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FORSCHUNG/121: Bronzener Dreifuß gegen zwölf Rinder - Wertsysteme hinter materiellen Gütern (idw)


Goethe-Universität Frankfurt am Main - 13.11.2009

Bronzener Dreifuß gegen zwölf Rinder
Welche Wertsysteme verbergen sich hinter materiellen Gütern?


FRANKFURT. In Kunstkammern, Museen und Kuriositätenkabinetten lagern Keramikgefäße, Skulpturen, Schmuck- und Kleidungsstücke, Werkzeuge und Münzen - doch was steckt hinter diesen materiellen Hinterlassenschaften vergangener Zeiten? Was sagen diese authentischen Zeugnisse aus über Zusammenleben und Alltag verschiedenster Gesellschaften, über ihre Wertvorstellungen, über Werte, die Gegenstände erst durch kulturelle Praktiken und im Tauschhandel erhalten? Mit solchen Fragen werden sich elf Doktoranden in den kommenden viereinhalb Jahren im Graduiertenkolleg 'Wert und Äquivalent. Über Entstehung und Umwandlung von Werten aus archäologischer und ethnologischer Sicht' beschäftigen können.

Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) hat soeben die Einrichtung des Graduiertenkollegs an der Goethe-Universität bewilligt. Jetzt kann die Auswahl der interdisziplinär ausgerichteten Nachwuchswissenschaftler beginnen. Sie werden für ihre Dissertationen in Indonesien, im Vorderen Orient, in verschiedenen europäischen Ländern sowie in Afrika und Nordamerika forschen. Die geplanten Projekte befassen sich mit Fallstudien, die vom 4. Jahrtausend v. Chr. bis in die Gegenwart reichen.

Den erfolgreichen Antrag hatten zehn Professorinnen und Professoren aus den Archäologischen Wissenschaften und der Ethnologie der Goethe-Universität sowie einer Professorin der Technischen Universität Darmstadt gestellt. Unterstützt werden sie von Kooperationspartnern ihrer Universitäten sowie anderer Hochschulen und Museen im In- und Ausland. Diese vertreten die Wirtschaftswissenschaften, Ethnologie, Geowissenschaften, Archäometrie, Alte Geschichte, Klassische Philologie und die museale Praxis. "Das Graduiertenkolleg eröffnet uns die Chancen, in einem Bereich der Geisteswissenschaften, in dem wir seit Jahren exzellent aufgestellt sind, Doktoranden und Post-Doktoranden mit maßgeschneiderten Stipendien bis zu 36 Monaten zu unterstützen. Darüber hinaus werden wir sie mit einem differenzierten Betreuungskonzept begleiten und auch in Praxisfeldern fördern. So stehen auch die Erarbeitung und Umsetzung von Ausstellungskonzepten auf der Agenda", sagt Prof. Manfred Schubert-Zsilavecz, als Vizepräsident der Goethe-Universität zuständig für den wissenschaftlichen Nachwuchs. "Aber das ist nicht alles, auch die Studierenden und Wissenschaftler profitieren von den Möglichkeiten des Graduiertenkollegs: So können internationale renommierte Gastwissenschaftler regelmäßig zu Vorträgen, Workshops und Tagungen nach Frankfurt eingeladen werden", ergänzt der Sprecher des Graduiertenkollegs, Prof. Dr. Hans-Markus von Kaenel vom Institut für Archäologische Wissenschaften.

Die Frankfurter Ethnologen und Archäologen beschäftigen sich schon seit einigen Jahren in unterschiedlichen Forschungsprojekten mit der materiellen Kultur als authentischem Zeugnis vergangener Kulturen und Handlungen, aber zugleich auch als Mittel, die Vergangenheit zu rekonstruieren. "Wir gehen davon aus, dass Handeln, kulturelles Wissen und soziale Realität in Objekten archiviert sind, dazu gehören einfache Gebrauchsgegenstände genauso wie Sakral-, Prestige oder Tauschobjekte," erläutert Prof. Hans Peter Hahn, Institut für Ethnologie und stellvertretender Sprecher des Graduiertenkollegs. Diese Gegenstände haben einen Wert, der von Kultur zu Kultur, aber auch von Epoche zu Epoche ganz unterschiedlich ausfällt, weil er das Ergebnis von gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen ist. "Wert und Äquivalenz" sind die zentralen Begriffe, die die Wissenschaftler in Forschung und Theorienbildung intensiv beschäftigen werden. Was verbirgt sich dahinter? Dazu der Sprecher des Kollegs, Prof. Dr. Hans-Markus von Kaenel vom Institut für Archäologische Wissenschaften: "Zu jedem Wert, beispielsweise einem Eisenbarren, gehört das Äquivalent, beispielsweise eine bestimmte Menge Getreide oder ein kunstvoll gefertigtes Metallgefäß. Wie die beiden Schalen einer Waage müssen Wert und Äquivalent ausgewogen sein. Dieser Ausgleich geschieht durch das Aushandeln innerhalb der beteiligten sozialen Gruppen, am Ende dieses Prozesses steht ein von der jeweiligen Gesellschaft akzeptiertes Wertesystem."

Ein Teil der Forschungsvorhaben befasst sich mit der Frage, wie Werte erzeugt werden und in einer bestimmten Gesellschaft zirkulieren. Andere zielen auf die Transformation von Werten, wenn bestimmte Gegenstände über kulturelle Grenzen hinweg gehandelt oder transportiert werden. "Stets geht es dabei um die Verknüpfung von methodischen Kompetenzen im Feld der materiellen Kultur mit aktuellen theoretischen Debatten über die Beschreibung von Werten als Eigenschaft von Dingen", so Hahn.

Die Professoren haben in ihrem Antrag bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft bereits eine Vielzahl möglicher Dissertationsvorhaben skizziert. Zwei Beispiele. Aus dem Projektantrag des Archäologen Prof. Wulf Raeck: Die Auflistung für die verschiedenen Wettkampfdisziplinen bei den Leichenspielen des Patroklos (Ilias 23), die zum Bestattungsritus des griechischen Adels in archaischer Zeit gehörten, zeigt, wie komplex das Zusammenspiel von Wert und Äquivalent sich darstellt: Der erste Preis im Ringkampf ist ein großer bronzener Dreifuß, er entspricht dem Wert von zwölf Rindern oder dem von drei gut ausgebildeten Sklavinnen. Ein silberner Krater aus Phönizien, ein großes Gefäß mit breiter Mündung, wird wegen seiner handwerklichen Qualität als erster Preis im Wettlauf ausgesetzt und wird damit wertvoller als ein fetter Ochse oder ein halbes Talent Gold eingestuft. Die Wertverhältnisse ändern sich in der Folgezeit und dies scheint abhängig davon, wie sich die Beteiligten sozial repräsentieren, aber auch von der Verfügbarkeit des Materials und den veränderten Herstellungstechniken. Doch diese Bewertungskriterien gilt es nun detaillierter zu untersuchen.

Ein Beispiel aus der Ethnologie: Als die Europäer nach Nordamerika kamen, fanden sie an der Atlantikküste zu länglichen Perlen verarbeitete Muscheln vor, die in der gesamten Region als Wertgegenstände geschätzt wurden und gleichzeitig Geldfunktion ausübten. Es handelte sich um Wampum, was in den Sprachen der Küstenalgonquin soviel wie 'weiße Schnüre aus Muschelschalen' bedeutet. Die Küstenstämme verweigerten die Einführung von Ersatzprodukten wie etwa Glasperlen, Kauris oder Münzen, die für die Kolonialmächte vorteilhaft gewesen wären. So erzwangen die Küstenalgonquin, dass Wampum als Tausch- und Zahlungsmittel akzeptiert wurde. Wampum wurde zum Bindeglied dreier Kulturen, den Küstenstämmen, den europäischen Siedlern und der einflussreichen Irokesenliga im Landesinneren. Zeitweise stieg Wampum sogar zum legalen Zahlungsmittel in einigen englischen Kolonien und den Neuen Niederlanden auf. Der Stellenwert, den Wampum in den indigenen Gesellschaften und im interkulturellen Austausch hatte, soll jetzt näher untersucht werden. Betreut wird dieses Thema von dem Ethnologen Prof. Marin Trenk.

Nachwuchswissenschaftler des Graduiertenkollegs werden sich vornehmlich mit dem Umgang mit materiellen Kulturgütern und ihrem Transfer beschäftigen. Hier könnte es einen gewinnbringenden Austausch auch mit den Forschern des Exzellenzcluster 'Herausbildung normativer Ordnungen' an der Goethe-Universität geben, die sich vorrangig mit immateriellen Normen und Werten beschäftigen. "Von diesem Komplementärverhältnis des Graduiertenkollegs und des Exzellenzclusters erwarten wir erhebliche Synergieeffekte", freut sich Prof. Matthias Lutz-Bachmann im Präsidium der Goethe-Universität zuständig für die Geisteswissenschaften und selbst Mitglied im Exzellenzcluster.

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/pages/de/institution131


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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Goethe-Universität Frankfurt am Main, Ulrike Jaspers, 13.11.2009
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 17. November 2009