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DISKURS/036: 1968 im Kontext - Entstehungsbedingungen einer Linkswende (spw)


spw - Ausgabe 3/2019 - Heft 232
Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft

1968 im Kontext: Entstehungsbedingungen einer Linkswende

von Michael Vester[1]


Nur wenige Ereignisse wirken so als Scheidemarken wie das symbolisch hoch aufgeladene "1968". Die neue Mobilisierungskraft der Partei "Die Grünen" lebt von der Aktualität dieses Gegensatzes zwischen "progressiv" und "reaktionär". Die neue Mobilisierung des Rechtspopulismus - und des Rechtskonservatismus - lebt von der Rolle als Gegenpart zu "1968". Der neue Aufschwung junger Protestbewegungen erinnert an die weltweiten Proteste der 1960er Jahre. Er erscheint als "neue APO", als eine Erneuerung der "außerparlamentarischen Opposition", die von 1967 an unsere politische Öffentlichkeit von der Basis her mobilisierte und die Politik der Volksparteien grundlegend in Frage stellte. Bemerkenswert ist auch, dass die liberalen Stimmen aus den Medien und der Wissenschaft sich, wie damals, auf die Seite der Protestbewegungen stellen und deren Ziele zu Zielen erheben, die im Interesse aller sind.

Schon diese Parallelen zeigen, dass es nicht ausreicht, den nachhaltigen Effekt von "1968" allein auf spektakuläre Ereignisse oder einzelne Führungsfiguren zurückzuführen. Die Kollisionen von 1968 waren kein eigenständiges Ereignis. Sie markierten die Kulminationsperiode der großen Transformation unserer Gesellschaft in den vier Jahrzehnten der alten Bundesrepublik. Der Wirtschaftsaufschwung - die enorme Dynamik der Produktivkräfte im Marxschen Sinne - hatte seit den 1950er Jahren tiefgreifende Umschichtungen der sozialen Klassen und ihrer Lebensweisen nach sich gezogen, die nach 1960 in eine von neuen Generationen, Bewegungen und Allianzen getragene politische Öffnung für einen linken Reformismus und basisdemokratische Ansätze mündete.

Dieser Aufsatz beschränkt sich auf diese Aufstiegsbedingungen der Bewegungen. Aus Raumgründen nicht dargestellt ist der weitere Verlauf der ökonomischen und sozialen Strukturverschiebungen, durch die erst die dauerhafte, nachhaltige Wirksamkeit von "1968" entstand. Die weltweiten "Movements of the Sixties" waren Bewegungen von jungen Menschen im Ausbildungsalter und, ihren manifesten Zielen nach, keine Bewegungen für ökonomische Klasseninteressen oder wirtschaftliche Innovationen. Sie hatten aber einen emanzipatorischen Klassenhintergrund. Durch die Bildungsöffnungen gelangten mehr junge Frauen und mehr Arbeiter-, Bauern- und Angestelltenkinder als früher in die weiterführende Bildung.

Die Bewegungen waren nach Geschlecht, Klassenherkunft und regionaler Herkunft gemischt. Vordergründig waren sie Generationen- und Autoritätskonflikte, die primär nicht im ökonomischen, sondern im lebensweltlichen und im politischen Feld ausgetragen wurden. Aber mit der Zeit bildete sich die Entstehung neuer Klassenfraktionen zunehmend auch in der Berufsstruktur ab. Zahllose Studierende und Auszubildende, die von den Protestbewegungen beeinflusst waren, fanden Arbeitsplätze in den expandierenden und sich modernisierenden Dienstleistungen, vor allem in den Bildungs-, Gesundheits-, Sozial-, Publizistik-, Kultur-, Ordnungs-, Infrastruktur- und Technikberufen. Sie nahmen damit aktiv teil an den tiefgreifenden Veränderungen der gesamtgesellschaftlichen (d.h. inneren und internationalen) Arbeitsteilung: den Tendenzen zuD den Dienstleistungen, zur Feminisierung und zur Höherqualifikation und schließlich der Politik der Prekarisierung.

Die tiefgehende Umwälzung um "1968" entsprach ganz und gar nicht dem Schema eines durch Wirtschaftskrisen beförderten ökonomischen Klassenkonfliktes aus den Lehrbüchern der alten marxistischen Linken. Aber sie entsprach einem anderen Marx, der beobachtet hat, dass "die Produktivkräfte sich gleichzeitig mit dem Widerstreit der Klassen entwickelten" und damit auch "die materiellen Bedingungen ihrer Emanzipation" hervorbringen und dass es immer die jüngeren Generationen sind, die die neuen Produktivkräfte übernehmen und weiterentwickeln und diese selbst kontrollieren wollen - wie dies auch wieder die heutige jüngste Generation mit den neuen Kommunikationsmedien beansprucht (MEW 4: 140, MEW 3: 45; vgl. Vester 2019: 22-28).


1. Die Aktivisten: Eine breite Allianz von politischen, kulturellen und Jugendmilieus

Bis in die frühen 1960er Jahre waren die Bedingungen für neue politische Mobilisierungen ungünstig. Der gesellschaftliche Strukturwandel war noch nicht weit genug. Bis etwa 1965 konnten sich die CDU-geführten Regierungen auf stabile konservative Mehrheiten stützen. Diese Akzeptanz schien dauerhaft gewährleistet durch den unerwarteten kapitalistischen Aufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg, der durch das westeuropäische und atlantische Bündnis flankiert wurde, und durch die Teilhabe breiter Schichten an steigenden Lebensstandards und sozialen Sicherheiten. Die militärische Konfrontation des Kalten Kriegs und das abschreckende Bild des Kommunismus wurden dazu genutzt, auch die gemäßigte Opposition der SPD politisch auszugrenzen. Dem Konformismus der großen Medien entsprach eine anscheinende politische "Apathie" der Bevölkerung, die einerseits auf die "befriedende" Wirkung sozialpolitischer Kompromisse und andererseits auf eine autoritäre Alltagskultur, die abweichendes Verhalten nicht tolerierte, gegründet schien. Die bürgerlich-konservative Ordnung, die nach 1945 zunächst durch soziale Kompromissfähigkeit zur Hegemonie gelangt war, erstarrte zunehmend zu einem geschlossenen System, das eine Öffnung zu neuen Kompromissen erbittert bekämpfte.

Die Protestbewegungen blieben vorerst auf kleine Minderheiten von Aktivisten beschränkt. Die Proteste entzündeten sich zuerst an der politischen Repression im östlichen wie im westlichen Block, an kolonialistischen und rassistischen Politiken, an der Wiederbewaffnung, am atomaren Wettrüsten und an den Hinterlassenschaften des Nationalsozialismus. Die Proteste steigerten sich besonders seit 1956. Damals beendeten russische Panzer den Massenaufstand in Ungarn und erzwangen britisch-französische Bomben die Schließung des Suez-Kanals. Letzteres richtete sich gegen den ägyptischen Präsidenten Nasser, der zusammen mit dem jugoslawischen Präsidenten Tito einen blockfreien Weg der neuen unabhängigen Staaten in der Dritten Welt repräsentierte.

Diese Konflikte führten dazu, dass, zuerst in England, sich Strömungen intellektueller Dissidenten von den kommunistischen Parteien abspalteten und linkssozialistische Strömungen innerhalb und außerhalb der westlichen Sozialdemokratie anwuchsen. Seit 1958 wurde diese neue Richtung als "New Left" bezeichnet. Das Gemeinsame dieser in sich heterogenen Strömung war die Abgrenzung von der "alten Linken" der kommunistischen und sozialdemokratischen Parteien.

Ab 1960 wurden die Risse in den Machtblöcken spektakulär sichtbar. Mit der Entkolonisierung erlangten zahlreiche Länder der Dritten Welt ihre staatliche Unabhängigkeit. Im selben Jahr wurde John F. Kennedy zum Präsidenten der USA gewählt. Er hatte die neuen Herausforderungen durch das atomare Patt, durch die Entwicklungsländer sowie die Rassenfrage und andere innenpolitische Probleme als Chance eines neuen Aufbruchs, der "New Frontier", definiert. Dies ermutigte (auch wenn spätere Enttäuschungen über Kennedy nicht ausblieben) weltweit ein Anwachsen der Bewegungen, von den Protesten türkischer und japanischer Studierender bis zu den englischen und westdeutschen Ostermärschen für atomare Abrüstung und den anti-rassistischen Bürgerrechtsbewegungen in den USA und in Südafrika. Aus den Bewegungen von Hunderten wurden seit 1960 Bewegungen von Tausenden.

Eine Massenwirkung erreichte dieser Aufbruch dann aber nur, weil er neben den linken intellektuellen Zirkeln drei andere, große Milieus erfasste: die kulturellen Avantgarden, die Aktivisten der Arbeiterbewegung und das neue Milieu von Aktivisten der demokratischen Jugendkultur an den Schulen und Hochschulen.

Das Engagement der Avantgarden von Kunst, Literatur, Theater und Musik verlieh den 'kopflastigen' Linksintellektuellen eine neue Sensibilität für die dynamischen Strömungen des Jazz und des Beat und für deren Publikum in einer wachsenden nonkonformistischen Jugendkultur. Zudem konnten sie sich für neue Schichten öffnen. Viele der linkssozialistischen Aktivisten stammten aus akademischen Milieus. Sie standen aber in der seit dem 19. Jahrhundert wichtigen Tradition der Verbindung vieler Intellektueller mit den Aktivisten der Arbeiterbewegung in Gewerkschaften, Arbeiterparteien, Arbeiterjugendverbänden (wie "Falken" und "Naturfreunden") und der Arbeiterbildung. Zu den Aktivisten der sich erneuernden Linken gehörte auch eine wachsende Zahl von Arbeitern, Angestellten und Bildungsaufsteigern aus Arbeiterfamilien.

Die Neue Linke zog zudem viele an, die in den Konflikten der 1950er Jahre als Schülerinnen und Schüler der Gymnasien - wie auch heute wieder - ein besonders aktives Ferment bildeten. Zu ihnen gehörten vor allem Aktivisten aus der alten Bündischen Jugendbewegung, der Pfadfinder, der evangelischen und katholischen Jugend- und Studentenorganisationen, der deutsch-israelischen Jugendarbeit und der nach 1945 neu entstandenen Schüler- und Studierendenpresse sowie der Schülermitverwaltung. Dass sich solche neuen Milieus bilden konnten, war nicht zuletzt bedingt durch Institutionen der demokratischen Öffentlichkeit, Mitbestimmung und "Re-Education", die mit Hilfe der angelsächsischen Besatzungsmächte eingeführt worden waren. In den USA und in England waren bis 1951 progressive Regierungen an der Macht. Unter dem Einfluss von Anhängern des amerikanischen sozialistischen Bildungsreformers John Dewey (der später auch als Ideengeber der amerikanischen Studentenbewegung herangezogen wurde) wurden Schüler- und Studierendenparlamente und eine Schüler- und Studierendenpresse mit eigenen landes- und bundesweiten Verbänden institutionalisiert. Zwar waren die Gymnasien und die Hochschulen immer noch der Hort konservativer und deutschnationaler bürgerlicher Kräfte. Aber seit den Konflikten um die deutsche Wiederbewaffnung und der allmählichen Zunahme von Studierenden aus anderen sozialen Milieus konnte sich hier ein linkes Minderheitenlager profilieren, das nach 1965 schließlich zur Mehrheit wurde.

Die Funktion eines gemeinsamen Bezugspunkts wuchs dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) zu. Dieser war lange ein Verband des parteitreuen Nachwuchses der SPD gewesen. Das änderte sich spätestens seit dem "Studentenkongress gegen Atomrüstung" von 1959 (vgl. Vester 1960). Dieser war von unabhängigen Studentenausschüssen organisiert worden. Von der konformistischen Presse wurde der SDS als Veranstalter dieses angeblich von Kommunisten nah- und ferngesteuerten Kongresses heftig angegriffen. Die Verteidigung gegen diese ungerechtfertigten Angriffe beschleunigte die Entstehung einer Gegenöffentlichkeit an Schulen und Hochschulen, die in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre entscheidend zum Zustandekommen der antiautoritären Bewegung beitragen sollte. Durch diese Konflikte und seine Abgrenzung von der westlichen wie von der östlichen Blockpolitik wurde der SDS zum Orientierungszentrum einer wirklich unabhängigen "Neuen Linken". Zudem koordinierte er den Aufbau eines kontaktfreudigen neuen internationalen Netzwerks von linkssozialistischen, gewerkschaftlichen und studentischen Organisationen. Die SDS-Zeitschrift neue kritik wurde zum wichtigsten Forum, das die neuen Ideen und Bewegungen und die Kritik an der alten Linken der Sozialdemokratie und der Kommunisten diskutierte. Durch seine Unabhängigkeit und Offenheit wurde der SDS, über die bisherigen sozialistischen Kerngruppen hinaus, für viele Aktivisten der neuen demokratischen Jugendkultur attraktiv.

Aus dieser Opposition gegen die etablierten Mächte heraus erwarteten viele neulinke Aktivisten Veränderungen nicht von mächtigen Organisationen, Ideologien oder charismatischen Führern. Stattdessen setzten sie auf die Mobilisierung der real aus den historischen Bedingungen hervorgehenden Bewegungen. Dies war angesichts der noch überwiegenden politischen Apathie eine schwierige Aufgabe. Einerseits setzten die linkssozialistischen Aktivisten nach wie vor auf die Arbeiterklasse als wichtigsten Akteur einer Transformation der kapitalistischen Gesellschaft. Andererseits wurde ihnen immer mehr klar, dass dieser Akteur und der Kapitalismus sich selber erheblich verändert hatten und mit den traditionellen Konzepten der alten Linken nicht mehr zu begreifen waren.


2. Die arbeitende Klasse: Entproletarisierung, soziale Teilhabe, demokratische Mitbestimmung

In dem führerzentrierten Mythos, der sich auf die medienwirksamen Ereignisse allein des Jahres 1968 konzentriert, kommt die empirische Arbeiterklasse kaum als Akteur und allenfalls als Kulisse vor. Ohne sie sind aber wichtige soziale Machtverschiebungen, von der Durchsetzung der Mitbestimmung bis zu den spontanen Streikbewegungen zur Zeit der Protestbewegungen und den einzigartigen Wahlsiegen Willy Brandts, nicht erklärbar.

Das Festhalten an den arbeitenden Klassen als Akteuren historischer Veränderungen war nicht einfach ein ideologisches Relikt des Marxismus. In fast allen Industrieländern gab es seit dem 19. Jahrhundert enge Verbindungen der linken Fraktionen der Bildungsmilieus zur Presse- und Bildungsaktivität der Arbeiterbewegung. Auch nach 1945 wurde die enge, wenn auch nie spannungsfreie Zusammenarbeit mit einer starken Gewerkschaftslinken und dem linken Minderheitsflügel der Sozialdemokratie fortgesetzt. Wie sehr dieser Zusammenhang die Entwicklung der Bundesrepublik und anderer Länder mitgeprägt hat, ist aufgearbeitet in den großen neueren Biographien zu Otto Brenner, Heinz Brandt, Fritz Lamm, Monika Seifert, Hans Matthöfer, Olof Palme und Peter von Oertzen. In den Gewerkschaften gehörten viele Aktivisten zur Arbeiterintelligenz, die sich in der Weimarer Republik in der linken Arbeiterjugend sowie der linksreformistischen Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) und unter dem Faschismus im Widerstand engagiert hatte. Diese in vielen Ländern ähnliche Geschichte war eine wichtige Basis der nach 1960 aufblühenden Zusammenarbeit der linkssozialistischen Gewerkschafter in Westeuropa, deren Orientierung an den Facharbeitern zu der Bezeichnung "Ouvrierismus" oder "Operaismus" geführt hat.

Diese Linkssozialisten waren nach 1945 dadurch herausgefordert, dass die kapitalistischen Gesellschaften in eine neue Phase ihrer Klassen- und Machtkonstellationen eingetreten waren. Sozialdemokraten hatten nach 1930 in Skandinavien und von 1945 bis 1951 auch in Großbritannien moderne Wohlfahrtsstaaten aufgebaut, die die Teilhabe und die Rechte der Arbeitnehmer erheblich erweitert hatten. In Konkurrenz damit und mit dem kommunistischen Block mussten auch die konservativ regierten Länder Westeuropas eigene Varianten des Wohlfahrtsstaates entwickeln. In der Bundesrepublik schloss dies sogar einen hohen Grad institutionalisierter demokratischer Mitbestimmung in Unternehmen und Betrieben ein. Dies war auf zwei Weisen eine Art Fernwirkung der Machtkonflikte der Weimarer Republik.

Zum einen hatten die Arbeiterräte in der Novemberrevolution von 1918 nicht nur die parlamentarische Demokratie nach Deutschland gebracht, sondern auch das Fernziel einer Wirtschaftsdemokratie in der Arbeiterbewegung verankert. Viele Aktivisten, die mit großen Streikbewegungen das Betriebsverfassungsgesetz von 1949 und das Mitbestimmungsgesetz von 1951 mit erkämpften, standen noch in dieser Tradition. Diese hatte, wie die Räterevolutionen um 1918, eine internationale Dimension. Sie war eingebettet in die internationale Strömung des linken Reformismus, der Wirtschaftsdemokratie und eines undogmatischen Marxismus im Sinne von Rosa Luxemburg und Karl Korsch, die nach 1945 noch virulent blieb, besonders in den Arbeiterprotesten in der DDR, in Ungarn und in Polen, nach 1960 besonders auch in Westeuropa (s. Albers/Goldschmidt/Oehlke 1971) und nach 1970 auch in Chile, Portugal und Nicaragua.

Auf der anderen Seite stand die Macht der Großunternehmen, von denen mehr als zweihundert mit großen Spenden Hitler zur Macht verholfen hatten. Ihre Position war nach 1945 zunächst geschwächt. Nach großen Protest- und Streikbewegungen wurde ihnen, mit Ausnahme der chemischen Industrie, 1951 durch das Gesetz über die Mitbestimmung in der Kohle- und Stahlindustrie auferlegt, ihre Aufsichtsräte zur Hälfte mit Arbeitnehmervertretern zu teilen.

Diese Machtverschiebung ist, wie auch die Erhöhungen der Rechte, Einkommen und sozialen Sicherungen der abhängig Arbeitenden, nicht unter SPD-Regierungen, sondern unter konservativen Regierungsmehrheiten durchgesetzt worden. Die Bewegungen haben sie selbst erkämpft, allerdings unter neuen institutionellen Bedingungen, die dem bürgerlichen Lager abgerungen worden waren. Dieses Lager hatte nach den Erfahrungen von Weltwirtschaftskrise, Faschismus und Krieg schmerzliche Lernprozesse durchgemacht. Der Einfluss der Deutschnationalen sollte nun durch die "Union" mit der von den Nazis unabhängig gebliebenen sozialkatholischen Zentrumspartei begrenzt werden. Unter der Führung des früheren Zentrumspolitikers Konrad Adenauer, von 1949 bis 1963 auch Bundeskanzler, erstritt die CDU/CSU große Wahlsiege. Sie suchte einen neuen Konservatismus zu entwickeln, der - wenn auch auf paternalistische Weise - den Forderungen der Arbeitnehmer und des Mittelstands nach der Institutionalisierung der sozialen Absicherung und der Teilhabe entgegenkam. Der konservative Wohlfahrtsstaat sollte dafür sorgen, dass der nach 1945 erneut beschleunigte wirtschaftliche Strukturwandel nicht mehr zu Lasten dieser beiden Klassen ging, und damit schweren Konflikten und dem Abwandern zu der extremen Linken bzw. Rechten vorbeugen. Zusätzlich initiierte Adenauer eine Art konservative Internationale, die die Bundesrepublik über europäische und atlantische Institutionen auf dem Kurs friedlicher und demokratischer Konfliktregulierung halten sollte. Damit entstand ein Wirtschafts- und Sozialmodell, das wie ein Produktivitätspakt wirkte. Die innergesellschaftliche Teilhabe und die internationale Integration motivierten hohe Arbeitsleistungen und, gegründet auf ein enormes Wachstum von Inlandsnachfrage und Export, einen zwei Jahrzehnte anhaltenden Boom, den die Union sich als "Wirtschaftswunder" selbst zurechnete.

Damit waren in den 1950er Jahren die alten Klassenkonflikte in die Bahn einer institutionellen Regulierung und Teilhabe gelenkt worden. Theodor Geiger (1949) beschrieb, am Beispiel des skandinavischen Wohlfahrtsstaats, diese Konstellation als neue Entwicklungsphase des Kapitalismus, in der dessen Risiken durch die Gegenmächte der parlamentarischen Demokratie, der Gewerkschaften und Verbände und durch die Einbettung in eine wachstumsgünstige internationale Kooperation eingedämmt werden konnten. Das Hauptresultat dieser Veränderungen war die "Entproletarisierung", die Aufhebung der typisch unsicheren Lage der Arbeiterklasse durch die "Institutionalisierung des Klassenantagonismus" (ebd.: 182), ein Konzept, das Ralf Dahrendorf (1957) später als "institutionalisierten Klassenkonflikt" in die Soziologie eingeführt hat.

Die Arbeiterklasse wurde dadurch nicht an die kapitalistische "Konsumgesellschaft" angepasst, "verkleinbürgerlicht" oder "befriedet", wie dies Theoretiker der alten Linken, wie u.a. der Sozialphilosoph Herbert Marcuse, behaupteten. Vielmehr wurden in den 1950er Jahren die Institutionen des Arbeitskampfrechts insbesondere von der Industriegewerkschaft Metall dazu genutzt, in großen Streiks die 40-Stunden-Woche und den arbeitsfreien Sonnabend, die Teilhabe am Wachstum durch Lohnerhöhungen und die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall durchzusetzen. Diese Zugeständnisse schadeten der exportbegünstigten Industrie nicht. Obwohl die Bundesrepublik zwölf Millionen Flüchtlinge zu integrieren hatte, endete die Arbeitslosigkeit bereits 1956.

Die Beendigung der grundlegenden Unsicherheit, die die "Proletarität" ausgemacht hatte, führte, wie der Historiker Josef Mooser in seiner großen Untersuchung Arbeiterleben in Deutschland 1900-1970 umfassend belegt hat, zwar zu einer relativen Konsolidierung, nicht aber zu einer Anpassung an die kleinbürgerlich-hierarchische Weltsicht (Mooser 1984). Unsere eigenen repräsentativen Untersuchungen belegten, dass der besonders in der Facharbeiterschaft verankerte Anspruch auf Autonomie bis zu einem gewissen Grade auch zu einem zentralen Wert der konservativeren Arbeitnehmermilieus wurde; die Ungleichheit nach sozialen Klassen wurde nicht aufgelöst, aber pluralistischer (Vester u.a. 2015 [2001], insbes.: 123-149).

Dass es in den arbeitenden Klassen auch konservative und kleinbürgerliche Milieus gab, war schon im 19. Jahrhundert beobachtet worden, u.a. auch von Marx und Engels (1959 [1848]: 471-475) im Kommunistischen Manifest. Für die 1950er Jahre bestätigte dies die große Studie Das Gesellschaftsbild des Arbeiters, die Popitz, Bahrdt und andere in Duisburg-Rheinhausen durchgeführt hatten. Sie fanden drei prinzipiell verschiedene Grundhaltungen der Arbeiter zur sozialen Ordnung (Popitz u.a. 1957: 184-249). Konservative Arbeiter, etwa 14 Prozent, akzeptierten die Gesellschaft als Hierarchie, in die man sich sinnvoll einordnen konnte. Etwa 48 Prozent gingen von einer unüberwindlichen Zweiteilung ("Dichotomie") der Gesellschaft in mächtige Kapitalisten und machtlose Arbeiter aus. Nur etwa 4 Prozent hingen dem traditionellen Konzept an, dass diese Zweiteilung durch Klassenkampf überwunden werden musste. 34 Prozent aber verbanden eine harte politische und soziale Kritik am Kapitalismus mit der Auffassung, dass dieser mit den neuen Institutionen der Mitwirkung durch einen entschiedenen Kampf um Reformen verändert werden könnte. Dieses Konzept eines klassenbewussten linken Reformismus hatte durch die gesamtgesellschaftlichen Machtverschiebungen und den Wandel der Lebensweisen und Mentalitäten eine zunehmende Legitimation bekommen.

Der allmähliche Mentalitätswandel wurde besonders augenfällig durch die Umorientierung vieler katholischer Arbeiter im größten Bundesland, Nordrhein-Westfalen. Hier fand in den 1950er und 1960er Jahren ein "Hegemoniewechsel" von der CDU zur SPD statt. Von Wahl zu Wahl nahmen, sehr langsam, die SPD-Stimmen zu. Dieser "Genosse Trend" lässt sich vor allem mit der Demokratisierung der Machtverhältnisse und dem wachsenden Selbstbewusstsein der Arbeitnehmer erklären. Dies zeigen besonders die großen Ruhrgebietsstudien, die Lutz Niethammer ab 1983 vorlegte (Niethammer 1983a: 7-65, 133-162; 1983b: passim). An Rhein und Ruhr waren große Gruppen traditionell an paternalistischen Autoritäten wie der von Krupp orientiert gewesen. Nach 1945 machten viele die Erfahrung, aus eigener Kraft ihre Lage verbessern und unabhängiger von Autoritäten werden zu können. Es war ein ganzes Bündel von praktischen Erfahrungen:

  • der von den Arbeitern geleistete wirtschaftliche Wiederaufbau;
  • die Durchsetzung und Nutzung der Institutionen der Betriebsräte und der Mitbestimmung;
  • die selbstständigere Lebensgestaltung durch die Zunahme von Einkommen, Freizeit und sozialen Sicherungen;
  • die Besserstellung durch höhere Ausbildungs- und Schulbildungsstandards;
  • nicht zuletzt auch für viele Frauen das Einrücken in die Erwerbsarbeit, die sie im Einkommen und im Status von den Männern unabhängiger machte.

Seit den Erfahrungen des Wiederaufbaus galt das Vertrauen der Arbeitermilieus primär den Betriebsräten, die eine neue Basisinstitution darstellten, zunehmend auch in die Kommunalparlamente gewählt wurden und den Typus der "Kümmerer" verkörperten. Die Betriebsräte, die ursprünglich der Zentrumspartei näherstanden, machten die Erfahrung, dass die CDU-Spitzen zunehmend unternehmerfreundlich entschieden und wechselten daher nach und nach zur SPD, die für sie einen linken Reformismus verkörperte. Darin folgten ihnen auch ihre Wählerinnen und Wähler.


3. Die rebellische Jugendkultur: Wandel der Alltagskultur und 'Sponti'-Milieus

Die Nachkriegsgeneration der Arbeiterklasse hatte damit bereits schon ein ganzes Stück Emanzipation von äußeren und verinnerlichten autoritären Strukturen errungen. Gleichwohl kam es nicht zu einem glatten Übergang zu der Generation ihrer Kinder. Diese ging einen entscheidenden Schritt weiter und vollzog mit den antiautoritären Bewegungen einen neuen fundamentalen Generationenbruch nicht nur mit den konservativen Milieus, sondern auch mit denen ihrer eigenen Eltern, der Aufbaugeneration der BRD. Obwohl bei diesen, wie wir gesehen haben, das emanzipatorische Potential latent vorhanden war, hatten sie sich mit anscheinendem Einverständnis in der neuen Gesellschaft eingerichtet.

Der Bruch mit der Elterngeneration wurde nicht individuell, gleichsam "zu Hause", vollzogen, sondern in der aufblühenden Gruppen- und Freizeitkultur, in der sich die Jugendlichen der äußeren Disziplinierung entzogen. In vielen Ländern der Welt war gleichzeitig und ohne planmäßige Koordination ein breites Spektrum verschiedenartiger Jugendmilieus bald auch politisch in Bewegung gekommen. Dies beruhte nicht einfach auf der Verbreitung intellektueller Ideen, sondern auf parallelen gesellschaftlichen Situationen und Erfahrungen, die sich in neuen Musik-, Tanz- und Gesellungsmustern wiederfanden. Dieser Entwicklung lagen offensichtlich die Koinzidenz und das Zusammenspiel grundlegender Strukturveränderungen der Alltagskultur und der politischen Kultur, der Wirtschafts- und Klassenverhältnisse und des politischen Machtfeldes zugrunde.

Die neue Jugendkultur war zunächst ein vorpolitisches Phänomen der Freizeit- und Musikkulturen. Erst indem sie sich seit Mitte der 1960er Jahre mit den antiautoritären Aktivistenmilieus verband, wurde sie zur Basis breiter Bewegungen. Wie diese Verbindung entstand und wirksam wurde, ist vor allem von den Historikern Detlef Siegfried (2006) und Sven Reichardt (2014) umfassend aufgearbeitet worden. Sie untersuchten die subkulturellen Milieus, die aus den rebellischen Freizeit- und Musikkulturen seit den 1950er Jahren und aus der 'Sponti'-Kultur der Studierenden nach 1967 entstanden und zur Massenbasis der neuen linken Politik, die bei der Veränderung des Alltagslebens ansetzte, geworden waren.

Siegfried und Reichardt griffen damit die Sichtweise der sog. "Subkulturdebatte" der Protestjahre auf, in der politisch aktive Sozialwissenschaftler der undogmatischen Linken diese Politik diskutiert hatten. Die Debatte, die 1971 in dem einflussreichen Buch Die hedonistische Linke (hg. von Kerbs 1970/1971) zusammengefasst worden war, hatte einen Paradigmenwechsel begründet. Die undogmatischen Konzepte setzten auf Lernprozesse, die bei den praktischen Erfahrungen in den Konflikten des Alltags und der Politik ansetzten. Die Rolle der Intellektuellen sei nicht die von 'Führern', sondern die von Vermittlern, die die selbstständigen Lernprozesse der Menschen begleiten und anregen sollten. Nicht in Wirtschaftskrisen, Elend und Not, wie es die "alte Linke" erwartete, sondern in der Erfahrung wachsender materieller Möglichkeiten und in dem Wunsch nach mehr Selbstverwirklichung und Lebensgenuss - in 'hedonistischen' Bedürfnissen also - seien die neuen Motive sozialer Veränderung zu suchen.

Die Autoren des Buches verstanden die neuen Entwicklungen nicht rein "kulturalistisch", sondern im Zusammenhang mit den neueren Veränderungen des Kapitalismus und mit der politischen Perspektive einer solidarischen, nachkapitalistischen Gesellschaft. Es ging um die emanzipatorische Aneignung der mit dem Wachstum der ökonomischen Produktivkräfte erweiterten Möglichkeiten der Selbstbestimmung und Solidarität. Unter dem Titel "Solidarisierung als historischer Lernprozess" stellte ich in dem Buch die in der Neuen Linken vertretene Hypothese zur Diskussion,

"dass möglicherweise heute [...] eine zunehmende Konfrontation von kapitalistischer und antikapitalistischer Kultur" entsteht. So "finden sich heute in Gestalt der jüngeren Arbeitergenerationen Elemente nachkapitalistischer Wertmuster. Während heute die älteren Generationen die Verzichtgewohnheiten der Mangelgesellschaft noch tief verinnerlicht haben, werden den jüngeren der Reichtum der Gesellschaft und die Erfüllbarkeit ihrer Wünsche eher erkennbar. [...] Zugleich scheint ihr Verhalten in Autoritätskonflikten weniger von Angst geprägt zu sein. [...] Hier liegt die Chance einer Remobilisierung nichtkapitalistischer kultureller Wertvorstellungen [...]. Wer Waren verkaufen will, kann nicht Askese predigen." (Vester 1971: 151-154).

Dieses Argument knüpfte an die Theorie der linken Psychoanalyse Wilhelm Reichs an, die wir seit 1960 auf Initiative von Monika Seifert-Mitscherlich neu entdeckt hatten. Reich hatte um 1930 das Fehlen eines oppositionellen, antikapitalistischen Bewusstseins in der arbeitenden Klasse auf die Disziplinierung der Gefühle in der familialen Sozialisation unter den Bedingungen der kapitalistischen Mangelwirtschaft zurückgeführt. Diese restriktiven Bedingungen hatten sich aber, so argumentierten wir, im neuen Kapitalismus, wie ihn damals der linkskeynesianische Ökonom John Kenneth Galbraith (1959 [1958]) in seinem viel diskutierten Buch "Gesellschaft im Überfluss" analysierte, geändert. Bei allen Gruppen der jüngeren Generation hatte sich die Auffassung durchgesetzt, dass die Verhaltensregeln sozialer Disziplinierung nicht mehr zu einer Gesellschaft mit wachsenden objektiven Möglichkeiten passten. Dies bedeutete allerdings nicht, dass mit der neuen Jugendkultur die Klassenunterschiede verschwinden würden.

"Die kulturellen Hauptverschiedenheiten bestehen freilich nicht [...] zwischen Generationen, sondern zwischen den großen sozialen Klassen. Die historische Bedeutung der erwähnten Generationenunterschiede liegt darin, dass sie innerhalb jeder Klasse neue Entwicklung motivieren können."
(Ebd.: 149)

Dies war die später von breit angelegten Forschungen (Vester u.a. 2015 [2001]) bestätigte Annahme, dass mit dem Wandel der Werte die Klassen, anstatt zu verschwinden, sich in jüngeren Generationen mit höheren Autonomieansprüchen und Bildungsstandards ausdifferenzieren würden.

Für die 1950er und 1960er Jahre stellt Detlef Siegfried (2006) an umfassendem Material dar, wie der Wunsch der jüngeren Generationen nach Befreiung in rebellischen Musik- und Lebensstilen seinen Ausdruck fand, die zunehmend soziale Konflikte nach sich zogen. Die neuen Entwicklungen der Rockmusik, bis hin zu den Beatles, machten einen anti-autoritären und auch solidarischen Wandel der Alltagskultur zum Thema. Ihr Stil symbolisierte die Befreiung von den restriktiven kleinbürgerlichen Konventionen des Tanzens, indem sie die emotionale und ästhetische Freiheit der schwarzen Musikstile, der aktiven Haltungen der Frauen und des in der Arbeiterkultur wichtigen körperlichen Ausdrucks rehabilitierte. Damit wurden auch die Leitmotive der Protestbewegungen vorweggenommen, die nach der Mitte der 1960er Jahre für die Gleichberechtigung der drei großen benachteiligten Gruppen, der Frauen, der ethnischen Minderheiten und der arbeitenden Klassen, eintraten. Aber damals trafen die neuen Musik- und Freizeitstile in der Herkunftskultur wie in der herrschenden Kultur auf eine schroffe Ablehnung. Die neuen Entwicklungen wurden nicht - wie seit den 1980er Jahren - vom gesellschaftlichen Mainstream akzeptiert, sondern zum Anlass mannigfacher Konflikte im Alltagsleben (etwa um den Haarschnitt, die Kleidung oder die Geschlechtermischung) wie in ihrer öffentlichen Darstellung (in Versammlungen, Konzerten oder 'Krawallen').

Sven Reichardt (2014) zeigt insbesondere, wie diese jugendliche Freizeitkultur seit etwa 1967 in eine dauerhaftere Struktur, die sog. 'Sponti'-Milieus verwandelt wurde. Ermöglicht wurde dies durch ein neues, schnell wachsendes Phänomen, die Institution der Wohngemeinschaften, in denen hauptsächlich Studierende zusammenlebten. Dies war weitgehend eine praktische Notwendigkeit, da im Zuge der Bildungsexpansion auch die Zahl der Studierenden beschleunigt anstieg, von 241.000 im Jahre 1961 auf 393.000 im Jahre 1970. 1973 schätzten Statistiker die Wohngemeinschaften bereits auf 68.600 Personen (Müschen 1988: 49). Die steigenden Bildungschancen der Frauen und der Arbeiterkinder spiegelten sich auch in einer zunehmenden Mischung nach Geschlecht und Klassenherkunft in den Wohngemeinschaften. Ihre Mitglieder konzentrierten sich in den Kultur- und Sozialwissenschaften und bei Studierenden der Lehr-, Sozialarbeits, Architektur-, Musik- und Kunstberufe, aber auch bei Angehörigen der medizinischen, theologischen und juristischen Professionen und nicht zuletzt bei Aktivistinnen und Aktivisten der Erwachsenenbildung und der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit. Diese breite berufliche Streuung erklärt, wie weit die Bewegungen in den 1970er Jahren auch in Berufsgruppen hineinwirkten, die Hochburgen des konservativen Bildungsbürgertums waren.

Wie die jugendliche Freizeitkultur provozierten auch die Wohngemeinschaften, als Zone unkontrollierten sozialen, politischen und auch sexuellen Studierendenlebens, die Ressentiments der Öffentlichkeit und der älteren Generationen. Dieser Konflikt trieb seinerseits die Entwicklung neuer sozialer, moralischer und politischer Orientierungen an. Die Konfrontation trug nicht unerheblich dazu bei, dass die 'Sponti'-Kultur sich mit der neuen anti-autoritären politischen Kultur der linken Aktivisten verbinden konnte, zumal deren Ziel ja war, die Menschen über ihre Alltagserfahrung für Politik zu interessieren. Als die anti-autoritäre Strömung um den SDS sich nach 1965 in eine breite Bewegung mit Kampagnen und zahllosen örtlichen Gruppen verwandelte, verstärkten die 'Sponti'-Milieus ihre Suche nach neuen, repressionsfreien Gemeinschaftsformen, während sie sich gleichzeitig den Protesten gegen die Atomwaffen in Ost und West, gegen den Rassismus, gegen die Hinterlassenschaften des Faschismus und besonders gegen den Krieg in Vietnam anschlossen.

Die neuen Milieus der Studierenden wurden als 'Sponti'-Milieus bezeichnet, weil sie sich mit ihrem emanzipatorischen und spontanen Lebensstil von der herrschenden Kultur und auch der Kultur der autoritären Alten Linken unterschieden, insbesondere von den sozialdemokratischen und kommunistischen Parteien und ebenso von den hochdisziplinierten neuen 'marxistisch-leninistischen' Gruppen und Untergrundgruppen, die nach 1968 entstanden.

Bis 1970 wurden die Gemeinschaften der 'Spontis' das Saatbeet einer breiten 'Szene' von Milieus, Projekten, Infrastrukturen und Protesten, die sich als 'alternativ' bzw. 'linksalternativ' verstanden. Ihre Aktivität und Vielfalt wird besonders in den umfassenden soziologischen Studien von Dieter Rucht und Roland Roth beschrieben (Roth/Rucht 2008, Rucht 2010). Diese institutionellen Netzwerke bildeten die Ebene, die zwischen dem privaten und dem öffentlichen Leben vermittelte und damit die Präsenz der Bewegungen im politischen Feld ermöglichte.


4. Die linksliberalen Klassenfraktionen: Restrukturierung des politischen Feldes und neue progressive Allianzen

Wie war die Entstehung einer neuen linken Aktivistenszene, einer linksreformistischen Arbeitnehmerklasse und der antiautoritären Jugendmilieus in gesamtgesellschaftliche Machtverschiebungen umzusetzen? Um 1960 fehlten hierfür noch wichtige Voraussetzungen. Die langsamen Stimmengewinne der SPD bei den Arbeitnehmern reichten für Regierungsmehrheiten nicht aus. Dafür hätte die SPD eine neue Generation von Jungwählern und einen bürgerlichen Koalitionspartner gebraucht. Doch im politischen Machtfeld war die Hegemonie der CDU/CSU noch unangefochten. Um aus der Isolierung herauszukommen, hatten sich Willy Brandt, Helmut Schmidt und Herbert Wehner zusammengefunden. Ihre Strategie zielte darauf, durch das Godesberger Programm von 1959 im Feld der Politik und der Medien das Odium des Bürgerschrecks loszuwerden. Um dies zu erreichen, trennte sich die SPD 1960 von den Aktivisten des SDS, die als Blitzableiter für antikommunistische Aggressionen freigegeben wurden. Diese Feindpolitik war noch ein Mechanismus der Konfrontationen des Kalten Krieges.

Tatsächlich aber kam das Bündnis mit dem progressiven Bürgertum und die Mobilisierung der jungen Protestbewegungen für die SPD durch ganz andere Mechanismen des politischen Machtfeldes zustande. Deren Ausdruck waren außenpolitisch Ansätze einer Entspannung des Ost-West-Gegensatzes und innenpolitisch schwere Autoritätskrisen der CDU. Diese eskalierten, als die Regierung Adenauer 1962 die Redaktion des liberalen Nachrichtenmagazins Der Spiegel unter dem Vorwand des Landesverrats besetzen ließ. Diese Überreaktion gegenüber liberaler Kritik provozierte so heftige Gegenreaktionen der liberalen öffentlichen Meinung, dass sich Adenauer 1963 zum Rücktritt gezwungen sah. Mit ihm fiel das Symbol des autoritär verhärteten Konservatismus. 1966 wurde die Autorität der CDU/CSU zusätzlich untergraben, als die unerwartete erste Wirtschaftskrise, die spontane Streiks in der Montanindustrie auslöste, den Glauben an eine anhaltende Prosperität erschütterte. Der linksliberale Mainstream und das linke Spektrum, von Teilen der SPD und der Gewerkschaften bis zu den Protestbewegungen, begannen, sich in der Opposition gegen die autoritär-konservative Linie der CDU/CSU zusammenzufinden. Aus dieser Verschiebung der Mehrheiten ist im Dezember 1966 die sozial-liberale Regierungskoalition in Nordrhein-Westfalen hervorgegangen. Diese wurde schließlich zum Modell für die 1969 begründete SPD-FDP-Koalition auf Bundesebene, die unter Willy Brandt mit einem linken Reformismus ernst zu machen suchte.

Dazu trug aber auch eine paradoxe andere Entwicklung bei. Ebenfalls im Dezember 1966 musste die CDU/CSU auf Bundesebene eine große Koalition mit der SPD bilden, die mit dem keynesianischen Ökonomen Karl Schiller eine antizyklische Wirtschaftspolitik einleitete. Da die SPD nun als parlamentarische Opposition ausfiel, erklärten sich die Protestbewegungen und ihre Aktivisten, die an vielen Orten ihre Kräfte in "Republikanischen Clubs" sammelten, zur "außerparlamentarischen Opposition", zur "APO". Das Muster der Mobilisierung gegen Überreaktionen wiederholte sich nun. Als 1967 in Berlin der Student Benno Ohnesorg bei einer Demonstration gegen den Schah von Persien von einer Polizeikugel getötet wurde, löste dies wachsende Studierenden- und Jugendproteste gegen autoritäre Regierungsmaßnahmen und nicht zuletzt gegen den Vietnam-Krieg aus. Das Gleiche wiederholte sich, als Ostern 1968 der Berliner 'Studentenführer' Rudi Dutschke von einem Attentäter niedergeschossen wurde.

Die Oppositionsbewegungen wurden in der APO-Zeit auch von den neu angewachsenen linken Flügeln der SPD und der Gewerkschaften verstärkt. Durch den neuen linken Flügel erhielt die SPD eine zusätzliche Integrations- und Mobilisierungskraft, die sie erst nach ihrer neoliberalen Wende von 2003 wieder verlor. Ein großer Teil der neuen Bewegungen war in der Jugendsektion der SPD, den Jungsozialisten oder Jusos, organisiert, von denen viele eine antiautoritäre und basisdemokratische Politik verfolgten und begannen, immer mehr Regionalverbände der SPD zu erobern. In Frankfurt hatte dies schon 1961 begonnen, als die Jusos dort Hans Matthöfer, der die Bildungsabteilung der IG-Metall leitete und sich für eine am Arbeitsplatz beginnende Wirtschaftsdemokratie einsetzte, in den Bundestag gebracht hatten. Von 1964 bis 1974 gewann die SPD 700.000 Neumitglieder, von denen 75 Prozent unter 40 und 20 Prozent unter 21 Jahre alt waren (Reichardt 2014: 13).

Willy Brandts Bundestags-Wahlkämpfe waren auf die Integration der verschiedenen Milieus gerichtet. Sie thematisierten nicht nur die Notwendigkeit der Entspannungspolitik und der Weiterentwicklung des westdeutschen Sozialmodells in Richtung des skandinavischen Wohlfahrtsstaats, sondern auch die "postmaterialistischen" Ziele von mehr Mitbestimmung von unten und einer Verbesserung der "Qualität des Lebens." Nach seinem mit 43 Prozent einzigartigen zweiten Wahlsieg sprach er 1972 vom Modell der "Arbeitnehmergesellschaft", die an die Stelle der Macht des großen Geldes trete.

Insgesamt brachten die frühen 1970er Jahre die Übersetzung vieler Bewegungsziele in institutionelle Veränderungen. Die rechtliche Diskriminierung der Frauen sowie die Kriminalisierung der Homosexualität und der Abtreibung wurden beendet. Erhöht wurden auch die Sicherungen bei Krankheit, Arbeitslosigkeit und Alter und die Rechte der Arbeitnehmer am Arbeitsplatz. Die Mobilisierung der Bildungsschichten verband sich mit einer toleranteren, kulturell vielfältigeren Politik, die mehr Teilhabe für Frauen, Zugewanderte und Minderheiten sowie mehr Mitwirkung aller Bürger versprach - eine "Bürgergesellschaft" oder "Zivilgesellschaft". Die demokratischen Mitwirkungsrechte der Schülerinnen und Schüler, Lehrlinge und Hochschulangehörigen wurden ausgebaut, verbunden mit einer erweiterten Öffnung der weiterführenden Schulen und Hochschulen. Doch diese und andere partizipatorische Reformen wurden rückgängig gemacht, als Brandts Amtsnachfolger Helmut Schmidt und der inzwischen nicht mehr so progressive liberale Koalitionspartner die Errungenschaften von "1968" auszubremsen begannen.

Trotzdem sind die Ansprüche auf mehr Selbst- und Mitbestimmung in den Milieus und der politischen Bürgergesellschaft auf der vorpolitischen Ebene unaufhaltsam über Jahrzehnte weiter gewachsen. Die erstarrten Volksparteien werden durch eine neue junge Generation mehr infrage gestellt als je zuvor.


Dr. phil. Michael Vester,
geb. 1939 in Berlin, ist Professor i. R. an der Leibniz Universität Hannover und forscht zur politischen Soziologie sozialer Strukturen, Mentalitäten, Milieus und Bewegungen. Er ist Mitherausgeber der spw. Neufassung von Teilen von: M. Vester, "1968" im historischen Kontext: Basisdemokratische Bewegungen und linker Reformismus im Wandel der BRD 1949-1989, in: Michael Thomas/Ulrich Busch, Transformation im 21. Jahrhundert. Berlin: 2015, II. Halbband, S. 339-379).


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https://www.rosalux.de/publikation/id/40329/klassen-fraktionen-milieus/]

• Vester, Michael/von Oertzen, Peter/Geiling, Heiko/Hermann, Thomas/Mueller, Dagmar (2015 [2001]: Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel, Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 3/2019, Heft 232, Seite 20-30
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Juli 2019

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