzlich wie auf einer Bühne der Vorhang zu einem großen Horizont."

www.uni-konstanz.de/FachGeschichte


Prof. Jürgen Osterhammel, Lehrstuhlinhaber für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Konstanz, ist Gottfried Wilhelm Leibniz-Preisträger 2010. Er ist damit einer von neun Wissenschaftlern und einer Wissenschaftlerin, die aktuell von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) mit dem bedeutendsten deutschen Forschungspreis ausgezeichnet wurden, und bereits der sechste Leibniz-Preisträger der Universität Konstanz. Mit der Ehrung ist ein Preisgeld von 2,5 Millionen Euro verbunden, das der Wissenschaftler in den nächsten sieben Jahren nach eigenen Vorstellungen für seine wissenschaftliche Arbeit zur Verfügung hat. Verliehen wird der Preis am 15. März 2010 in Berlin.

Mit seinem Buch "Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts" stieß Jürgen Osterhammel in diesem Jahr nicht nur auf großes Interesse der Fachwelt, sondern erntete dafür auch in der bundesweiten Presse begeisterte Besprechungen. Im vergangenen Herbst wurde es mit dem erstmals ausgelobten NDR Kultur-Sachbuchpreis als bestes Sachbuch 2009 ausgezeichnet.

Das Monumentalwerk wird denn auch eigens in der Würdigung der Deutschen Forschungsgemeinschaft genannt. In der Begründung für die Auszeichnung heißt es, Jürgen Osterhammel habe entscheidend dazu beigetragen, die deutsche Geschichtswissenschaft für welthistorische Themen und Fragestellungen zu öffnen. Durch eine Reihe bahnbrechender Werke zur europäischen und außereuropäischen Geschichte zähle der Konstanzer Historiker zu den auch international anerkanntesten Vertretern einer neuen Form von Geschichtsbetrachtung, die die neuzeitliche Globalisierung in all ihren politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Aspekten erfasse. In seinen Arbeiten gelinge Osterhammel immer wieder eine meisterhafte Verknüpfung der Sozial-, Politik- und Strukturgeschichte mit der Ideen-, Wissens- und Kulturgeschichte.

Nach dem Studium in Marburg, Hamburg, Kassel und London promovierte Jürgen Osterhammel in Kassel und habilitierte sich nach einer Station am Deutschen Historischen Institut in London schließlich in Freiburg. Nach Professuren an der FernUniversität Hagen und in Genf lehrt und forscht Osterhammel seit 1999 Lehrstuhlinhaber in Konstanz.


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Quelle:
uni'kon 37|10, S. 5-7
Herausgeber: Der Rektor der Universität Konstanz
Redaktion: Claudia Leitenstorfer, Dr. Maria Schorpp
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Juli 2010